Grenze zur Spekulation überschreitet, wenn er formuliert: „Es ist aber nicht einzusehen, warum ein solcher ‚Spitzensatz neutestamentlicher Verkündigung‘ und die umschriebene Praxis, die der von Röm 14,5 ff. und Kol 2,16 f. sehr genau entspricht, bis in die 80 er Jahre warten sollte, um in einem Evangelium Gestalt zu gewinnen“ [234 f.].)
Zu diesen Hauptgründen gehören:
Sadduzäer
a) Der in der Tat auffallende Umstand, dass im ersten Evangelium die Sadduzäer anders als bei Markus und Lukas nicht nur je einmal, sondern gleich siebenmal begegnen, woraus geschlossen wird, dass die Sadduzäer für den Evangelisten noch eine lebendige und sein Interesse auf sich ziehende Größe gewesen sein müssen, was nach 70 wegen ihres Verschwindens mit dem Jüdischen Krieg nicht denkbar ist.
Tempelsteuer
b) Die Gemeinde des Matthäus zahlt nach 17,24–27 freiwillig noch die Tempelsteuer, was nach 70 nicht mehr möglich war, da der fiscus Iudaicus von allen Juden zwangsweise eingetrieben wurde, so dass auch die aus dem Judentum stammenden Mitglieder der matthäischen Gemeinde zwangsweise zu dieser Steuer herangezogen wurden.
Zu a) Dass diese Interpretation möglich ist, kann m. E. nicht bestritten werden. Mindestens ebenso gut möglich ist aber auch eine andere, nämlich die, dass Matthäus die Sadduzäer eher stereotyp und ohne besonderes Interesse an ihnen einführt. Für letztere Deutung spricht sogar, dass von den sieben Belegen einer aus Markus übernommen ist (22,23) und ein zweiter in der Überleitung zur nächsten Perikope das Nomen anstelle des bei Markus vorhandenen Personalpronomens gebraucht (22,34), freilich dabei gutes Gefühl für die Differenzen zwischen den Pharisäern und Sadduzäern erkennen lässt. In den übrigen fünf Belegen werden die Sadduzäer immer stereotyp zusammen mit den Pharisäern genannt, woraus nun doch wirklich nicht auf ein besonderes Interesse an ihnen geschlossen werden kann. Wenn auf der einen Seite dem Matthäus vorgeworfen wird, seine Darstellung der Pharisäer und Sadduzäer (in Mt 16,11 f.) könne kaum von einem Judenchristen stammen (s. oben Nr. 3), dann kann man doch dieser Stelle kaum eine konkrete Auseinandersetzung der Gemeinde des Matthäus mit den Sadduzäern entnehmen – sonst würde er genau über die Kenntnisse verfügen, deren Fehlen an dieser Stelle moniert wird. Deutlicher kann die Tatsache, dass die Einleitungswissenschaft es mit ausgesprochen weichen und deswegen nur mit äußerster Vorsicht zu extrapolierenden Daten zu tun hat, nicht demonstriert werden.
Zu b) Dass die Gemeinde des Matthäus noch die Tempelsteuer zahlt, kann der Perikope keineswegs mit Sicherheit entnommen werden, so sehr diese Problematik auch die Entstehung der Perikope veranlasst haben dürfte. Der Autor des ersten Evangeliums kann die Perikope ebenso gut wegen der in ihr zur Sprache kommenden grundsätzlichen Freiheit der „Söhne“ übernommen haben, ohne dass die Frage der Tempelsteuer für ihn und seine Gemeinde noch aktuell gewesen sein muss.
Erste Rezeption
Sind die Argumente für die Frühdatierung keineswegs zwingend, so kann nun eine Datierung des ersten Evangeliums nach der Ausarbeitung des Markusevangeliums, die den frühesten Zeitpunkt für die Abfassung des Matthäusevangeliums bildet, versucht werden. Den zweiten Pol, auch als ante quem („vor dem“ das Evangelium entstanden sein muss) bezeichnet, bilden eine Reihe von Dokumenten aus der Alten Kirche: Der Erste Petrusbrief, der noch im ersten Jahrhundert verfasst sein dürfte, nimmt nach einer neueren Untersuchung auf das Matthäusevangelium Bezug (Metzner; vgl. auch Luz, Matthäus I 76; I 103 f.). Das Gleiche gilt für die schon genannten Briefe des Bischofs Ignatius von Antiochien, die mit großer Wahrscheinlichkeit eine Kenntnis des Matthäusevangeliums widerspiegeln, deren Abfassungszeit um 110 inzwischen aber häufig zugunsten einer zumindest etwas späteren Datierung (z. B. 130, aber auch später) aufgegeben wird. Auch die in Syrien angesiedelte, in der Regel auf das auslaufende erste oder das beginnende zweite Jahrhundert datierte ► Didache, die z. B. das „Vater unser“ mit ganz geringen Abweichungen in der matthäischen Form bietet und dabei ausdrücklich wie auch an anderen Stellen auf „das Evangelium des Herrn“ Bezug nimmt, kann hierfür herangezogen werden. Der Einwand, das „Vater Unser“ der Didache sei erst in der handschriftlichen Überlieferung an das des Matthäusevangeliums angeglichen worden, trifft nicht zu. Dagegen sprechen die eindeutig stehen gebliebenen Abweichungen! Die Abfassungszeit muss also in der Zeit nach 70 und vor dem ausgehenden ersten (1 Petr) oder spätestens zu Anfang des zweiten Jahrhunderts (Didache) liegen.
Dieser Zeitraum wird häufig noch mit Hilfe von Angaben aus dem Evangelium selbst etwas eingeschränkt. Dabei greift man vor allem auf 22,7; 23,38 und 21,41 zurück, Angaben, die allesamt die Zerstörung Jerusalems widerspiegeln sollen. Obwohl das nicht unbestritten ist (vgl. Schulz, 225, der Mt 22,7 aus der Rückschau der Jahre 80–100 für nicht befriedigend erklärbar hält und für einen vorausschauenden Charakter des Wortes plädiert, das in der Erregung über die Verstocktheit der herrschenden Kreise des jüdischen Volkes seinen Grund hat. Schöner kann man m. E. nicht demonstrieren, wie stark der subjektive Faktor bei den vorausgesetzten Plausibilitäten ist. Anders z. B. Theißen, 285), erübrigt sich an unserer Stelle eine Auseinandersetzung mit diesen Argumenten, da die Abfassung nach der Zerstörung Jerusalems sich aus der Benutzung des Markusevangeliums schon zwingend ergibt. Da das Markusevangelium eine Zeitlang gebraucht haben wird, bis es bei Matthäus angekommen ist, wird man kaum mit einer Abfassung des ersten Evangeliums vor 80 rechnen können. Ob es aber nun eher um 80 oder eher um 90 verfasst worden ist, lässt sich nicht mehr feststellen, da Argumentationen mit Hilfe theologischer Entwicklungen angesichts der unterschiedlichen Entwicklung der Gemeinden und ihrer Theologie im ersten Jahrhundert kaum zu überzeugen vermögen.
Das Matthäusevangelium ist aufgrund seiner Abhängigkeit vom Werk des Markus nach 70 entstanden. Da es zu Anfang des 2. Jahrhunderts bekannt ist, dürfte es zwischen 80 und 100 entstanden sein.
5. Der Abfassungsort des Matthäusevangeliums
Eine Griechisch sprechende Gemeinde
Der Evangelist schreibt ein griechisches Werk für Griechisch sprechende Leser und lebt damit offensichtlich auch in einer Griechisch sprechenden Gemeinde und nicht im sog. palästinischen Mutterland. Wegen der starken jüdischen Prägung des Evangeliums wird in der Regel auf eine nicht allzu große Entfernung zu Palästina geschlossen und der Abfassungsort deswegen sehr häufig nach Syrien verlegt und ebenfalls häufig mit Antiochien identifiziert.
Diese am 22. Mai 300 v. Chr. offiziell gegründete und nach dem Vater des Seleukos I. Nikator, Antiochus, benannte Stadt am Ufer des Orontes, die in der Antike oft „die Schöne“ genannt wurde, beherbergte seit ihrer Gründung eine jüdische Gemeinde in ihren Mauern, deren Größe unter Augustus zwischen 22.000 und 45.000 Mitglieder betragen haben soll. Andere Schätzungen gehen noch höher und rechnen mit bis zu 65.000 Juden in Antiochien.
Nach Ausweis der Apostelgeschichte und von Gal 2 gab es in Antiochien schon früh auch eine Gemeinde der Jesusbewegung. Von daher bietet Antiochien gute Voraussetzungen, dass das Matthäusevangelium dort entstanden sein kann, ohne dass einige Gründe, die in jüngster Zeit als eindeutig für Antiochia sprechend wiederholt worden sind, als durchschlagend angesehen werden können. Die herausragende Rolle des Petrus im Matthäusevangelium und seine von den Kirchenvätern bestätigte Bedeutung für die antiochenische Gemeinde sprechen nicht zwingend für eine antiochenische Entstehung des Matthäusevangeliums.
Gründe gegen Antiochien
Allerdings gibt es auch Gründe, die gegen Antiochien sprechen. Der wichtigste resultiert aus Apg 11,19–26. Wenn diese Angaben zuverlässig sind, dann ist die Gemeinde in Antiochien schon ziemlich von Anfang an auch auf die Heidenmission ausgerichtet, was für die Gemeinde des Matthäus so nicht gelten wird. Der Nachdruck, mit dem der Evangelist den Auferstandenen den Missionsbefehl an alle Völker sprechen lässt, und die Beschränkung der Wirksamkeit des irdischen Jesus auf Israel dürften ein Hinweis darauf sein, dass die Entscheidung für die Heidenmission noch nicht sehr alt und vor allem noch nicht allgemein akzeptiert ist. Aber man kann diese Schwierigkeit insofern umgehen, als man in der großen Stadt Antiochien natürlich mit einer Vielzahl von (Haus-)Gemeinden rechnen kann, die keineswegs alle gleichzeitig den Schritt zur Heidenmission gemacht haben müssen. Aber dass in derselben Stadt die eine Gemeinde den Schritt zur (gesetzesfreien) Mission schon