Jörg Seiler

Aussöhnung im Konflikt


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eine Reflexion zum Versöhnungsbegriff bei, der verschiedene Anknüpfungspunkte zu weiteren Aufsätzen des Bandes bietet.

      Die ersten beiden Doppelbeiträge widmen sich der gegenseitigen Wahrnehmung von Deutschland und Polen in der Zeit von 1945 bis 1965. Dabei stellen Helmut Sobeczko und Sebastian Holzbrecher nicht nur historische Etappen auf dem Weg zum Briefwechsel vor, sondern gehen auch auf Versöhnungsinitiativen vor 1965 ein.

      Im zweiten Themenblock wird die – noch immer als „heißes Eisen“ zu bezeichnende – „Causa Hlond“ aus polnischer und deutscher Perspektive vorgestellt und anhand des jeweils aktuellen Forschungsstandes in Deutschland und Polen diskutiert. Konrad Glombik zeichnet dabei die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Darstellungen über den polnischen Primas August Kardinal Hlond (1881-1948) in der polnischen Historiographie nach, während Rainer Bendel die deutschsprachige Forschungsliteratur, noch immer mit dem Schwerpunkt auf den Forschungen von Scholz, präsentiert. Eine synthetisierende Untersuchung unter Heranziehung sowohl der polnischen als auch der deutschen Forschungsliteratur – dies zeigen die weiterhin stark differierenden Interpretationen – wäre nunmehr wünschenswert.

      Auf konkrete Wegbereiter der Versöhnung dies- und jenseits der lange Zeit höchst umstrittenen Oder-Neiße-Grenze geht der dritte Doppelblock ein. Auf deutscher Seite werden der Meißner Bischof Gerhard Schaffran (1912-1996) und der Leiter der Magdeburger „Arbeitsstelle für pastorale Hilfsmittel“, Günter Särchen (1927-2004), als Pioniere der Versöhnung vorgestellt, wobei Theresia Niesing dabei auf den Tagungsvortrag von Prof. Dr. Josef Pilvousek zurückgreifen konnte. Auf polnischer Seite werden zwei Schlesier von Erwin Mateja exemplarisch portraitiert, die ebenfalls zur Avantgarde der Versöhnung zu zählen sind: der Breslauer Kardinal Bolesław Kominek (1903-1974) und der Oppelner Erzbischof Alfons Nossol (*1932). Diese biografischen Zugänge eröffnen einen Blick auf die netzwerkartigen Strukturen zwischen polnischen und deutschen Katholiken, die bereits vor dem Briefwechsel existierten und die seine Entstehung und die Umsetzung seines Anspruchs in späteren Jahren mit beeinflusst haben.

      Die äußerst schwierige und höchst konfliktreiche Rezeptionsgeschichte der beiden Versöhnungsbriefe wird im vierten Themenblock wiederum aus polnischer und deutscher Perspektive analysiert und dargestellt. Piotr Górecki zeichnet den aggressiven Umgang der polnischen Regierung und v.a. die mediale Hetzjagd gegen die Verfasser und Ideen des Versöhnungsbriefs in Polen nach und skizziert dabei die verschiedenen Dilemmata, vor denen die polnischen Bischöfe nach der Veröffentlichung der Briefe standen. Theo Mechtenberg skizziert komplementär dazu die Rezeptionsgeschichte der Briefe aus deutscher Sicht, wobei er einen Schwerpunkt auf den Umgang mit den Versöhnungsbotschaften in der DDR legt.

      Die Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyła zum Papst Johannes Paul II. 1978 stellt zweifellos eine wichtige, wenn auch nicht unumstrittene Wegmarke für das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen dar. Deshalb nimmt der abschließende Themenblock nochmals die gegenseitige Wahrnehmung und das Gegen- und Miteinander von Deutschen und Polen in der ersten Hälfte des Pontifikats von Johannes Paul II. in den Blick. Tadeusz Dola beschreibt dabei die polnische Perspektive auf die katholische Kirche in Deutschland, wie sie sich in der polnischen Publizistik niederschlug. Den Schwierigkeiten, Problemen und den „atmosphärischen Störungen“ im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess bis 1990 geht Jörg Seiler nach, wobei auch er die medialen Diskussionen (v.a. in der Herder-Korrespondenz) und die (Nicht-)Bezugnahme auf den Briefwechsel anlässlich der Reisen von Johannes Paul II. in die Bundesrepublik thematisiert.

      Die zahlreichen Tagungen zum 50. Jubiläum des polnisch-deutschen Briefwechsels im Jahr 2015 werden den historischen Forschungsstand in vielerlei Hinsicht ergänzen. Der vorliegende Band möchte seinen Teil dazu beisteuern und vor allem den aktuellen polnischen Forschungsstand für deutschsprachige Leserinnen und Leser zugänglich machen. Es wird weiteren Arbeiten vorbehalten sein, die sich hieraus ergebende Synthese im Rahmen einer bi- bzw. trilateralen Beziehungsgeschichte der katholischen Kirche in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erforschen.

      Unser Dank gilt den Herausgebern der Reihe Erfurter Theologische Schriften, Prof. Dr. Josef Pilvousek – der zugleich die Tagung mit vorbereitet hat – und Prof. Dr. Josef Römelt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die polnisch-deutsche Tagung finanziell gefördert, wofür wir gerne Dank abstatten. Den Mühen der redaktionellen Arbeit unterzogen sich Herr Benjamin Litwin (Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit der Universität Erfurt) und in besonderer Weise Herr Dr. Martin Fischer (Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte Erfurt). Auch ihnen danken wir herzlich. Herr Dr. Fischer zeichnet zudem für das Register verantwortlich, das helfen möge, die Bezüge der Beiträge zueinander noch transparenter zu machen.

      Erfurt, am 7. Februar 2017

      Jörg Seiler / Sebastian Holzbrecher

      1 Auf Wunsch von Urszula Pękala wurde ihr Tagungsbeitrag „Europa und die deutsche und polnische Kirche im 21. Jahrhundert“ nicht in den Tagungsband aufgenommen. Eingang fand dafür der Beitrag von Joachim Piecuch „Vergeltung – eine weltliche oder religiöse Handlung?“

      POLEN UND DEUTSCHLAND 1945-1990 AKTIVE VERSTÄNDIGUNG, GELUNGENE VERSÖHNUNG, GEFÄHRDETE NORMALISIERUNG

       Karl-Joseph Hummel

       1. Die verspätete Avantgarde

      Die von deutschen Katholiken nach 1945 übernommene Rolle einer „Avantgarde der Versöhnung“1 im Europa des Kalten Krieges begann nicht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nach einer „Phase des kollektiven Beschweigens“2 Die deutschen Katholiken verbanden mit ihren „außenpolitischen“ Aktivitäten – zeitlich versetzt – drei Hauptziele: den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen mit dem „katholischen“ Frankreich3 im Westen, die Verbesserung des jüdisch-christlichen Dialogs und die Versöhnung mit dem östlichen Nachbarn, dem katholischen Polen.4

      Auf der politischen Ebene forderte Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949: „Der deutsch-französische Gegensatz […] muss endgültig aus der Welt geschafft werden.“5 Das bilaterale Verhältnis zu Polen stand bei dem Gründungskanzler der Bundesrepublik Deutschland 1949 noch nicht auf der Prioritätenliste. Adenauer sprach davon nur in den Konfliktpunkten „Oder-Neiße-Linie“ und „Vertreibung“, die „in vollem Gegensatz zu den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens“ vorgenommen worden sei.6

      Die Wiederanknüpfung von Beziehungen zwischen den polnischen und deutschen Katholiken verzögerte sich aus ganz unterschiedlichen Gründen, war immer wieder von Rückschlägen betroffen und verbesserte sich in Abhängigkeit von den allgemeinpolitischen Konjunkturen des Kalten Krieges lange Jahre weder stetig noch nachhaltig. Erfahrene Beobachter warben dennoch um Geduld. Mit der naiven Vorstellung, sich gleich versöhnen zu können, zeige man nur, dass man keine Vorstellung davon habe, was zwischen Polen und Deutschen alles zu bewältigen sei. Innerkatholisch dauerte es immerhin 20 Jahre bis zu dem berühmten Briefwechsel der Bischöfe von 1965, an den wir mit dieser Tagung erinnern.7 Als Julius Kardinal Döpfner 1970 auf der Würzburger Jahresversammlung von Pax Christi feststellte: „An die erste Stelle gehört zweifellos, und zwar auf viele Jahre hinaus, die Verständigung und Versöhnung mit Polen“8, war dies alles andere als eine Erfolgsmeldung nach 25 Jahren intensiver Anstrengung, sondern eher das Eingeständnis, dass hier offensichtlich noch ein großer Nachholbedarf bestand.

      Die erste Reise nach Polen als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz unternahm Julius Kardinal Döpfner 1973. 1978 besuchte erstmals eine polnische Bischofsdelegation die Bundesrepublik Deutschland. Der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Warschau – Willy Brandts Kniefall gehört zu den Ikonen symbolischer Politikinszenierung – fand 25 Jahre nach Kriegsende 1970 statt. Der Warschauer Vertrag von 1972 sollte erst einmal die „Grundlagen der Normalisierung“ legen. Von dort zur „Normalisierung“, dann zur „Verständigung“ und schließlich zur „Versöhnung“ war ein weiter Weg. 1972 wurden die ersten Botschafter ausgetauscht. Das Deutsch-Polnische Jugendwerk nahm seine