erscheinenden Dinge bedürfen des Kreuzes“4 schreibt diesbezüglich Maximos der Bekenner. Deshalb ist christliche Bejahung des Leiblichen und der Geschichte immer Bejahung des Kreuzes, Hingabe, Selbstopfer. Eine Abkoppelung von Leiblichkeit und Kreuz macht die Möglichkeit jeder Art von gelebter Auferstehungsspiritualität zunichte. Wo die Erfahrung des Kreuzes fehlt, bleibt jede Auferstehung eine Art geistiges „Naturphänomen“, etwas rein Äußerliches.
Nicht eine fremde, vom Himmel gefallene Schönheit wird den Jüngern nach der Auferstehung in der Gestalt des Auferstandenen zuteil, sondern eine neu entdeckte (weil durch das Kreuz angenommene und erlöste) Schönheit der Schöpfung. Diese Auferstehungsschönheit, die den ganzen liturgischen Ethos der Orthodoxen Kirche prägt, hat eher die Funktion einer Einladung, und nicht die einer paradiesischen Belohnung. Gerade weil der Auferstandene in seinen Erscheinungen den Aposteln die neue Dimension der leiblichen Existenz zeigt, können Sie nach Pfingsten den Auferstandenen predigen. Das urtypische Ikonenbild Jesu Christi ist das Bild des Auferstandenen, der die Jünger segnet. Ebenso erhebt jeder liturgische Akt den Anspruch, der sichtbare Hinweis auf die Realität dieser schönen Welt des Auferstandenen („Himmelreich“) zu sein. Kurz: Die Erfahrung der Auferstehung impliziert die Erfahrung einer neuen, vom Unsichtbaren durchfluteten, schönen Leiblichkeit, die für das liturgische Leben als Raum des Gebetes fungiert.5
Askese
Den zweiten Aspekt – die starke Asketik – möchte ich bewusst nach dem ersten ansprechen. Denn die Askese (wie etwa in der Form der strengen Fastenpraxis oder der verschiedenen Bußübungen) begegnet uns selbst in den einfachsten Frömmigkeitsformen nicht als Selbstzweck, sondern als Begleiterscheinung der liturgischen Begegnung mit dem Auferstandenen. Erst die existentielle Begegnung mit Ihm, d.h. die Bewusstwerdung Seiner Liebe und das liturgische Schauen Seiner herrlichen Schönheit, verinnerlicht die Notwendigkeit der Umkehr, der Metanoia. Das innere (und im Mönchtum auch äußere) Wachehalten bietet dafür einen Schlüssel: die Jungfrauen kennen den Bräutigam (vgl. Mt 25,1–13), sonst würden sie nicht auf ihn warten. Ihr Warten hat einen feierlichen, gemeinschaftlichen Grund. Die Buße und die dazugehörende Asketik werden deshalb in der gelebten Frömmigkeit der orthodoxen Christ(inn)en in erster Linie als kathartischer Teil der liturgischen Vorfreude auf Christus und seine Heiligen erlebt. Sie werden dadurch jedoch nicht relativiert, sondern im Gegenteil: Weinen und sich Freuen bleiben, selbst im Leben der Heiligen, eine Konstante: „Der Weg der Heiligen ist der Weg des Weinens der Liebe. Wo Liebe ist, da ist Weinen. Und wo keine Liebe ist – da ist auch kein Weinen“6, schreibt der russischstämmige Archimandrit Sophronios Saharov (gest. 1993) vom Kloster Essex (GB).
Das spiegelt sich in der eucharistischen Spiritualität sehr stark wieder: Nach wie vor wird in den meisten orthodoxen Kirchen vor der Kommunion die Beichte praktiziert und die dazugehörenden Gebete zur Vorbereitung auf die Kommunion sprechen eine deutliche Bußsprache. Die Kommunion ist nichts Selbstverständliches, ist immer ein Mysterium, immer eine Begegnung mit dem Auferstandenen. Der Glaube an die reale, eucharistische Präsenz des „allheiligen Leibes und kostbaren Blutes“ Jesu Christi ruft deshalb die tiefste Gewissheit der Vergebung hervor. Dieses – für moderne Ohren übertrieben formulierte – Bewusstsein der eigenen Schwäche ist jedoch nicht fixiert auf die Sündhaftigkeit, sondern trägt schon in sich das Wissen um die vergebungsspendende Gnade der Auferstehung (hier des Kommunionempfangs). Nicht die eigene Schwäche („das Fleisch ist nichts nütze“, Joh 6,63) ist tonangebend, sondern die Gewissheit, dass die Begegnung mit dem Herrn „lebendig macht“.
Der orthodoxe Zugang zur Asketik hat somit – so habe ich es bereits in meiner Kindheit als Sohn eines orthodoxen Priesters erfahren – etwas Schönes, sogar Feierliches an sich. Die tiefste Umkehr ist (weil im Zeichen der Auferstehung) immer mit Hoffnung verbunden. Der heilige Silouan von Athos sagt: „Halte dich mit Bewusstsein in der Hölle und verzweifle nicht.“ Sein Schüler, Archimandrit Sophronius, deutet diesen Zusammenhang so: „Die Hölle ist ein geistiger Zustand der Geschöpfe, die sich von der Liebe Gottes abgewandt haben. Wie aber kann dieses Licht, diese unermessliche Liebe, bis auf den Grund der Finsternis des Hasses herabsteigen? (…) Da der Herr versucht worden ist, müssen auch wir unvermeidlich durch das Feuer der Versuchungen hindurch (…) Und da der Herr verklärt worden ist, werden auch wir, bereits hier auf Erden, verklärt, wenn unser ‚heimliches Seufzen‘ dem seinen entspricht.“7
Leben in Christus – heute
Die häufig gestellte Frage nach der Aktualität christlicher Spiritualität wirkt – nach diesen Ausführungen – ambivalent. Angesichts der starken kulturellen, technischen und mentalen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist sie berechtigt. Unterschwellig schwingt auch die Frage mit, welche Formen christliche Spiritualität annehmen sollte, damit sie den Menschen von heute anspricht. Doch beide greifen zu kurz, solange es bei einer bloßen Rede „über“ Geist und Leben bleibt.
Die Worte Jesu in Joh 6 erlauben keine „Vogelperspektive“. Sie fordern heraus, heute wie damals: „Das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?“ (Joh 6,60) Es gibt nur das Sich-Ansprechen-Lassen, das Aufnehmen der „Worte, die Er zu mir gesprochen hat“ als „Geist und Leben“. Die christliche „Spiritualität“ wird deshalb immer neu sein, weil es darin um ein ständig neues, tief personales, einmaliges Leben Christi mit jedem/jeder von uns geht. Die spirituelle Glaubenstradition ist zwar der ekklesiale Strom, in dem meine Erfahrung entsteht und gedeiht. Doch keine noch so schöne und heilige spirituelle Tradition wird mich der Verantwortung entziehen, selbst in das „Leben und (den) Geist“ Christi einzusteigen, d.h. selbst heilig zu werden. Das ist wahrscheinlich die schwierigste Herausforderung unserer Zeit: die auch in dem spirituellen Segment sich überbordende Informationsflut durch Unterscheidungskraft zu überwinden und – am besten durch einen geistlichen Begleiter – in das echte „Leben“ und in den wahren „Geist“ einzusteigen. Die gesamte orthodoxe Ikonographie vermittelt übrigens dies: selbst einzusteigen ins Mysterium der Heiligkeit, in diesen endlosen, fröhlichen Reigentanz der Heiligen.
Die Aktualität der christlichen Spiritualität ist, erstens, für jede(n) von uns, biographisch angelegt: Ich kann nur glauben, dass Gott mich in diese Geschichtsepoche „hineingeworfen“ hat, weil diese Epoche für mich alles an Kreuz- und Auferstehungserfahrungspotenzial beinhaltet, um in ihm „Geist und Leben“ zu entfalten. Zweitens ist diese Aktualität seit der Auferstehung Jesu Christi eine für die ganze Menschheit andauernde. Der „achte Tag“ ist kein Zukunftsversprechen, er ist angebrochen, als der Sohn Gottes den Tod besiegt hat. Die Zeit zwischen Auferstehung und der zweiten Parusie Jesu Christi (die „Zeit der Kirche“) steht unter dem Zeichen des Wartens auf den Bräutigam und dies im Beistand des Heiligen Geistes, der uns bei diesem ekklesialen Wachehalten begleitet. Was zählt, sind also nicht die Formen, sondern die Wachsamkeit im Geiste.
1Vgl. dazu auch C. Stamoulis, Die Schönheit der Heiligkeit. Prolegomena zu einer philokalischen Ästhetik der Orthodoxie. Athen 2005.
2Vgl. Irenäus von Lyon, Adversus haereses, Buch V, Kap. 6.1 (FC 8/5), 57–59.
3Vgl. ebd., Buch V, Kap. 2,3 (FC 8/5), 37.
4Maximos der Bekenner, Gnostische Centurien, PG 90, 1108B, in: H. U. von Balthasar, Kosmische Liturgie. Einsiedeln 21961, 629.
5Problematisch wird es, wenn diese liturgisch, ikonographisch und architektonisch sich entfaltende Sehnsucht nach der Schönheit ihrem soteriologischen Ursprung nicht gerecht wird und Kitschformen annimmt. Über das Kitsch-Problem in der kirchlichen Ikonenkunst der letzten zwei Jahrzehnte vgl. Ioan Bizău, Incursiuni în teologia şi arta icoanei [Rumänisch], in: L. Uspensky u.a., Ce este icoana? Alba Iulia 2005, 171–182.