Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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nicht preisgibt, obwohl an sich die Nennung des Namens durchaus zum Stil des Vorwortes gehört. Deswegen sind wir für die Rückfrage nach dem Verfasser zunächst ausschließlich auf innere Kriterien angewiesen. Allerdings kann dazu auch die Apostelgeschichte herangezogen werden, da diese vom selben Verfasser stammt (zur Begründung s. unten § 8 Nr. 3.1)

      3.1 Ein Verfasser der dritten christlichen Generation

      Juden oder Heidenchrist?

      Schon aus dem Vorwort geht hervor, dass der Verfasser des Lukasevangeliums nicht den Anspruch erhebt, Augenzeuge des Jesusgeschehens zu sein, sondern der zweiten oder eher der dritten Generation angehört. Da Sprache und Stil der lukanischen Werke auf einen gebildeten ► Hellenisten hinweisen, konzentriert sich die Frage nach dem Verfasser zunächst darauf, ob es sich um einen Judenoder einen Heidenchristen handelt.

      Ambivalente Argumente

      In der Regel wird für die Entscheidung dieser Frage einerseits darauf hingewiesen, dass der Verfasser mit dem Alten Testament in seiner griechischen Übersetzung sehr vertraut und von dessen Sprache geprägt ist, durchaus ein gewisses Interesse am Gesetz, den Propheten und Jerusalem hat, dass er den Synagogengottesdienst korrekt zu beschreiben in der Lage ist (Lk 4,16–30; Apg 13,14–41) und über zahlreiche, aus judenchristlichem Milieu stammende Sondertraditionen verfügt (Lk 1–2; 17,11–19; 18,9–14). Andererseits gibt es aber wichtige Argumente, die für einen Heidenchristen sprechen: Lukas vermeidet semitische Begriffe, hat kein Interesse an Auseinandersetzungen um kultische Fragen, kennt sich in der Geographie Palästinas nicht aus (17,11), und die typisch jüdische Sühnevorstellung tritt stark zurück. Das Ergebnis dieser Argumentation ist dann in der Regel ein Heidenchrist mit Kontakt zum Diasporajudentum als Autor des dritten Evangeliums, wenn der Verfasser nicht weitergehend sogar zu dem Kreis der Gottesfürchtigen im Umfeld der Synagoge gezählt wird.

      Die Lage ist naturgemäß doch komplexer, als sie bei solcher Zusammenfassung erscheint. Lukas hat z. B. durchaus jüdische Termini nicht nur gestrichen bzw. durch griechische Termini ersetzt (Rabbi, Rabbuni, Kananäer), sondern auch beibehalten. So begegnet Beelzebul bei Lk genauso häufig wie bei Matthäus, aber häufiger als bei Markus, für Mammon lauten die Zahlen: Matthäus 1, Markus 0, Lukas 3, für gehenna Matthäus 7, Markus 3, Lukas 1 und für Satan Matthäus 3, Markus 5, Lukas 5 Belege. Ebenso überliefert Lukas durchaus eine ganze Reihe von Perikopen, die von Gesetzes- und Reinheitsproblemen handeln (vgl. nur Mk 2,23–3,6 parLk), und dass Geographie-Kenntnisse als Argument kaum zu verwenden sind, haben wir schon beim Markusevangelium gesehen (s. dazu oben § 5 Nr. 3.2.2).

      Dennoch gehen die oben genannten Argumente in die richtige Richtung, weisen doch die Sprache und die hellenistische Bildung des dritten Evangelisten auf einen in der Diaspora Geborenen hin. Die Tendenz zur Reduzierung jüdischer Fragen und Ausdrücke, die sich ja sicher auch der fortgeschrittenen Entwicklung des „Christentums“ und seiner Bewegung vom Judentum fort verdankt, könnte ein Hinweis dafür sein, dass der Verfasser eher aus dem Heiden- als aus dem Judentum stammt. Dass dies „mit Sicherheit“ gesagt werden kann, scheint mir jedoch eine Übertreibung zu sein – die mangelnde Kenntnis der Geographie Palästinas und die Reduzierung der semitischen Fragen und Begriffe geben diese Sicherheit nicht her. Das gleiche gilt freilich erst recht für die neuerdings wieder vereinzelt vorgetragene Ansicht, Lukas sei ein Judenchrist aus der Diaspora.

      3.2 Die Nachrichten aus der Alten Kirche und die moderne Kritik

      3.2.1 Die Zeugnisse

      Irenäus von Lyon

      Nun gibt es freilich aus der Alten Kirche wie schon bei den Evangelien nach Matthäus und Markus eine Reihe von Nachrichten, die den Verfasser wesentlich genauer zu kennen scheinen. Im einzelnen handelt es sich um Zeugnisse von der Mitte des zweiten Jahrhunderts an, von denen anzuführen sich m. E. allenfalls das des Irenäus von Lyon († um 200) lohnt: „Und Lukas hat als Begleiter des Paulus das von ihm gepredigte Evangelium in einem Buch niedergelegt“ (Haer. III 1,1 nach Eusebius, Kirchengeschichte V. 8,3; vgl. noch Irenäus, Haer. III 10,1; 14,1.2 und I 23,1). Irenäus verweist zur Begründung auf die sog. Wir-Berichte der Apostelgeschichte (s. dazu unten § 8 Nr. 6.3.1), die den Verfasser der Apostelgeschichte als Begleiter des Paulus ausweisen, und auf 2 Tim 4,10 f., wo Lukas als einziger Begleiter des Paulus genannt ist, sowie auf Kol 4,14, wo von Lukas als dem geliebten Arzt die Rede ist (Haer. III 14,1). Auf Philemon 24, wo ebenfalls ein Lukas als Mitarbeiter des Paulus erwähnt wird, nimmt er hier keinen Bezug.

       Irenäus schreibt: „Dieser Lukas war von Paulus unzertrennlich und sein Mitarbeiter am Evangelium, wie er selbst deutlich macht, und zwar nicht, um sich aufzuspielen, sondern von der Wahrheit gedrängt. Denn als sich Barnabas und Johannes, der sich Markus nennt, von Paulus getrennt und sich nach Zypern eingeschifft hatten (vgl. Apg 15,39), da, sagt er, ‚kamen wir nach Troas‘ (Apg 16,8). Und als Paulus im Traum einen Mann aus Mazedonien gesehen hatte, der zu ihm sagte: ‚Komm nach Mazedonien und hilf uns‘, Paulus (Apg 16,9), da, sagt er, ‚hatten wir das Verlangen, sofort nach Mazedonien aufzubrechen, da uns klar war, dass der Herr uns rief, ihnen das Evangelium zu bringen. Wir segelten also von Troas ab mit Kurs auf Samothrake‘ (Apg 16,10 f.). Im Folgenden beschreibt er sorgfältig ihre ganze weitere Reise bis nach Philippi (vgl. Apg 16,12) und wie sie (dort) zum erstenmal predigten: ‚Wir setzten uns‘, sagt er nämlich, ‚und sprachen zu den Frauen, die sich eingefunden hatten‘ (Apg 16,13). Es (wird auch berichtet), was für Leute da zum Glauben kamen und wie viele es waren. Und er sagt auch: ‚Nach den Tagen der Ungesäuerten Brote segelten wir von Philippi ab und kamen nach Troas, wo wir uns sieben Tage aufhielten‘ (Apg 20,6).. Weil Lukas bei allem dabei war, hat er alles genau aufgeschrieben, ohne bei einer Lüge oder Übertreibung ertappt werden zu können, weil eben alle diese Dinge so feststehen und er älter ist als alle, die jetzt andere Lehren verbreiten und die Wahrheit nicht kennen. Er war ja nicht nur ein Begleiter der Apostel, sondern auch ihr Mitarbeiter, vor allem aber der des Paulus, und Paulus hat das in seinen Briefen auch selbst gezeigt …“ (Irenäus von Lyon, Haer. III 14,1).

      Weitere Zeugnisse

      In den sog. ► anti-marcionitischen, in ihrem Alter häufig überschätzten Evangelienprologen wird im Vorwort zum Lukasevangelium gesagt, dies sei von dem Arzt Lukas aus Antiochien geschrieben, der keine Frau und keine Kinder gehabt und sein Evangelium als dritter, also nach Matthäus und Markus, aber vor Johannes verfasst habe und in Bithynien im Alter von 84 (88) Jahren gestorben sei. Darüber hinaus finden sich bei Justin dem Märtyrer († um 165) Anspielungen auf das Lukasevangelium, und Marcion hat bekanntlich (um 140) das Werk des Lukas ohne dessen Namen mit erheblichen Streichungen (z. B. Lk 1–2 und das meiste von Lk 3–4) und Korrekturen als sein „Evangelium“ herausgegeben. Auch in dem im ausgehenden zweiten Jahrhundert verfassten ► Muratorischen Kanonverzeichnis wird von Lukas berichtet, ohne dass daraus neue Kenntnisse über die bereits genannten Quellen hinaus gewonnen werden könnten. Nach Origenes (185 – nach 254) hat Paulus das Werk des Lukas sogar mit Lob bedacht.

      3.2.2 Überprüfung der Kirchenväterzeugnisse

      Lukas als Paulusbegleiter?

      Die Zeugnisse aus der Alten Kirche lassen sich dadurch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, dass diese Lukas mit dem in Phlm 24 von Paulus selbst und dem in den ► Deuteropaulinen genannten Paulusbegleiter Lukas identifizieren. Wäre dieser Lukas der Verfasser der Apostelgeschichte, dann müsste er Paulus längere Zeit begleitet haben, was Irenäus ja auch tatsächlich behauptet, und deswegen nicht nur mit seiner Theologie, sondern auch mit seinen wesentlichen Daten und Intentionen vertraut sein, so dass zu fragen ist: Passt das Zeugnis der Apostelgeschichte mit dem Selbstzeugnis des Paulus zusammen? Dies ist nach allgemeiner Überzeugung aber nicht der Fall. Weder die Paulusreisen nach Jerusalem vor dem Apostelkonzil, noch die Darstellung der Auseinandersetzungen und Beschlüsse dieses Konzils stimmen bei Paulus und in der Apostelgeschichte überein, und dass Paulus einen seiner Mitarbeiter den Juden(-christen) zuliebe hätte beschneiden lassen (Apg 16,3), scheint mir absolut unvorstellbar, auch wenn dies Exegeten gelegentlich für möglich halten.

      Da den Berichten des Paulus als Beteiligten und in vieler Hinsicht Betroffenen trotz aller auch hier anzuwendenden Vorsicht eindeutig die Priorität gebührt und auch die theologischen Anschauungen des Paulus in der Apostelgeschichte kaum wiederzuerkennen