Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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naheliegend. Diese Tatsache würde es rechtfertigen, die Theologie dieser beiden Schriften zusammen zu behandeln. Dies wird aus praktischen Gründen hier nicht getan, sondern die mehr das Evangelium betreffenden Gesichtpunkte werden hier erörtert, die mehr die Apostelgeschichte betreffenden in § 8 unter Nr. 11. Da grundsätzliche Aspekte der lukanischen Theologie in beiden Abschnitten erörtert werden, sollte § 8 Nr. 11 hier zur Ergänzung herangezogen werden.

      9.1 Der theologische Entwurf des Lukas in der Kritik

      Das LkEv als Werk des Frühkatholizismus?

      Wie sehr das Lukasevangelium und hier vor allem dessen theologische Anschauungen in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt des exegetischen Interesses gestanden haben, kann man sich daran verdeutlichen, dass dieses Evangelium als ein Sturmzentrum der wissenschaftlichen Bemühungen um das Neue Testament bezeichnet worden ist und dass die theologischen Anschauungen des Lukas mit harschen Worten getadelt wurden. Die Zuweisung des lukanischen Doppelwerks an den ► Frühkatholizismus, worunter v. a. die institutionelle Absicherung des Glaubens durch Lehramt und Ämtersukzession zu verstehen ist, und die damit verbundene Ablehnung seiner theologischen Anschauungen durch Ernst Käsemann war fast noch vornehm, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch folgende Ansicht Overbecks (1837–1905) wieder aufgenommen wurde: „Es ist das eine Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensionen, der größte Exzess der falschen Stellung, die sich Lukas zum Gegenstand gibt … Lukas behandelt historiographisch, was keine Geschichte und auch so nicht überliefert war“. Die kirchliche Predigt wurde sogar vor die Alternative gestellt, sich für Lukas oder Paulus zu entscheiden. Allerdings wurde die Theologie und v. a. die Geschichtsauffassung des dritten Evangelisten von anderen, ebenfalls protestantischen Autoren zur gleichen Zeit als so typisch für das ganze Neue Testament angesehen, dass sie als Urbild ganzer neutestamentlicher Entwürfe dienen konnte. Gegen den Vorwurf eines latenten Katholizismus von seiten ihrer Gegner verteidigten sich diese Autoren gerade mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit des Lukasevangeliums zum Kanon.

      9.2 Der Interpretationsentwurf Hans Conzelmanns

      Drei getrennte Perioden der Heilsgeschichte?

      In dieser Diskussion mit Schlagworten rief Conzelmann zu einer präziseren Bestimmung der Begriffe und zu einer genaueren Analyse, die er mit seiner Schrift „Die Mitte der Zeit“ vorlegte, wobei er freilich auf wichtige Erkenntnisse von Baers zurückgreifen konnte. Diese Schrift beherrscht die Diskussion teilweise bis heute, obwohl das Gespräch in der Zwischenzeit doch wohl gezeigt hat, dass Conzelmann die Dinge teilweise etwas zu scharf gesehen hat.

      Nach Conzelmann (und v. Baer) unterscheidet Lukas drei Perioden der Heilsgeschichte, einmal die Zeit Israels, gekennzeichnet durch das Gesetz und die Propheten, die bis zu Johannes dem Täufer einschließlich reicht, sodann die Zeit Jesu als Mitte der Zeit und der Heilsgeschichte, mit der aber nicht schon wie bei Markus die Endzeit anbricht, sondern die nur eine „Vorausdarstellung“ der künftigen Heilszeit bildet. Während Paulus auch die eigene Zeit, also die Zeit der Kirche als eschatologische ansieht (2 Kor 6,2), ist das bei Lukas nicht der Fall, er „sieht das Heil bereits wieder in der Vergangenheit. Die Heilszeit ist historisch geworden, ein Zeitabschnitt, der wohl die Gegenwart bestimmt, aber als Epoche zurückliegt und abgeschlossen ist. … Mit Jesus ist nicht die Endzeit angebrochen… Nicht, dass Gottes Reich nahe herbeikam, ist die frohe Botschaft, sondern dass durch das Leben Jesu die Hoffnung auf das künftige Reich begründet ist“ (Conzelmann 30 f.).

      Schließlich folgt nach dieser Interpretation auf die Mitte der Zeit die Zeit der Kirche, gekennzeichnet durch das Wirken des Heiligen Geistes, durch den Rückblick auf die Heilszeit in Jesus und durch die Übertragung der heilsgeschichtlichen Stellung Israels auf die Kirche. – Diese Dreiteilung wird heute nicht mehr so stark akzentuiert und stattdessen eher eine Zweiteilung vorgezogen, die die Verbindung zwischen der Zeit Jesu und der der Kirche stärker betont, ohne aber beide einfach ineinander aufgehen zu lassen. Auch hinsichtlich der Grenzziehung zwischen der Zeit Israels und der Zeit Jesu – ist diese mit Lk 16,16 und Apg 10,37 hinter Johannes dem Täufer (so Conzelmann) oder in Anlehnung an die überbietende Parallelisierung von Jesus und dem Täufer in Lk 1 und an andere Worte besser vor dem Täufer zu ziehen? – ist sich die Exegese nicht mehr so sicher, wie Conzelmann es war. Es könnte durchaus sein, dass der Täufer schon zur Mitte der Zeit zu rechnen und nicht so scharf, wie Conzelmann das tut, von der Jesuszeit abzutrennen ist. Die grundsätzliche Grenzziehung zwischen der Zeit Israels und der folgenden Heilszeit durch Lukas hat sich dagegen weitestgehend durchgesetzt.

      9.3 Die systematischen Prämissen der Diskussion über das Lukasevangelium

      Hermeneutik des Vorurteils

      Schon an dieser kurzen Darstellung kann man sehen, dass diese Diskussion nicht rein exegetisch geführt wurde, sondern stark von systematischen Positionen beeinflusst war. So wenig erstaunlich das für eine hermeneutisch bewusste Theologie ist, so auffällig ist der Umstand, dass um diese Positionen gleichzeitig immer wieder mit Hinweis auf neutestamentliche Texte gerungen und so deutlich gemacht wird, dass wir eine reine Exegese der Texte nicht haben, sondern immer wieder hermeneutische Vor- und Grundurteile die Exegese beeinflussen.

      Proömium und Corpus des Evangeliums

      Dann wundert es nicht, dass die Deutung von der Historisierung des Heils durch Lukas durchaus auch hinterfragt, verneint und dem Lukasevangelium ein ebenso kerygmatischer Charakter zugesprochen wird wie den übrigen Evangelien. Diese Ansicht kann sich immerhin darauf stützen, dass Lukas sich innerhalb seines Evangeliums trotz der z. T. anderen Absicht, die er im Vorwort zum Ausdruck bringt, genauso verhält wie die übrigen Synoptiker und dass von einer Absicherung des Glaubens durch die Geschichte und durch die geschichtliche Rückfrage dort nichts zu spüren ist. Dieses von der Ankündigung im Vorwort möglicherweise abweichende Verhalten im Innern des Evangeliums und die ganz andere Art der Evangelienschreibung auch des Lukas, z. B. im Vergleich mit den Arbeiten des Josephus, müssen die Frage veranlassen, ob das Vorwort richtig verstanden ist, wenn dort die Absicherung des Glaubens durch historische Forschung gefunden wird. Dass dieses Verständnis des Proömiums keineswegs zwingend ist, haben eine ganze Reihe von Arbeiten gezeigt. Oder kann man vielleicht sogar davon ausgehen, dass hier der Zwang der Konvention eines solchen Vorwortes die eigentlichen theologischen Absichten des Lukas überdeckt hat? Jedenfalls ist das von der Ankündigung im Proömium abweichende Verhalten des Lukas im übrigen Evangelium, wo von einem Bemühen um die historisch richtige Reihenfolge nicht besonders viel zu spüren ist, auffällig.

      9.4 Die Stellung des Lukas zur Parusie

      Der Grund für die in hohem Maße von den meisten übrigen theologischen Entwürfen des Neuen Testaments abweichende Theologie des Lukas wird häufig in der Parusieverzögerung gesehen, die Lukas veranlasst hat, die bislang die urchristliche Verkündigung beherrschende Predigt des in Bälde kommenden Erhöhten aufzugeben und an deren Stelle die geschichtliche Überlieferung von Jesus zu setzen.

      Keine Naherwartung mehr

      Daran, dass Lukas die Naherwartung, nicht aber die Parusiehoffnung überhaupt, aufgibt, kann kein Zweifel bestehen, wenn auch einzelne Worte mit Naherwartung noch im Evangelium zu finden sind (z. B. 21,32). Wie sehr die Naherwartung aus dem beherrschenden Zentrum, das sie bei Markus noch einnahm, verschwunden ist, vermag schon die Tatsache zu verdeutlichen, dass Mk 1,15 als Zusammenfassung der Predigt Jesu bei Lukas keine Parallele hat und dass in der in vieler Hinsicht für die theologische Sicht des Jesusphänomens typischen Antrittspredigt Jesu in Nazareth (4,16–30) ebenfalls von der Naherwartung nicht die Rede ist (vgl. auch die Änderung von Mk 9,1 in Lk 9,27 und dazu die Kommentare).

      „Stetsbereitschaft“

      Lukas reagiert damit auf die sich dehnende Zeit bis zur Parusie (vgl. 21,9.12), betont stattdessen die Mahnungen zur Wachsamkeit und fordert die „Stetsbereitschaft“ (21,34–36) für die Wiederkunft des Herrn. Dementsprechend treten die universalen Momente der Endvollendung zurück und die Vollendung des Einzelnen im Sterben wird hervorgehoben (vgl. Lk 16,19–31; 21,19; 23,43).

      9.5 Israel und die Heilsgeschichte

      Geschichte nach Gottes Plan

      Die ganze Heilsgeschichte aber, die Zeit Israels, das Jesusgeschehen und