Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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      Sonderquelle für die Passionsgeschichte?

      Ein besonderes Problem stellt noch die Passionsgeschichte dar, weil hier im Vergleich mit dem zweiten Evangelium nicht nur Umstellungen (z. B. 22,54b-62), sondern auch einige Einfügungen (22,15–18.24–30.31 f.35–38.43 f.; 23,6–12.13–16.27–31.39b-43) und Auslassungen (Mk 14,3–9.27.33 f.38b-42.44.46.49b-52.55–61a; 15,4 f.16–20a.23.25.29 f.34 f.44 f.) vorliegen, weswegen man dafür lange Zeit mit einer zusammenhängenden Sonderquelle gerechnet hat, die Lukas neben der Passionsgeschichte des Markusevangeliums benutzt haben sollte. Auffällig sind die Übereinstimmungen mit der johanneischen Passions- und Ostergeschichte v. a. in nicht-redaktionellen Passagen.

      So nehmen manche Forscher nicht nur die Übernahme von Sondergut-Material an, sondern rechnen damit, dass Lukas neben der markinischen noch eine zweite, ihm bereits schriftlich vorliegende Passionsgeschichte kannte, die eng mit der vorjohan-neischen verwandt ist (Klein, Schleritt). Andere versuchen, die lukanische Passionsgeschichte vollständig auf der Basis der markinischen Leidensgeschichte zu verstehen, die Lukas seinen schriftstellerischen und theologischen Zielen entsprechend bearbeitet und mit weiteren Stoffen angereichert habe (vgl. Harrington). An der lukanischen Bearbeitung der Passionsgeschichte leuchtet schon etwas von dem großen Schriftsteller Lukas auf, das dann in der Apostelgeschichte, wo Lukas aufgrund des fehlenden vorgegebenen Rahmens viel selbständiger arbeiten muss und kann, noch deutlicher hervortritt.

      Unterschiedliches Sprachniveau

      Die Sprache des Lukasevangeliums ist Gegenstand intensiver Forschung gewesen, was sicher auch damit zusammenhängt, dass dessen Sprache am ehesten von den vier Evangelien dem Ideal des klassischen Griechisch entspricht, wie schon Hieronymus (ca. 347–420) bemerkt hat. Allerdings, und das ist auffällig, gibt es in der Sprache des Evangeliums erhebliche Unterschiede. Dass und wie Lukas fast klassisch zu schreiben in der Lage ist, zeigt der Prolog 1,1–4, mit dessen Stil sich im Neuen Testament nur noch Hebr 1,1–4 vergleichen lässt. 3,1 f. und Apg 1,1 f. kommen an das Niveau von 1,1–4 zwar nicht heran, zeigen aber ebenfalls das hohe Stilniveau des Lukas. Lk 1,5–2,52 sind dagegen stark von der Sprache des Alten Testaments beeinflusst, was man wiederum vom übrigen Evangelium jedenfalls nicht in gleichem Maße sagen kann, obwohl sich auch dort, wie wir gesehen haben, immer noch eine ganze Reihe von semitischen Termini und Anlehnungen an die Sprache der ► Septuaginta finden (vgl. z. B das häufige „und es geschah“, die den Propheten-Schriften entnommene Wendung „es werden Tage kommen“ und die Form der Eigennamen des Alten Testaments). Dieser Unterschied in der Sprache wird sicher auch mit den verarbeiteten Quellen zusammenhängen, aber dieser Umstand erklärt diese Differenzen nicht vollständig. Warum Lukas, dessen stilistische Fähigkeiten der Prolog zeigt, sein Evangelium nicht noch gründlicher stilistisch überarbeitet, als er es ohnehin getan hat, bleibt unklar.

      Die Verbesserungen sind im Einzelnen durch einen Vergleich mit dem Markustext eindeutig zu erheben, sie brauchen hier nicht eigens aufgeführt zu werden (vgl. dazu Fitzmyer, Luke I 107 ff.) – es mag der Hinweis genügen, dass Lukas ebenso wie Matthäus die auffällig häufige Parataxe des Markus oft durch eine Partizipialkonstruktion ersetzt und auch das historische Präsens des Markus meidet. Ein Vergleich des Vokabulars mit dem der klassischen griechischen Schriftsteller demonstriert die Eleganz des von Lukas geschriebenen Griechisch, obwohl 90 % seines Vokabulars auch in der Septuaginta zu finden ist. In diesem Phänomen kommt zum Ausdruck, dass Lukas mit seiner Sprache eine doppelte Tendenz verfolgt: Er will sich sowohl an die Klassik als auch an die Sprache der Bibel anpassen. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass Lukas sich auch um eine stilistisch ausgefeilte Sprache bemüht. Dies kommt u. a. in dem Gebrauch von Synonymen zur Vermeidung von Wiederholungen und in dem von Klangfiguren wie der Alliteration zum Ausdruck.

      Die im Rahmen der neutestamentlichen Evangelien ungewöhnliche Widmung an den „hochverehrten Theophilus“ (= Gottesfreund, „Gottlieb“) ist im Rahmen antiker Werke nichts besonderes, da diese häufig im Vorwort (oder auch im Nachwort) Widmungen enthalten. So dediziert z. B. Josephus sowohl seine Jüdischen Altertümer (Proöm. 1,8) als auch sein Werk Contra Apionem (I 1,1; vgl. auch II 1 und 296 sowie Vita 430) dem ebenfalls (jedenfalls in CAp II) „hochverehrten“ Epaphroditus, über dessen Identität ebenso verschiedene Vermutungen vorgetragen worden sind wie über den Widmungsempfänger des Lukasevangeliums.

      Theophilus eine konkrete Person?

      Verlegerpflichten des Widmungsempfängers?

      Dieser „Gottlieb“ hat die Exegese vielfältig beschäftigt, und man hat eine Reihe von Überlegungen zu seiner Person angestellt, die aber über den Charakter von Vermutungen nicht hinausgelangt sind. Dass hinter diesem Namen eine konkrete Person steht, die der Verfasser des Evangeliums und der Apostelgeschichte (vgl. 1,1) im Blick hat, und dass Lukas nicht etwa einfach alle Gottesfreunde dieser Welt meint, sollte nicht bezweifelt werden. Die Buchwidmungen in der hellenistischen Literatur beziehen sich durchweg auf eine konkrete Person (die Ausnahme Philokrates im Aristeasbrief ist anders zu bewerten). Selbst die Anrede mit „hochverehrter“ Theophilus, aus der man u. a. mit Hinweis auf Apg 23,26; 24,3; 26,25, auf einen römischen Beamten geschlossen hat, ist eine in solchen Buchwidmungen verbreitete Höflichkeitsanrede (vgl. nur Jos CAp I 1) an einen in der Regel sozial Hochgestellten, so dass auch aus ihr nicht allzu bedeutende Schlüsse gezogen werden können. Der Name ist nicht römisch, er wird bei den Juden der Diaspora gerne gebraucht.

      Dass der von Lukas im weiteren Verlauf des Vorwortes in Aussicht gestellte Zweck des Doppelwerks auf ein Verlangen des Theophilus zurückgeht, ist nicht besonders wahrscheinlich. Es dürfte sich in Lk 1,4 eher um eine Darlegung der von Lukas mit seinen beiden Werken beabsichtigten Zwecke als um konkrete Forderungen des Theophilus handeln (vgl. allerdings Alexander).

      Dass der im Vorwort eines Werkes Genannte auch die Pflichten des Verlegers zu übernehmen und für die Verbreitung des „Buches“ zu sorgen hatte, wird man so generell sicher nicht sagen können, wie sich daraus ergibt, dass uns Widmungen von Büchern bekannt sind, die gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. In der Regel freilich dürften sowohl der Autor als auch der mit der Widmung Bedachte Interesse an der Verbreitung des Inhaltes und der mit der Widmung verbundenen Ehre gehabt haben, so dass sehr häufig durchaus von einer „verlegerischen“ Tätigkeit des Widmungsempfängers ausgegangen werden kann. Diese bestand darin, das Buch abschreiben zu lassen und es zu verbreiten, und unterschied sich von der gewerbsmäßigen Tätigkeit eines Buchhändlers dadurch, dass sie privat geschah und sich eben in der Regel nur auf ein bzw. mehrere Bücher desselben Autors bezog. Eine Verpflichtung allerdings auf seiten des Widmungsempfängers zur Verbreitung des Buches dürfte es nicht gegeben haben. Eine solche war im übrigen auch deswegen nicht nötig, weil man sich in der Antike, wenn der Ruf eines Buches sich erst ein wenig verbreitet und ein Bedürfnis, es zu lesen oder es zu besitzen, geweckt hatte, was z. B. durch öffentliche Autorenlesungen geschehen konnte, selbst privat Abschriften machen ließ.

       „War ein bestimmtes Buch im Buchhandel nicht aufzutreiben …, misstraute man der Qualität der dort angebotenen Exemplare, waren finanzielle oder sonstige Gründe im Spiel, so verhinderte kein Urheber- oder Verlagsrecht, damals unbekannte Begriffe, dass man sich den Text irgendwo auslieh und eine private Abschrift herstellte. Ob der Interessierte dann den Text eigenhändig kopierte, hierzu einen fähigen oder sogar in solchen Arbeiten besonders erfahrenen Sklaven beauftragte, oder ob er die Arbeit einem Scriptorium, einer ‚Schreibanstalt‘ gegen Entgelt, übertrug, hing freilich wiederum von den jeweiligen persönlichen Intentionen und Möglichkeiten ab“ (Blanck 117 f.).

      So wie der Autor Kopien seiner Bücher anfertigen ließ, so wird es in der Regel auch der Widmungsempfänger getan haben. Das beweist Statius (geb. ca. 40 n. Chr.), ein äußerst vielseitiger Dichter in Rom, der das zweite Buch seiner Silvae einem Atedius Melior widmet und diesen bittet: „Liebster Melior, wenn sie (die Verse) dir nicht missfallen, so mögen sie durch dich ihr Publikum finden, andernfalls sende sie mir zurück“ (2, praef.).

      Dass das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte