Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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v. a. in den Antithesen der Bergpredigt, und an den Pharisäern sowie die Außerkraftsetzung der Reinheitsgesetzgebung (z. B. in Mt 15),

      b) der erkennbare Abstand zu den Sabbatbestimmungen (die angeblich im Judentum nach 12,11 vorhandene Rettungsmöglichkeit ist für uns nicht nachvollziehbar),

      c) die Androhung des Heilsverlustes an Israel (8,11 f. und 21,43 f.),

      d) die Hinwendung zu den Heiden unter Ausschluss Israels (bei dieser Deutung wird der Terminus „Völker“ in Mt 28,19 in dem für das zugrunde liegende griechische Wort auch häufig belegten Sinn „Heiden“ verstanden und der Missionsbefehl auf diese, also unter Ausschluss der Juden, beschränkt),

      e) der Abstand zur Synagoge (z. B. in der Redewendung von „ihren Synagogen“),

      f) die Auslassung semitischer Wörter durch Matthäus (diese wird häufig darauf zurückgeführt, dass Matthäus sie nicht verstand),

      g) die Kenntnisse des Judentums im Matthäusevangelium lassen zu wünschen übrig (z. B. weil in 22,23 nicht alle Sadduzäer, wie es richtig wäre, sondern nur einige von ihnen die Auferstehung der Toten leugnen),

      h) die Benutzung des Alten Testaments nach der LXX und nicht nach dem hebräischen Text,

      i) das Missverständnis des Parallelismus membrorum bzw. des ► epexegetischen „und“ in 21,5.

      3.3 Die Gründe für einen heidenchristlichen Verfasser des Evangeliums und die Kritik daran

      Interpretationsspielräume

      Nun bewegen sich diese Einwände auf unterschiedlichen Ebenen und müssen gewogen, sie dürfen auf keinen Fall nur gezählt werden. Sowohl die Deutung des Missionsbefehls ausschließlich auf die Heiden als auch die Interpretation von Mt 15,11 ist keineswegs eindeutig. Hier bleibt durchaus Interpretationsspielraum, so dass diese Stellen nicht einfach zwingend auf einen Heidenchristen als Verfasser hinweisen. Deswegen braucht die Frage, ob eine solche Ansicht einem Judenchristen absolut nicht zuzutrauen wäre, hier nicht geklärt zu werden. Das Gleiche gilt auch für die Androhung des Heilsverlustes an Israel. Diese wie die übrige Kritik an Israel wird gerade auf der Basis der prophetischen, innerisraelitischen Kritik an Israel gut verständlich, und dies erst recht, wenn die Gemeinde des Matthäus wirklich aus dem Judentum stammt und sich von diesem unter dramatischen Umständen (vgl. 5,10–12) getrennt hat.

      Kritik am Gesetz

      Das Verhältnis zum Gesetz schließlich darf nicht einseitig aus den Antithesen, sondern muss aus dem Gesamtkontext erhoben werden. Die stark gesetzesbejahenden Sätze in Mt 5,17–20 und die Antithesen sind unbedingt zusammen zu sehen und dürfen aufgrund der einheitlichen Komposition keinesfalls einfach auseinandergerissen und separat interpretiert werden. Auch sollte man hinsichtlich der Kritik am Gesetz, die in einigen Antithesen von verschiedenen Autoren ja direkt auf den historischen Jesus zurückgeführt wird, das, was man Jesus zutraut, auch einem aus dem Judentum kommenden Evangelisten im ausgehenden ersten Jahrhundert zubilligen.

      Reiten auf zwei Tieren?

      Schwierig scheint mir allein das Verständnis der Stelle 21,5 zu sein, aber auch hier muss die Klassifizierung des Tuns des Matthäus als Missverständnis des alttestamentlichen Textes nicht das letzte Wort sein. Zwar dürfte Matthäus überhaupt erst aufgrund des Zitates aus dem Alten Testament auf die Idee gekommen sein, hier statt des von Markus genannten Fohlens ein Fohlen und seine Mutter anzuführen, so dass der Hinweis auf die exegetische Absicht der wörtlichen Erfüllung hier keine Lösung des Problems darstellt, weil diese Absicht eben in einem Missverständnis des zugrundeliegenden alttestamentlichen Textes ihren Grund hat. Aber zum einen müssen wir festhalten, dass dem Verfasser das Reiten auf zwei Tieren offensichtlich nicht das gleiche Kopfzerbrechen wie den Modernen bereitet hat (vgl. nur den Spott, den D. F. Strauß in seinem Leben Jesu über alle Versuche, mit dieser Schwierigkeit fertig zu werden, ausgießt [II, 288 ff]), zum anderen haben die eingehenden Analysen der Reflexionszitate in der letzten Zeit doch ergeben, dass wir die diesen zugrunde liegende Textgestalt nicht kennen, so dass zu fragen ist, ob dem Verfasser des ersten Evangeliums der Text in einem Zustand überliefert worden ist, in dem er das epexegetische „Und“ erkennen konnte.

      Auch die Tatsache, dass Matthäus in 15,2 die markinische Erläuterung des in Frage stehenden Brauches der Händewaschung nicht vollständig aus seiner Markusvorlage übernimmt, wird man kaum als etwas über den Charakter des Evangelisten als

      Juden- oder Heidenchristen besagend heranziehen können, da die wichtigsten Elemente der markinischen Verdeutlichung für die heidnischen Leser, nämlich dass es eine jüdische Tradition gab, wonach man sich vor dem Essen (rituell) die Hände wusch, auch bei Matthäus vorhanden sind.

      Ähnlich ist der Fall in 23,23, anders ist er in 23,5.27 und 27,6 – hier ist der Leser, der die jüdischen Bräuche nicht kennt, wirklich auf Erläuterungen angewiesen. Dass diese unterbleiben, könnte ein Zeichen dafür sein, dass Matthäus die entsprechenden Kenntnisse bei seinen Lesern voraussetzt. Wie wenig hier aber stringent argumentiert werden kann, zeigt die Tatsache, dass Lukas z. B. mehrfach das in griechischem Kontext vorchristlich nicht belegte Wort „Mammon“ gebrauchen kann, ohne es näher zu erläutern.

      Fehlende Erläuterungen des jüdischen Kontextes

      3.4 Ein judenchristlicher Verfasser in einer gemischten Gemeinde

      Starke Indizien

      Sind so die Argumente, die für einen heidenchristlichen Verfasser sprechen, doch weitgehend nicht durchschlagend, so ist aufgrund des in starkem Maße jüdisch geprägten Materials auf einen judenchristlichen Verfasser zu schließen. Sowohl aus dem Missionsbefehl an alle Völker als auch aus 21,43 f. kann geschlossen werden, dass der Evangelist und seine Gemeinde bereits Heidenmission treiben, wie auch 5,17–48 demonstrieren, dass das Verständnis des Gesetzes in der Gemeinde umstritten ist. Dabei fällt auf, dass Matthäus die gegensätzlichen Ansichten zum Gesetz dialektisch vermittelt, indem er auf der einen Seite Jesus ausdrücklich die Auflösung des Gesetzes ablehnen lässt und die Erfüllung des Gesetzes als Jesu Ziel beschreibt, darauf aber auf der anderen Seite sogleich mit den Antithesen fortfährt, deren Einleitungsformel gerade nicht die Kontinuität, sondern eher den Gegensatz zum Gesetz und seinen Interpretationen im Judentum hervorhebt. Ob man aus Mt 5,17 entnehmen kann, dass es in der matthäischen Gemeinde eine Gruppe gegeben hat, die wirklich die Aufhebung des Gesetzes vertrat, ist keineswegs so sicher, wie man gemeint hat, wohl aber, dass es Auseinandersetzungen um das Gesetz gab, die nicht nur durch in Gesetzesfragen laxere hellenistische Juden, sondern auch durch zum „Christentum“ übergetretene Heiden veranlasst sein können.

      Jüdisches Milieu

      Das jüdische bzw. judenchristliche Milieu des ersten Evangeliums ist eindeutig, es findet sich in allen Schichten, ist also sowohl für die dem Evangelisten zugängliche Tradition (z. B. Mt 2) als auch für ihn selbst zu veranschlagen. Nicht umsonst gleicht er redaktionell die Streitfrage um die Ehescheidung in 19,3b eng an die Problematik im Judentum an und formuliert bei der Frage nach der Weitergeltung des Gesetzes konservativer oder zumindest vorsichtiger als Markus. Auch die Nähe zu Rabbi Johanan ben Zakkai bei der Formulierung der Antwort auf die Frage nach der Ehescheidung spricht für einen eng im Judentum verhafteten Autor. Genaueres über den Verfasser lässt sich dem Evangelium nicht entnehmen, so lässt sich z. B. die Frage, ob er Aramäisch oder gar Hebräisch konnte, nicht eindeutig klären. Allerdings dürften er und seine Gemeinde schon über gewisse Erfahrungen mit dem Heidentum verfügen, wie z. B. die im Judentum nicht übliche Schuldhaft in 5,25 f. (vgl. auch 18,30) und die Ablehnung der heidnischen Praxis in 6,7.32 zeigen.

      Gemischte Gemeinden

      Wenn hier mit einer gemischten Gemeinde gerechnet wird, zu der Heiden als Vollmitglieder ohne Beschneidung gehören (s. a. oben unter 2), so wird die in jüngster Zeit wieder mehrfach auch im deutschsprachigen Raum vertretene These, die Gemeinde des Matthäus sei noch Teil des Judentums und habe sich von diesem also noch nicht getrennt, abgelehnt. Es sprechen einfach zu viele Indizien dagegen. Mt 21,43 ist alles andere als ein Indiz dafür, dass der Verfasser des Evangeliums Israel noch in seiner Rolle als schlechthinnigen Verheißungsträger sieht, und demgemäß kein Argument für ein Verbleiben der matthäischen Gemeinde