Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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Verfasser des zweiten Evangeliums?

      Gründe für die Entstehung des Papiaszeugnisses

      So überzeugend die Hinweise aus dem zweiten Evangelium gegen die Verfasserschaft des Johannes Markus aus Jerusalem insgesamt sind, so sehr leiden diese Einwände daran, dass sie die Entstehung der Zuweisung dieses Evangeliums an Markus, den Dolmetscher des Petrus, in der Alten Kirche nicht erklären können. Diese Tradition muss ja ihren Grund haben. Angesichts dieses Mangels muss die Frage gestellt werden, ob sich nicht wenigstens noch ansatzweise Gründe finden lassen, die zum Zeugnis des von Papias überlieferten ► Presbyters Johannes geführt haben und die dessen Entstehung verständlich machen können.

      Petrus und Markus (zu IPetr 5,13)

      Wir können diese Frage nicht im Detail beantworten, aber wir stehen auch nicht völlig ratlos vor ihr. Denn Petrus, Rom und Markus werden auch schon in dem zweifellos nicht von Petrus stammenden Ersten Petrusbrief zusammengebracht. Da dieser Brief ► pseudepigraphisch (d. h. unter falschen Namen) geschrieben ist, der Verfasser sich also die Autorität des Petrus leiht, um seinem Schreiben größere Durchsetzungskraft zu verleihen, muss hinter der Erwähnung in 1 Petr 5,13 die Kenntnis eines engen Verhältnisses zwischen Petrus und seinem „Sohn“ Markus stehen. Dieser Markus muss der Gemeinde des anonymen Verfassers des Ersten Petrusbriefes und den Gemeinden der Empfänger dieses Briefes nicht notwendig bekannt gewesen sein, aber dass Petrus einen „Sohn“ – in welchem Sinne auch immer – mit Namen Markus gehabt hat, setzt dieser Text als weithin verbreitete Tatsache voraus. Alles andere würde dem gewählten pseudepigraphischen Charakter des Schreibens widersprechen und wäre insofern kontraproduktiv.

      Wenn dieser Markus mit dem Johannes Markus der Apostelgeschichte und insoweit mit dem Markus der paulinischen Tradition identisch ist, wissen wir nicht, wann dessen Wechsel von Paulus zu Petrus erfolgt ist. In jedem Falle aber haben wir in 1 Petr 5,13 ein Zeugnis der Verbundenheit von Petrus und einem Markus, das entweder das Zeugnis des Presbyters veranlasst haben könnte oder aber mit diesem auf einer gemeinsamen Tradition beruht.

      1 Petr 5,13 bezeugt, dass die Verbindung zwischen (einem) Markus und Petrus schon vor Papias bekannt war. Das relativiert die Bedeutung des Papiaszeugnisses für die Verfasserfrage des Markusevangeliums erheblich.

      Woher der Presbyter seine über 1 Petr 5,13 hinausgehenden Kenntnisse hat, lässt sich nicht mehr erkennen. Der dargestellte apologetische Charakter der Nachricht des Presbyters jedenfalls spricht nicht gerade dafür, dass wir es hier – was die Behauptung des Papias, Markus sei der „Dolmetscher“ des Petrus gewesen, angeht – mit einer historisch zutreffenden Überlieferung zu tun haben.

      Der Autor des Markus Evangeliums ist unbekannt. Er trägt nach der altkirchlichen Tradition den Namen Markus. Dieser Name wird auch in der Neuzeit weiterhin für den anonymen Verfasser gebraucht.

      Die Frage, ob der Verfasser ein Heiden- oder Judenchrist war, werden wir zusammen mit dem Problem der Zusammensetzung seiner Gemeinde erörtern (s. u. Nr. 5).

      4.1 Die Nachrichten aus der Alten Kirche

      Man kann auch die Erörterung dieses Problems mit Hilfe der Nachrichten aus der Alten Kirche zu lösen versuchen, da es einige Nachrichten aus dieser Zeit gibt, nach denen das Evangelium entweder noch zu Lebzeiten des Petrus oder nach dessen Tod verfasst worden sein soll. Es besteht aber Einmütigkeit unter den Exegeten, dass mit Hilfe dieser Nachrichten, die im übrigen weitgehend von dem oben angeführten Papiastext abhängig sein dürften, zu keiner weiteren Klarheit über die Abfassungszeit des Evangeliums zu gelangen ist.

      4.2 Die fortgeschrittene Entwicklung des Materials

      Markus und Q

      Einige allgemeine Beobachtungen führen zu einer nicht zu frühen, aber auch nicht zu späten Ansetzung. So weist die in dem Markus-Stoff erkennbare Weiterentwicklung gegenüber dem Stoff der Logienquelle Q (z. B. die Reflexion der Bedeutung des Leidens Jesu) auf eine spätere Abfassung als Q, die gegenüber den Evangelien des Matthäus und Lukas erkennbare, noch nicht so weit fortgeschrittene Entwicklung, dass z. B. von Kirchenordnung und Hierarchie noch nichts zu erkennen ist, auf einen zeitlichen Abstand zu diesen.

      Der Trennungsprozess zwischen „Kirche und Synagoge“

      Allerdings muss man mit solchen Parallelisierungen vorsichtig umgehen, da hierbei in der Regel eine ähnliche und gleichzeitige Entwicklung an allen Orten vorausgesetzt wird. Diese Annahme, die nicht einmal für die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts passt, widerspricht aber den noch in den Evangelien erkennbaren Tatbeständen. Denn trotz eines in der Regel nicht als unerheblich angesehenen zeitlichen Abstandes zwischen der Abfassung des Matthäus- und des Johannesevangeliums haben beide die Trennung vom Judentum hinter sich und das Johannesevangelium erweckt den Eindruck, als säßen die Wunden dieser Trennung noch tief und wären noch nicht vernarbt. Die Trennung vom Judentum dürften die Gemeinden des Matthäus und des Johannes also durchaus zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt vollzogen haben, so dass der in den Evangelien sich jeweils spiegelnde Entwicklungsstand der Gemeinden nicht einfach nach dem Schema: „weiterentwickelt, also später“ gedeutet werden darf. Es ist vielmehr mit unterschiedlichen Entwicklungen in einzelnen Orten zu rechnen. Von daher sind die angeführten Vergleichsargumente mit Q und den ► Seitenreferenten des Markus nur mit Vorsicht zu verwenden.

      Frühdatierung des Markusevangeliums?

      Auf eine nicht allzu frühe Entstehungszeit weist Mk 10,35 ff. hin: die beiden Zebedäussöhne Jakobus und Johannes dürften zur Zeit der Abfassung des Evangeliums bereits gestorben sein. Da Johannes beim Apostelkonzil eine wichtige Rolle innehatte (vgl. Gal 2,9), scheiden die auch in jüngster Zeit wieder vertretenen Frühansetzungen des Evangeliums in den 30er oder 40er Jahren aus. Auch der Umstand, dass die Verkündigung des Evangeliums von Jesus bereits weltweit geschieht (Mk 13,10;14,9), dass das jüdische Gesetz kein grundsätzliches Problem mehr darstellt (Mk 7) und die Parusieverzögerung ebenfalls bereits ihre Spuren im Evangelium hinterlassen hat, wenn auch das Problem im zweiten Evangelium keineswegs so groß ist wie etwa im Matthäusevangelium (vgl. Mk 13,30;9,1;13,32 mit Mt 25,1–13), spricht gegen eine Frühansetzung. Gleichwohl lassen alle diese Hinweise einen weiten Spielraum für die Abfassungszeit des Markusevangeliums.

      4.3 Die Endzeitrede Mk 13 und die Datierung des Markusevangeliums

      Hier vermag nach einer auffälligen Übereinstimmung unter den Exegeten nur die sogenannte synoptische Apokalypse (Mk 13) zu weiterer Konkretisierung zu verhelfen und diese verweist auf eine Abfassungszeit des Evangeliums um die Zeit des Jüdischen Krieges. Konkret geht es um die Frage, ob der Text Mk 13 bereits auf das Ende des Jüdischen Krieges und damit auf die Zerstörung Jerusalems zurückschaut oder ob der Text Signale enthält, dass dieser Krieg noch Gegenwart ist.

      Mk 13 und der jüdische Krieg

      Über diese Frage dauern die Kontroversen seit Generationen an. Während die einen sich sicher sind, dass Mk 13,2 nur als vaticinium ex eventu, d. h. als eine fiktive Prophezeiung, die bereits auf das vorhergesagte Ereignis zurückblickt, zu verstehen ist, und der Verfasser des Markusevangeliums so bereits die Zerstörung Jerusalems kennt und voraussetzt, halten die anderen den Zeitpunkt der Zerstörung Jerusalems in Mk 13 noch für zukünftig, den Krieg aber für bereits in vollem Gange. Vergleicht man die Berichte des Flavius Josephus und des Dio Cassius über die Einnahme des Tempels und die Zerstörung Jerusalems, so legt sich die Annahme eines vaticinium ex eventu in der Tat nicht nahe, und es dürfte auch nicht von ungefähr kommen, dass Lukas das Motiv von Mk 13,2 erweitert und auf die ganze Stadt Jerusalem bezogen hat. Für die Bewertung dieses Tempelwortes spielt auch eine Rolle, dass entsprechende Weissagungen im Alten Testament und im Judentum zahlreich vorhanden sind (vgl. 1 Kön 9,7 f.;Jer 7,14;26,6.9.18;Mich 3,12;äHen 90,28). Vor nicht geringere Schwierigkeiten stellt die zweite zur Datierung des Markusevangeliums immer wieder herangezogene Stelle, Mk 13,14. Hier bereitet schon die Deutung erhebliche Probleme, weswegen auch hier nicht eindeutig ein vaticinium ex eventu zu identifizieren ist.

      Krieg und Endzeit

      Nimmt man aber den Bezug des Gesamttextes auf den Jüdischen Krieg wirklich ernst, d. h. führt seine Entstehung auf die Zeit des