Während Markus und Matthäus zu den Gründen, aus denen heraus sie sich zum Verfassen ihrer Schriften entschlossen haben, keine Auskunft geben, äußern Lukas und Johannes sich dazu. Beide geben deutlich zu erkennen, dass sie ein Buch für den Glauben schreiben wollen – dabei gibt es allerdings charakteristische Unterschiede. Während der Verfasser des Johannesevangeliums am Ende seines Werkes (20,30 f.) deutlich macht, dass es ihm wichtiger ist, den Nicht-Wunderstoff zu erzählen als noch mehr Wundergeschichten zu überliefern, dass aber gleichwohl die bereits erzählten Berichte von den „Zeichen“ besonders geeignet sind, zum Glauben zu führen bzw. in diesem zu halten, stellt Lukas in schriftstellerischer Manier seinem Werk ein Proömium / Vorwort voran, in dem er seine Absichten und sein Verfahren beschreibt. Ist hier auch im einzelnen manches umstritten und sind auch die Absichten, die Lukas mit seinem Evangelium und der Apostelgeschichte verbindet, in ihrer genauen Kennzeichnung kontrovers, so kann man doch sein Ziel anhand seiner Ausführungen wenigstens insoweit umschreiben, dass sein Werk wie das des vierten Evangelisten dem Glauben dienen, näherhin die Zuverlässigkeit der christlichen Lehre aufzeigen will. Wie es das im einzelnen anstrebt, ist allerdings nicht so eindeutig und auch Gegenstand heftiger theologischer Kontroversen geworden.
2.1 Glaube und Historie nach Lukas
Historische Glaubensbeweise
Die grundlegende Frage dabei ist, wodurch genau Lukas die Zuverlässigkeit, die er dem Theophilus mit Hilfe seines Werkes in Aussicht stellt, erreichen will und was diese Zuverlässigkeit der Worte, in denen Theophilus unterrichtet worden ist, exakt meint. Soll hier, wie vorgetragen worden ist, durch historische Rückfrage die Integrität der apostolischen Tradition sichergestellt und dem Glauben auf diese Weise ein zuverlässiges Fundament gegeben werden? Dagegen lässt sich natürlich trefflich einwenden, dass dann dem Glauben das menschliche Bemühen vorgeordnet werde und das Evangelium darüber hinaus unter das Lessingsche Verdikt von den zufälligen Geschichtswahrheiten falle. Zeigt aber Lukas in seinem Vorwort wirklich, dass er etwas ganz anderes will als seine Vorgänger, die sich mit dem Überliefern der Berichte der Tradition zufrieden gaben, während er zu den Tatsachen selbst durchstoßen will? Worin besteht z. B. der Unterschied zu Joh 20,30 f.? Dort ist doch auch nicht ganz allgemein und etwa im modernen Sinne an die Bedeutsamkeit der Wundergeschichten und die daraus zu ziehenden Konsequenzen gedacht, sondern die Wundergeschichten erzählen Dinge, die Jesus, noch zahlreicher als im Evangelium berichtet, „getan“ hat, und diese sind „aufgeschrieben, damit ihr glaubt“. Hier sind die Wunder kaum als zarter Hinweis gedacht, den man aufnehmen, aber auch ebenso gut überhören kann, sondern eher im Sinne des Ersten Vatikanischen Konzils als „ganz sichere Zeichen für die Göttlichkeit der Offenbarung“ verstanden. Lukas geht, das ist zuzugeben, den Weg der Tatsachen viel offener und auch breiter, indem er die Erkenntnis der Zuverlässigkeit der Lehre an seine gesamten Ausführungen und nicht nur an die Wundergeschichten bindet.
Das lukanische Werk als ganzes gewährt nach seiner Ansicht die Zuverlässigkeit der christlichen Lehre, weil sein Verfasser alles getan hat, was man von einem Historiker erwarten kann, allem sorgfältig und von Anfang an nachgegangen ist und es der Reihe nach aufgeschrieben hat. Daraus aber, dass der Bericht des Lukas „wahr“ im Sinne von historisch korrekt zu sein beansprucht, und aus der vorausgesetzten Übereinstimmung dieses Berichtes mit der Lehre, in der Theophilus unterrichtet worden ist, soll dieser deren Zuverlässigkeit erkennen. Vom Glauben ist direkt gar nicht die Rede, und dass die Übereinstimmung der beiden Zeugnisse die Wahrheit des von den Worten Gemeinten beinhaltet, ist ebenfalls auffälligerweise nicht gesagt. Nach Ausweis seines Vorwortes hat Lukas also als ein gebildeter ► Hellenist die evangelische Überlieferung einer sorgfältigen Überprüfung unterzogen und zweifelt keinen Moment daran, dass das Ergebnis seiner Untersuchung mit der Lehre, in der Theophilus unterrichtet ist, übereinstimmt. Dass er sich diese Mühe macht, spricht dafür, dass er sich davon etwas für den Glauben verspricht, aber wie er sich das Verhältnis zwischen der sich aus dieser Übereinstimmung ergebenden Zuverlässigkeit und dem Glauben denkt, gibt er nicht zu erkennen.
Analogie zu Joh 20,30
Die Vermutung, dass er sich dieses ähnlich vorgestellt hat wie der Evangelist in Joh 20,30 f., ist freilich nahe liegend, aber kann man ihm dies zum Vorwurf machen, wenn die Geistesgeschichte noch lange Zeit bis zur Erkenntnis der grundsätzlichen Zufälligkeit alles Historischen gebraucht hat? Ansätze zu dieser Erkenntnis finden sich freilich schon im Neuen Testament (vgl. Mt 12,27 f., aber auch Betz / Riesner 194, die die Zufälligkeit alles Historischen auf ein „mit dem heilsgeschichtlichen Denken der Bibel unvereinbares philosophisches Vorurteil“ zurückführen). Und wird der Glaube schon an die eigene Tätigkeit des Menschen ausgeliefert, wenn ein Schriftsteller die Basis-Erzählungen seiner religiösen Bewegung in eine Form bringt, die den Erfordernissen seiner Zeitgenossen entspricht, die nun einmal auf „Historisches“ aus sind? Man vergleiche dazu nur, wie Josephus versucht, für sein Volk den Anschluss an die Geschichte zu gewinnen (CAp I 1). Die Absicht des Lukas könnte es durchaus sein, allein dieser Tendenz nach Historischem zu genügen, weswegen man auch nicht unbedingt nach Gerüchten über die Christen und Kritik an ihnen als Anlass für die Arbeit des Lukas suchen muss.
Notwendigkeit des lukanischen Unternehmens
Aus dem Vorwort ergibt sich des Weiteren, dass nach Ansicht des Lukas aus den von ihm erwähnten Vorgängerwerken diese Sicherheit nicht zu gewinnen war. Insofern solche historische Zuverlässigkeit aber nach Ansicht des Lukas für den Glauben in der hellenistischen Welt notwendig ist, ist das von Lukas in Angriff genommene Unternehmen für seine Umgebung zwingend erforderlich.
2.2 Das Verfahren des „Historikers“ Lukas
Anspruch und Wirklichkeit
Ein Problem besteht nun freilich darin, dass Lukas diesen in seinem Vorwort ausgedrückten Anspruch im Innern seines Werkes in keiner Weise einlöst.
Zwar verbessert er seine Vorlagen, kürzt sie auch und stellt gelegentlich größere Zusammenhänge her, aber dass er systematisch, womöglich aufgrund von Nachforschungen, Verbesserungen an seinen Quellen im Hinblick auf deren größere historische Genauigkeit vornimmt, ist nicht feststellbar, es sei denn, man begreift die Auslassung eines erheblichen Teiles des Markusstoffes als solche. Aber allein die Art und Weise, wie er mit der eschatologischen Botschaft Jesu umgeht, spricht in keiner Weise dafür, dass dies auf einer sorgfältigen Nachforschung bis zu den Ursprüngen beruht oder dass diese auch nur beabsichtigt ist. Entgegen den Ausführungen im Vorwort verhält er sich im Innern seines Werkes keineswegs anders als seine Vorgänger.
Zwar lassen sich eine ganze Reihe von Umstellungen und Auslassungen gegenüber dem Markusevangelium beobachten, aber auch die Gründe dafür sind in der Regel erkennbar, und diese sind schriftstellerischer und nicht historischer Natur. Man kann das sehr schön an der Perikope von der Verwerfung Jesu in seiner Vaterstadt (4,16–30 par Mk 6,1–6) sehen, die Lukas in Abweichung von seiner Markusvorlage zu einer programmatischen, das öffentliche Wirken Jesu eröffnenden Szene umgestaltet hat, in der sich das Wirken Jesu und sein „Erfolg“ bereits abschattet. Es spricht nichts dafür, dass Lukas für diese redaktionell gestaltete Szene an dieser Stelle eine konkrete Nachricht hatte, vielmehr weist alles darauf hin, dass Lukas diese Szene hierher gestellt und selbst gestaltet hat, weil er sie für die Eröffnung des öffentlichen Wirkens Jesu für besonders geeignet hielt. Nicht eine geschichtliche Nachricht, sondern die schriftstellerischen Ziele des Lukas sind der Anlass für diese Szene. Dieses Verfahren – Lukas richtet sich nach schriftstellerischen Notwendigkeiten und nicht nach seinen Quellen – lässt sich auch sonst in seinem Werk häufig beobachten und zeigt, dass die Beschreibung der lukanischen Absicht im Prolog nicht im Sinne eines heutigen Historikers missverstanden werden darf.
Lukas ist der einzige Evangelist, der sein Werk nach Art der antiken Schriftsteller mit einem Prooemium eröffnet, in dem er seine Absicht erläutert. Indem er mit seinem Werk für Theophilos, dem er das Werk widmet, die Zuverlässigkeit der Lehre erweisen will, will er nicht den Glauben an die Historie ausliefern und begreift er das Jesusgeschehen auch nicht als ein ausschließlich der Vergangenheit angehörendes Ereignis, sondern begreift das Jesusgeschehen als konstitutiven Teil der Ereignisse, die sich als Erfüllung der Schrift ereignet haben.
3. Der Verfasser des Lukasevangeliums