Jörg Seiler

Aussöhnung im Konflikt


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      Bundeskanzler Willy Brandt war sich bei seinem Besuch in Warschau wohl bewusst: „Das Gespräch der Kirchen und ihrer Gemeinden war dem Dialog der Politiker voraus.“9 Die Geschichte der polnisch-deutschen Versöhnung nach 1945 ist in der Tat auf beiden Seiten zunächst die Geschichte privater Einzelinitiativen und nicht vorrangig die Geschichte politisch-diplomatischer Beziehungen oder offizieller institutioneller Kontakte. „Jene katholischen und evangelischen Christen, denen die deutsch-polnische Aussöhnung mehr bedeutete als polit-ökonomische Kontakte, waren und sind auch heute eine Minderheit. Aber sie haben – in diesem Fall – Geschichte gemacht.“10

      „Beiden Kirchen kommt das Verdienst zu, in der Breite der Gesellschaft in Deutschland wie in Polen eine Diskussion ausgelöst zu haben, die letztlich die Voraussetzung dafür schuf, die starren Fronten politischen Denkens aufzubrechen und neue Wege zu gehen. Wir haben es hier mit dem seltenen, vielleicht in der Bundesrepublik in dieser Form einmaligen Fall zu tun, dass von den Kirchen ohne direkte politische Einmischung, doch in Wahrnehmung ihres Auftrags, zu den Lebensfragen unseres Volkes Stellung zu nehmen, Impulse von zukunftsträchtiger Wirksamkeit ausgingen.“11

      Basil Kerski hat darauf aufmerksam gemacht, dass die polnisch-bundesrepublikanischen Beziehungen dadurch bereits lange vor 1990 Elemente der Vergesellschaftung aufwiesen, die sonst nur in den bilateralen Beziehungen zwischen Demokratien aufgeführt werden:

      „Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems kam in Polen eine politische Elite an die Macht, die in den vorhergehenden Jahrzehnten an der Herausarbeitung einer kollektiven Identität auf der Basis von Wertekomplementarität zwischen Deutschen und Polen wesentlichen Anteil hatte.“12

      Tadeusz Mazowiecki, viele Jahre einer der im Dialog mit den Deutschen engagiertesten polnischen Laien, bedankte sich 2001 für den ihm verliehenen Deutschen Nationalpreis mit den Worten: „Ich könnte jetzt die politischen Umstände der deutsch-polnischen Beziehungen aufzählen, doch die Menschen waren viel wichtiger […] ‚Menschen der Versöhnung’“13. Für Mazowiecki hatte das deutsch-polnische Verhältnis drei Dimensionen, die politische, die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Dimension, „die des Ausbaues von Kontakten zwischen Menschen, Kulturen und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens bedarf. Ich glaube, dass diese dritte Dimension die Aufgaben bestimmt, die vor jenen christlichen Kreisen stehen, welche für die Verwirklichung der Versöhnung zwischen unseren Völkern gewirkt haben und weiterhin wirken.“14

      Einer der Pioniere der polnisch-deutschen Versöhnung, Władysław Bartoszewski, hat in seinen Erinnerungen ebenfalls besonderen Wert auf die vielen Einzelkontakte von Christen gelegt, die seit den 1960er Jahren die „schwierige Aussöhnung“ voranzubringen suchten.15 Auf deutscher Seite stimmt Bernhard Vogels Fazit mit dieser Einschätzung nahtlos überein. Auf die Frage: Wie konnte es je wieder zu einer guten Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen kommen? – antwortete Vogel:

      „Nur weil es Menschen gab, die wider alle Hoffnung hofften und Anfänge wagten, blieb es nicht bei Verzweiflung und Resignation. Menschen in Polen und Menschen in Deutschland, die Versöhnung wollten – zwischen den Staaten und zwischen den Menschen – Menschen, die nicht auf andere und auf bessere Zeiten warteten, sondern entschlossen waren, selbst Hand anzulegen.“16

      Die ersten vorsichtigen Initiativen begannen in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Zu den frühen Gesprächskontakten gehörte neben einer Reihe von Einzelinitiativen 1957 das Treffen deutscher Publizisten mit Redakteuren der Zeitschrift ZNAK und der Wochenzeitung Tygodnik Powszechny in Wien, auf dem der Chefredakteur der KNA, Karl Bringmann, Stanisław Stomma zu einem Besuch in der Bundesrepublik einlud, der 1958 tatsächlich auch stattfinden konnte. Eine offizielle Teilnahme polnischer Katholiken am Kölner Katholikentag 1956 bzw. 1958 in Berlin war damals dagegen noch nicht möglich.

      Die emotional schwerwiegendste, bis zum heutigen Tag nicht ausgeräumte kirchenpolitische Belastung in den katholischen Beziehungen ist erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden und wurde durch den von polnischer Seite angestrengten Seligsprechungsprozess für Kardinal Augustyn Hlond (1881-1948) Mitte der 1990er Jahre erneut in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. In diesem Konflikt geht es um die Frage, welche päpstlichen Sondervollmachten dem Primas 1945 zur Verfügung standen, um die deutschen Bischöfe, Weihbischöfe, Generalvikare und Domkapitel in drei ostdeutschen Diözesen (Breslau, Ermland, Freie Prälatur Schneidemühl) und den deutschen Teilen der Diözesen Prag und Olmütz zum 1. September 1945 durch Apostolische Administratoren zu ersetzen, und ob er davon in der rechten Weise Gebrauch gemacht hat. Daneben gibt es oder gab es aber auch Streitfragen, wie die „Kirchenglocken“ oder „Kirchenbücher“, die sich zu einem jahrzehntelangen Dauerbrenner mit brisantem Streitwert entwickelten.

      Deutliche Veränderungen, die auch durch Umfrageergebnisse belegbar sind, ergaben sich erst in den 1960er Jahren, als z. B. von Magdeburg aus Jugendgruppen als kleines Zeichen der Sühne und des Versöhnungswillens nach Polen pilgerten, sofern die DDR-Behörden die notwendigen Genehmigungen nicht verweigerten. Ab 1964 wurde diese Initiative auch von der Aktion Sühnezeichen unterstützt und dadurch zu einem ökumenischen Anliegen. Ebenfalls 1964 – während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses – fand eine Sühnewallfahrt statt. Die ersten Freiwilligen meldeten sich zu Arbeitseinsätzen in ehemaligen Konzentrationslagern. Vom 19. bis 24. Mai 1964 machten sich 34 „Menschen der Versöhnung“ aus Deutschland auf nach Auschwitz und trafen dort auch mit Karol Wojtyła, dem neuen Erzbischof von Krakau, zusammen. Zu einem Zeitpunkt, als viele Zeitgenossen in beiden Ländern noch in dem nationalistischen Freund-Feind-Schema der Vergangenheit gefangen waren, wurde diese Wallfahrt zum Gründungsimpuls für das bis heute segensreich tätige Maximilian-Kolbe-Werk. Durch die Beteiligung Wojtyłas, der erst seit Januar 1964 im Amt war, gelang mit dieser Wallfahrt ein erster Durchbruch, der Anfang zu deutschpolnischer Versöhnung. Der Erzbischof begrüßte jeden Einzelnen mit einem persönlichen Händedruck und versicherte, durch diese Begegnung habe eine neue Zeit begonnen, die polnischen Katholiken seien bereit, „einen neuen Geist der Versöhnung herzustellen.“17 Seine Überzeugung: „Nur durch solche Pilger- und Sühnefahrten und andere Bußwerke können wir von Gottes Barmherzigkeit die Annäherung der Völker und Religionen erhoffen“18, entsprach exakt der Einschätzung der deutschen Pilgergruppe. Für die kleinen Schritte vorwärts sollten in den deutsch-polnischen Beziehungen noch lange Jahre engagierte Einzelkämpfer und selbstorganisierte kleine Gruppen beider Kirchen, einzelne Menschen, zuständig sein, Pilger und Wallfahrer.

       3. Von der Vergangenheit zur Zukunft

      1960 eilte der Berliner Bischof Julius Döpfner weit voraus, als er versuchte, in einem eskalierenden Konflikt zwischen Konrad Adenauer und Primas Wyszyński zu vermitteln. Adenauer hatte auf einer Wahlkampfveranstaltung in Düsseldorf von einem „Rückkehrrecht der Ostpreußen“ gesprochen und damit eine gewaltige Protestlawine losgetreten. Primas Wyszyński meldete sich damals symbolträchtig aus der Marienburg:

      „Es kommt zu Euch der Widerhall von Drohungen, die ein feindseliger Mensch aus dem fernen Westen, der hochmütig auf seine Kraft vertraut, an die Adresse unserer Heimaterde und unserer Freiheit schleudert. […] Schaut nur auf diese hohen Burgen, wo sich der Dünkel eingenistet hatte, der auf Stahl und Eisen vertraute. Wo sind sie geblieben?“19

      Döpfners berühmt gewordene Berliner Hedwigs-Predigt vom 16. Oktober 1960 war der erste erfolgreiche Versuch, den Blick nicht nur auf die Konflikte der Vergangenheit, sondern auch auf die Aufgaben für eine gemeinsame Zukunft zu richten. Der damalige Berliner Bischof betonte zwar, es könne nicht Aufgabe eines Bischofs sein, politische Pläne zu entwickeln, gleichwohl stieß er mit seiner Initiative weitreichende politische Entwicklungen an, als er dem deutschen Volk dringend riet, sich drei Punkte einzuprägen:

      „1. Krieg als Mittel zur Neuordnung des Verhältnisses zwischen Polen und Deutschen scheidet von vorneherein aus […] 2. Das deutsche Volk kann nach allem, was in seinem Namen geschehen ist, den Frieden nur unter sehr großen Opfern erlangen […] Beide Völker müssten völlig darauf verzichten, sich gegenseitig Untaten vorzurechnen […] 3. Für die Zukunft ist die Gemeinschaft der Völker und Staaten wichtiger als Grenzfragen.“20

      Auf