Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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auch die jeweilige Vorlage mit berücksichtigen müssen, weil der Interpretation damit eine wichtige Verstehenshilfe gegeben ist, die den Blick für allein am Text nicht Erkanntes öffnen kann. Allerdings ist die Frage nach dem genauen Verhältnis von innertextlicher Analyse und Quellenvergleich schwierig und umstritten. So erhellend der Vergleich mit der Markusvorlage auch ist, so wenig wird Matthäus sich Leser vorgestellt haben, die sein Werk immer auf der Matrix des Markusevangeliums lesen. Insofern muss das Evangelium auch in sich selbst lesbar und aus sich selbst verstehbar sein. Der Blick auf die Änderungen an der Markusvorlage kann u. U. auch eine Gefahr bedeuten, insofern die Aufmerksamkeit für die vom Autor gesetzten innertextlichen Signale und für die matthäische Gesamtkonzeption geschwächt wird.

      Für das Verständnis des Matthäus- und Lukasevangeliums ist aufgrund der Anlehnung an das Markusevangelium und die Logienquelle Q für das Textverständnis nicht nur eine Beschäftigung mit dem Text selbst, sondern auch eine vergleichende Lektüre mit den Quellengeschichten wichtig.

      Die Redeabschlussformel

      Schon eine erste Durchsicht des Matthäusevangeliums selbst zeigt, dass der Autor in sein Werk zahlreiche Verstehenssignale eingefügt hat, so z. B. wenn er den Abschnitt 4,23–9,35 mit derselben Formel beginnen und enden lässt und so eine Inklusion schafft. Am deutlichsten ist dieses Signal jeweils am Ende der fünf von ihm geschaffenen Redekomplexe, die der Evangelist mit einer Formel beendet, die im Griechischen viel voller klingt, als dies in der Einheitsübersetzung der Fall ist: „Und es geschah, als Jesus (diese Reden) beendet hatte“ (Mt 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1). Dieses wiederholende Element ist so auffällig und unübersehbar, dass man es als bewusst gesetzt verstehen muss. Deswegen ist es auch immer wieder als Gliederungssignal verstanden und mit Hilfe der Fünfzahl den Reden eine besondere Bedeutung (z. B. Anlehnung an die fünf Bücher Moses, das Matthäusevangelium als neuer Pentateuch) zugewiesen worden. Aber dass der Evangelist trotz der von ihm eindeutig bewusst gewählten Formel damit kein Merkmal zur Gliederung des Stoffes geben will, zeigt zum einen der eher verbindende, denn abtrennende Inhalt dieser Redeabschlüsse und zum anderen die Tatsache, dass eine dieser Formeln innerhalb des durch die gleichen Formulierungen in 4,23 und 9,35 sich als zusammengehörig erweisenden Abschnittes steht. Man wird also gut daran tun, diese Abschlussformeln der größeren Reden, die übrigens nicht bei allen Reden begegnen, nicht in jedem Falle als Gliederungsmerkmale zu verstehen. Ihre Funktion dürfte vielmehr sein, den Worten Jesu, die Matthäus auch sonst, z. B. im Erzählstoff, besonders hervorhebt, Nachdruck zu verleihen. Nicht umsonst legt der Evangelist dem auferstandenen Jesus die Worte in den Mund: „und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ (28,20) und nimmt damit auf seine Reden Bezug.

      Die Quellen der Reden

      Diese Reden sind von Matthäus, wie man leicht durch einen Blick in die Synopse feststellen kann, durch die Zusammenfügung von Material aus der Logienquelle Q, aus dem Markusevangelium und von Sondermaterial zum großen Teil selbst gestaltet worden. Ansätze zu solchen Sammlungen von thematisch zusammengehörigem Material, wie sie sich bei Matthäus in den Reden finden, waren auch schon bei Markus zu erkennen, der in 2,1–3,6 Streitgespräche, in 4,1–34 Gleichnisse und in 4,35–5,43 Wundergeschichten zusammen überliefert und dabei möglicherweise schon auf vormarkinische Sammlungen zurückgreift. Bei Matthäus hat sich dieser Trend zur Bildung von thematischen Blöcken noch verstärkt, wie man durch einen Vergleich seines Gleichniskapitels mit dem des Markus erkennen kann, denn dort fügt Matthäus eine ganze Reihe kleinerer Bildreden in das markinische / vormarkinische Gleichniskapitel (Mt 13/Mk 4) ein. Diese Tendenz ist aber auch an den übrigen Reden erkennbar, stellen diese doch Weisungen Jesu (5–7), die Anweisungen an die Jünger zur Aussendung (10), Gemeindeweisungen (18) und Ausführungen wider die Pharisäer sowie eschatologische Abschnitte (23–25) zusammen. Auffällig ist allein der Umstand, dass Matthäus seine die Reden betonende Abschlussformel nicht auch zwischen Mt 23 und 24 eingefügt oder sonst einen Übergang zwischen diesen beiden Reden geschaffen hat, um die Differenz der antipharisäischen von der eschatologischen Rede zu markieren.

      Keine Gliederungssignale

      Wirklich gliedernde Signale hat der Autor wohl nicht gesetzt, es ging ihm mehr um den Zusammenhang als um Strukturierung mit Hilfe von Segmentierung. Aufgrund dessen weichen die vorgeschlagenen Gliederungsversuche auch erheblich voneinander ab, lassen sich wie auch schon beim Markusevangelium meistens von inhaltlichen Merkmalen leiten und sind teilweise auch stark am Markusevangelium orientiert. Die bei den Gliederungsversuchen bestehenden Schwierigkeiten kann man sich sehr schön daran verdeutlichen, dass viele solcher Versuche mit 4,17 und 16,21 jeweils einen neuen Hauptabschnitt beginnen lassen, weil in beiden Versen die gleiche Formulierung begegnet. Dabei kann dann der ebenfalls gleichen und eine Inklusion schaffenden Formulierung in 4,23 und 9,35 natürlich nicht die gleiche Bedeutung zugewiesen werden, und das Problem, ob die in 4,17 und 16,21 gewählte Formulierung „Von da an begann Jesus …“ nicht eher verbindenden denn trennenden Charakter trägt, wird überspielt. Immerhin kann dieses Sätzchen exklusiv, also trennend, aber auch inklusiv, also als den Zusammenhang mit dem Vorangehenden betonend, verstanden werden. Aber auch 4,23 und 9,35 sind als Gliederungssignale keineswegs eindeutig, insofern das in 4,23 signalisierte Neue noch nicht unmittelbar in 4,24 f., sondern erst in 5,1 beginnt und der auf 9,35 folgende Text ebenfalls noch deutlich überleitenden Charakter trägt. Das Neue beginnt erst in 10,1.

      Die folgende Gliederung des Evangeliums versucht, formale und inhaltliche Merkmale zu berücksichtigen.

1,1–4,16Kindheitsgeschichten und Vorbereitung des Auftretens Jesu
1–2Die Kindheitsgeschichten
3,1–4,11Johannes der Täufer, Taufe und Erprobungen Jesu
4,12–16,20Jesu öffentliches Wirken in Galiläa und Umgebung
4,12–25Der Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu und die Berufung der ersten Jünger
5–7Die Bergpredigt
8–9Jesus, der Messias der Tat: Erster Zyklus von Machtaten und Einzellogien
10,1–11,1Die Berufung der Zwölf und die Aussendungsrede
11,2–12,30Zunehmende Auseinandersetzungen, weitere Machttaten und Streitgespräche
13,1–52Die Gleichnisrede am See Genesareth
13,53–16,12In Galiläa um den See Genesareth: Weitere Auseinandersetzungen und Machttaten
16,13–20,34Jesus auf dem Weg von Caesarea Philippi nach Jerusalem
16,13–17,27Das Petrusbekenntnis und die echte Nachfolge
18,1–35Die Gemeinderede
19–20Auf dem Weg nach Jerusalem
21,1–28,20Letzte Tage in Jerusalem, Tod und Auferstehung Jesu
21–22Einzug, Tempelaktion und Auseinandersetzungen mit Jerusalemer Gegnern
23. 24–25Die Pharisäerrede und die Endzeitrede Jesu
26–27Passion, Tod und Begräbnis Jesu
28Die Auffindung des leeren Grabes und die Ostererscheinungen Jesu in Jerusalem und in Galiläa (sog. „Missions- und Taufbefehl“)

      2.1 Kenntnis weiterer Stoffe

      Der wichtigste Grund für den Autor des ersten Evangeliums, den wir traditionsgemäß Matthäus nennen, sich an die Arbeit zu machen, dürfte die Kenntnisnahme des Markusevangeliums gewesen sein. Zwar kann die Gattung Evangelium damals auch quasi in