Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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ist auch nicht sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich. Insofern scheint Antiochien doch nicht die größte Wahrscheinlichkeit für sich zu haben.

      Neben Antiochien gibt es auch noch eine Reihe von anderen Städten, die für die Gemeinde des Matthäus vorgeschlagen worden sind (Alexandrien, Damaskus, Caesarea am Meer, Caesarea Philippi, Edessa usw.). Für Antiochien hinwiederum spricht, dass der älteste Zeuge für das Matthäusevangelium aus dieser Stadt stammt, nämlich Ignatius, der Bischof von Antiochien, der sich in seinen Briefen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Matthäusevangelium bezieht und dieses deswegen gekannt haben wird. Da er sich in Smyrn. 1,1 auf einen redaktionellen Vers des Matthäus stützt, kann diese Übereinstimmung kaum auf die Kenntnis einer gemeinsamen, dem Matthäusevangelium und dem Ignatiusbrief zugrundeliegenden Tradition, sondern muss auf das Werk des Evangelisten selbst zurückgeführt werden (vgl. dazu Köhler, 73–96; vorsichtiger Trevett und Schoedel; aber auch Meier, Ignatius). Aufgrund dieser Argumente kann die aus dem Evangelium zu erschließende Nähe zum Judentum mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf den syrischen Raum und hier vielleicht auf Antiochien konkretisiert werden. Diese These erfreut sich zur Zeit jedenfalls zunehmender Beliebtheit.

      Eindeutige Hinweise auf den Abfassungsort liefert das Evangelium des Matthäus nicht. Es gibt aber eine Reihe von Anhaltspunkten, die Antiochien als Abfassungsort des Werkes wahrscheinlich machen.

      Matthäus verbessert eindeutig die Sprache seiner markinischen Vorlage. Als Beispiel dafür lässt sich der Ersatz der griechischem Sprachgefühl nicht entsprechenden Parataxe durch Partizipialkonstruktionen nennen. Man hat die Sprache des Matthäus deswegen im Vergleich mit der des Markus zu Recht als gehobener bezeichnet. Das bedeutet freilich nicht, dass der erste Evangelist mit seiner Sprache schon in die Nähe der klassischen Autoren geriete. Im Gegenteil, auch er schreibt noch ein semitisierendes Griechisch mit unverkennbaren Anklängen an die LXX und verwendet sprachliche Figuren in einer Weise, wie sie in der klassischen Literatur auf keinen Fall angewendet worden wären, aber damals in volkstümlicher Literatur nach Ausweis der Papyri offensichtlich verbreitet waren.

      Als Beispiel für seine Nähe zum Semitischen kann etwa auf die Bevorzugung des Parallelismus, der z. B. in den alttestamentlichen Psalmen in allen Formen begegnet, hingewiesen werden. Auch die Vorliebe für die direkte Rede könnte mit dieser Nähe zusammenhängen. Matthäus hat eine Vorliebe für bestimmte Formeln und Wiederholungen, mit denen er u. a. Inklusionen schafft. Diese dienen teilweise der Hervorhebung, teilweise sicher auch der besseren Einprägsamkeit. Es ist ja auffällig, dass Matthäus sich gegen Ende des ersten Jahrhunderts trotz der von den Christen längst reklamierten Überlegenheit Jesu über den Täufer, auf die auch Matthäus Wert legt (3,14), nicht scheut, diesem und Jesus wörtlich die gleiche Verkündigung in den Mund zu legen: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ (3,2 und 4,17, vgl. auch 10,7 den Predigtauftrag der Jünger). Auf den Zusammenschluss der Bergpredigt mit den folgenden Wundertaten durch 4,23 und 9,35 wurde schon oben unter 1 hingewiesen, ebenfalls auf die die einzelnen Redekomplexe abschließenden Verse 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1 (vgl. darüber hinaus noch 5,3–11 die Gleichförmigkeit der Seligpreisungen, 5,21–48 mit den jeweils genau abgestuften Einleitungsformeln der Antithesen, 6,1–18 und die Wehe in Kap. 23).

      Diese sprachlichen Signale sind ein deutlicher Hinweis, dass der erste Evangelist bewusst mit seiner Sprache umgeht und dass die Exegese deswegen seine sprachlichen Eigenheiten und seinen Stilwillen auch beachten muss. Dass das mit einer Übersetzung nicht gelingt, muss nicht eigens hervorgehoben werden.

      7.1 Die Hauptthemen der matthäischen Theologie

      Die Bedeutung Jesu

      Unter den Gründen für die Abfassung des Evangeliums haben wir gesehen, dass neben der Kenntnisnahme des Markusevangeliums die Auseinandersetzungen mit der Synagogengemeinde am gleichen Ort und die davon für die matthäische Gemeinde ausgehende Verunsicherung ein wesentliches Motiv für den ersten Evangelisten gewesen sein dürften, sich ans Werk zu machen. Wenn es bei diesen Auseinandersetzungen auch vordergründig um die Frage des Stellenwertes des Gesetzes gegangen sein dürfte, so stand dahinter doch eine ganz andere und für die Gemeinde des Matthäus viel zentralere Frage, nämlich die nach der Bedeutung des Jesusereignisses überhaupt. Dies ist die Grundfrage, die zwischen der Synagogen- und der matthäischen Gemeinde auf der anderen Straßenseite kontrovers ist und auf die Matthäus mit seinem Werk antworten will. Dass diese Beobachtung zutrifft, zeigen schon der Anfang und der Schluss seines Werkes, die die besondere Bedeutung Jesu herausstellen. In 1,1 betont Matthäus, dass er das „Buch von der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ schreiben will und stellt so Jesus in die Kontinuität mit Abraham, dem Erzvater Israels und der Verkörperung des Gesetzesgehorsams (Sir 44,19 ff.; Jub 6,19), und David, als dessen Sohn der Messias erwartet wurde (2 Sam 7,12–16; ► bSanh 97 f).

      Ist damit die heilsgeschichtliche Relevanz Jesu nur mehr angedeutet, so wird sie im folgenden Stammbaum zur vollen Klarheit erhoben, indem mit Hilfe des Schemas von den dreimal 14 Generationen deutlich gemacht wird, dass der Platz Jesu in der Heilsgeschichte die Bedeutung Davids und die des Babylonischen Exils noch übertrifft. Am Ende des Evangeliums erscheint Jesus als der Auferstandene den Elf in einer unvergleichlichen Machtstellung, die aber nicht durch einen christologischen Hoheitstitel verdeutlicht wird, und befiehlt ihnen, sein Wort allen Völkern als Lebens-Maßstab zu verkündigen. Stellte der Anfang Jesus in Relation zu Israel dar, so ist am Ende von dieser Relation nicht mehr die Rede, sondern nur noch von den Völkern. Das Evangelium stellt den Weg Jesu und seiner Botschaft zu Israel und nach dessen Verweigerung, die nach Matthäus in der Kreuzigung Jesu kulminiert, den Weg zu den Völkern ohne spezifischen Israelbezug dar.

      Durch die Worte des Erhöhten wird der Hörer und Leser des Evangeliums nicht nur auf die Worte Jesu im Evangelium zurückverwiesen, sondern diese Worte erhalten auch große Autorität: Treue zu Jesus bedeutet Treue zu seinen Worten und, das steht dahinter, diese Worte Jesu werden von „den“ Juden nicht anerkannt, weswegen die matthäische Gemeinde in Treue zu diesen Worten ihren eigenen Weg zu den Völkern gehen muss. Damit sind die wichtigsten Themen matthäischer Theologie intoniert, es geht um die Bedeutung Jesu für seine Anhänger und die aus der Jesusbewegung entstehende Kirche, das Gesetz als Lebensregel und das Verhältnis zum Judentum. Diese Themen stehen nicht selbständig nebeneinander, sondern sind großenteils miteinander verschränkt.

      7.2 Jesus Christus

      Erfüllungszitate

      Das wichtigste Faktum, unter dem Matthäus die Existenz Jesu sieht, ist das der Erfüllung des Alten Testaments. Mit Hilfe der sog. Erfüllungszitate (vgl. nur 1,22 f.; 2,15.17 f.23; 4,14–16; 8,17; 12,18–21 usw.) bringt er zum Ausdruck, dass in Jesu Schicksal und Wort zahlreiche Prophetenworte in Erfüllung gegangen sind, und betont so die Kontinuität des Jesusereignisses mit der als Prophetie verstandenen Heiligen Schrift, die zu seiner Zeit ja nur aus dem später so genannten Alten Testament bestand.

      Zahlreiche Hoheitstitel

      Deswegen stellt Matthäus auch nicht einen Hoheitstitel in den Vordergrund, sondern überträgt alle bei Markus vorhandenen Hoheitstitel auf Jesus, fügt weitere hinzu (z. B. Immanuel und die Zeichnung des Jesusschicksals in Mt 2 als neuer Moses) und verändert teilweise deren Verständnis. Gab es schon bei Markus eine Tendenz, die Hoheitstitel nebeneinander zu gebrauchen (vgl. nur Mk 8,27–33; 14,61 f.), so liegt diese Tendenz bei Matthäus noch verstärkt vor, wie man u. a. an den Heilungswundergeschichten sehen kann, die Matthäus in der Regel mit den Titeln Kyrios, Davidssohn und Messias verbindet, die er aber auch mit dem Gottessohn-Titel versehen kann.

      Gottes Sohn durch Zeugung

      Es ist immer wieder erstaunlich festzustellen, welche Nuancen in den Quellen dem Evangelisten aufgefallen sind und wo er wegen Nichtübereinstimmung mit seiner Theologie in seine Vorlagen eingegriffen hat, während er an anderer Stelle solche Spannungen zu seiner Theologie in seinen Quellen übersieht. So bemerkt Matthäus offensichtlich, dass das Schema einer Adoption Jesu zum Gottessohn in der Taufe mit seinen theologischen Anschauungen von der Gottessohnschaft, die in der Zeugung durch den heiligen