Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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allem seine eigene Gemeinde im Blick hatte, wissen wir nicht. Dass er auch für sie geschrieben hat, ist von vornherein wahrscheinlich, dass er ausschließlich für sie geschrieben hat, ist angesichts der literarischen Eigenart seines Werkes weniger naheliegend, was nun wiederum nicht meint, dass er sein Erzählwerk von vornherein als bevorzugtes Instrument der weltweiten Verkündigung des Evangeliums, von der er ja selbst zweimal spricht, angesehen hat.

      Die angezielte Leserschaft

      Da Markus sich entschieden hat, keinen Brief, sondern ein Evangelium zu schreiben, und dies mit Hilfe der in seiner Gemeinde umlaufenden und auch sonst erreichbaren Traditionen zu tun, kann er durchaus von Anfang an eine Leserschaft angezielt haben, die weit über den Rahmen seiner Heimatgemeinde hinausging, ja, angesichts der Tatsache, dass er der Erste war, der die Traditionen umfassend zu sammeln versuchte, kann die Absicht, ein Werk für die ganze Kirche zu schreiben, jedenfalls nicht von vornherein völlig ausgeschlossen werden. Denn das, was Markus für die Einzelperikope akzeptiert (Mk 14,9), könnte er durchaus auch auf sein Werk übertragen haben (Mk 13,10).

      Die Perspektive des Markusevangeliums geht über die Gemeinde des Verfassers hinaus und schließt möglicherweise die ganze Kirche ein.

      Fortsetzung hinter Mk 16,8?

      Die Bibelausgaben und-Übersetzungen bieten zwar hinter Markus 16,8 noch weiteren Text, es wird aber immer darauf hingewiesen, dass es sich dabei nach Ausweis der ► Handschriften um eine spätere Hinzufügung handelt, die im zweiten Jahrhundert entstanden sein dürfte, wenn auch ihre älteste textliche Bezeugung wesentlich jünger ist.

      Dass auf die Flucht der Frauen vom Grabe Jesu keine Fortsetzung mehr erfolgt sein soll, ist nicht nur angesichts der Fortsetzungsberichte der ► Seitenreferenten, sondern auch innerhalb der Erzählung des Markus überraschend. Denn der Engel erteilt den Frauen im Grabe ausdrücklich den Befehl, die Jünger von der bevorstehenden Erscheinung des Auferstandenen in Galiläa in Kenntnis zu setzen, und auch der irdische Jesus hat in 14,28 auf ein Treffen nach der Auferstehung in Galiläa verwiesen.

      Deswegen wurde im Laufe der Forschung immer wieder eine ursprüngliche Fortsetzung postuliert, die im Laufe des Überlieferungsprozesses verloren gegangen sein sollte, und es wurden auch immer wieder Rekonstruktionen dieses angeblich verlorenen Markusschlusses vorgelegt. Jedoch ist der Verlust eines Blattes in den ältesten ► Handschriften genau an dieser Stelle, wo ja die Perikope von der Auffindung des leeren Grabes mindestens zu einem gewissen Abschluss gekommen ist, sehr schwer zu erklären, zumal dieser Verlust schon sehr früh, zumindest vor der Abfassung des Matthäus- und Lukas Evangeliums, erfolgt sein müsste, da die Seitenreferenten hinter Mk 16,8 erkennbar eigene Wege gehen und offensichtlich in ihrer Mk-Quelle für diese Fortsetzung keinen Stoff mehr gefunden haben. Der an sich überraschende Schluss mit dem Ungehorsam der Frauen gegenüber dem Engelbefehl ist dann weniger überraschend, wenn man darauf achtet, wie sehr der Evangelist innerhalb seines Werkes Widersprüche zwischen Schweigen und Reden schafft (vgl. dazu unten 11.1.1)

      Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass der ursprüngliche Text des Markusevangeliums mit 16,8 endete und dass der Ungehorsam der Frauen gegenüber dem Befehl des Engels vom Evangelisten bewusst gestaltet wurde. Ohne die auf die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes bei Matthäus und Lukas folgenden Erscheinungserzählungen hätte wohl niemand eine Fortsetzung des Markusevangeliums hinter 16,8 erwartet.

      Welche Quellen dem Verfasser des Markusevangeliums schriftlich vorgelegen haben, ist nach wie vor umstritten, aber hinsichtlich einiger Kapitel gibt es doch weit verbreitete Zustimmung, dass Markus hier auf eine vormarkinische Sammlung zurückgreifen konnte.

      Das gilt vor allem für die Sammlung der Streitgespräche in 2,1–3,6, für die Gleichnisse in Kap. 4, natürlich mit Ausnahme von 4,11 f., für das Spruchmaterial in 10,1–12.17–27.35–45 und Teile der Passionsgeschichte, wobei man sich in der Regel auf 14–16 beschränkt und der von R. Pesch u. a. in seinem Markus-Kommentar vertretenen Ansicht, Markus benutze bereits ab 8,27 ff. weitestgehend eine ihm vorliegende, sehr alte und aus der Jerusalemer Urgemeinde stammende Passionsgeschichte, nicht folgt. Darüber hinaus kommen auch die Wundergeschichten in 4,35 ff. und Teile der synoptischen Apokalypse (s. o. Nr. 4.3) als Teile vormarkinischer Sammlungen in Frage.

      Selbst neuere Arbeiten, die die Einheitlichkeit des Stiles des zweiten Evangeliums und die daraus resultierende Schwierigkeit, die dem Evangelium zugrunde liegenden Quellen noch erheben zu können, betonen, gehen nicht davon aus, dass der Evangelist sein Werk ohne Quellen verfasst hat.

      Ur- oder Deuteromarkus

      Auch heute noch wird in der Forschung, wie beim Problem der synoptischen Frage kurz erwähnt, gelegentlich die Annahme vertreten, nicht der Verfasser des uns heute vorliegenden Markusevangeliums habe als erster die Gattung Evangelium geschaffen, sondern er habe bereits einen Vorgänger gehabt.

      Für diese Annahme stützt man sich vor allem auf die Übereinstimmungen zwischen den Evangelien des Matthäus und Lukas gegen Markus im mit dem Markusevangelium gemeinsamen Stoff (also auf die sog. „kleineren Übereinstimmungen“) und auf die sog. „große“ oder „lukanische“ Lücke im Lukasevangelium, in der Mk 6,45–8,26 ausgelassen sind und die Lukas in seiner Markusvorlage deswegen nicht gefunden haben soll.

      Da jedoch auch die Urmarkus-Hypothese nicht in der Lage ist, diese kleineren Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus im mit Markus gemeinsamen Stoff, zu erklären und zudem das Urmarkus-Exemplar des Lukas von dem des Matthäus noch abgewichen sein muss, wenn die Urmarkushypothese das Fehlen von Mk 6,45–8,26 nur bei Lukas erklären soll, verzichtet man besser auf die Annahme dieser weiteren Unbekannten.

      Dasselbe gilt, wenn man statt eines Urmarkus als Vorlage für die ► Seitenreferenten einen sog. Deuteromarkus, also eine veränderte Neuausgabe des Markusevangeliums, annimmt. Auch dessen Annahme hat sich, obwohl sie immer wieder und aufgrund des vehementen Eintretens von A. Fuchs vertreten wird, bislang nur gelegentlich durchsetzen können (s. dazu § 3 Nr. 6.2).

      Der Zuschreibung des Werkes an einen gottesfürchtigen Frommen aus der Umgebung einer Synagoge widerspricht auch die Sprache des Evangeliums nicht. Wie schwierig das Griechisch des zweiten Evangeliums zu beurteilen ist, kann man an der unterschiedlichen Beurteilung seiner Sprachfertigkeit erkennen.

      Unterschiedliche Beurteilungen der Sprache des Mk

      Auf der einen Seite kann der Autor aufgrund seiner aus den Übersetzungen erschlossenen Hebräisch-/Aramäisch-Kenntnisse und mancher Eigenarten seines Sprachgebrauchs als in Palästina geborener Jude deklariert werden, andererseits kann er aber auch wegen seines im übrigen doch einigermaßen flüssigen, wenn auch gelegentlich als barbarisch bezeichneten und doch wiederum der Übersetzung der ► Septuaginta überlegenen Griechisch als schon lange in der griechisch sprechenden Diaspora lebend angesehen werden.

      Nun finden sich aber eine ganze Reihe von Eigenarten des markinischen Griechisch durchaus auch in nicht semitisch beeinflusster Volksliteratur, und als semitisch beeinflusst geltende Sprach-Merkmale des zweiten Evangeliums lassen sich in nicht geringer Zahl ebenfalls in dieser Literatur nachweisen. Sprache, Komposition und inhaltliche Bearbeitung des Evangelien-Stoffes durch Markus sind im Verhältnis zum sicher nicht semitisch beeinflussten ► Alexanderroman sogar als feinfühliger und geschickter bezeichnet worden. Von daher ist die Zuschreibung des Markusevangeliums an einen Autor semitischer Muttersprache keineswegs mehr so sicher wie einige Zeit angenommen. Dies gilt umso mehr, als andere Autoren der Meinung sind, ein längerer Aufenthalt des Markus in Palästina genüge, um die Übersetzungen und Anklänge an ► Semitismen zu erklären, zumal wir auf die Notwendigkeit solcher Übersetzungen auch schon in der vormarkinischen Tradition hingewiesen haben.

      Die Sprache des Evangelisten wird in der neueren Literatur als einheitlicher angesehen als früher, wo man noch die Zuversicht hatte, zwischen der Hand des Evangelisten und seinen Quellen unterscheiden und sauber zwischen Redaktion und Tradition trennen zu