Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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die Urgemeinde und ihre Ansichten zu den Evangelien hineinführt.

       „Auch dies lehrte der Presbyter: Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht der Reihe nach, aufgeschrieben. Denn er hatte den Herrn nicht gehört und begleitet; wohl aberfolgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.“ (Eusebius, Kirchengeschichte III 39,15 in der Übersetzung von Ph. Haeuser, neu durchgesehen von H. A. Gärtner. Zu der Interpretation dieses Zeugnisses durch J. Kürzinger vgl. unten § 6 Nr. 3.5.1)

      Der Dolmetscher Petri?

      Die Frage, wie das in dieser Übersetzung mit „Dolmetscher“ wiedergegebene griechische Wort zu verstehen ist, ist in der Literatur heftig diskutiert worden, und man hat gefragt, ob Petrus denn wirklich auf einen Übersetzer angewiesen war. Wenn man Jesus die Kenntnis des Griechischen abspricht, kann man sie Petrus freilich nicht einfach zusprechen, obwohl Petrus sich das Griechische auch noch während seiner Missionstätigkeit angeeignet haben kann.

      Der apologetische Charakter des Papiaszeugnisses

      Unbeschadet der Auslegungsschwierigkeiten dieses Textes ist der apologetische Charakter dieses Zeugnisses doch offensichtlich. Der Verfasser dieser Nachricht verspürt für jeden Leser deutlich erkennbar die Notwendigkeit, die Zuverlässigkeit des Markusevangeliums gegen Angriffe zu verteidigen, kann dabei aber gleichzeitig den Tatbestand einer gewissen Unordnung nicht bestreiten.

      Er wählt deswegen eine andere Strategie zur Verteidigung des Markusevangeliums: Diese Unordnung ist, anders als die Kritiker meinen, nach Ansicht des Papias eher als Zeugnis für die Authentizität des Evangeliums als gegen diese zu werten, wenn man sich nur die Entstehungsverhältnisse klar macht! Es handelt sich eben nicht um den Bericht eines Augenzeugen, sondern um Erinnerungen an die Predigten des Petrus, und diese waren nicht systematisch oder historisch geordnet, sondern waren nach den Bedürfnissen der Zuhörer gestaltet.

      Auf diese Weise leistet der Hinweis des Papias ein Doppeltes: Er kommt den schon damals offensichtlich vorhandenen Kritikern entgegen, räumt ihnen teilweise die Berechtigung ihrer Kritik ein und ist gleichwohl in der Lage, das Werk des Markus und dessen Authentizität zu verteidigen.

      Wenn man nicht davon ausgehen will, dass es im zweiten Jahrhundert, also zur Zeit des Papias, noch Menschen gegeben hat, die für sich eine unmittelbare Kenntnis der Jesusgeschichte beanspruchten, worauf im übrigen nichts hinweist, dann muss man fragen, auf welchem Hintergrund diese Kritik am Werk des Markus, die sich auf dessen (Un-)Ordnung bezieht, vorgetragen wird. Was war der Maßstab der Kritiker, von woher konnten sie sagen, das Markusevangelium entspreche nicht der richtigen Reihenfolge? Wahrscheinlich spielen die nicht geringen Divergenzen zwischen den Evangelien des Matthäus und Markus hier hinein, und das „kirchliche“, weil in der Kirche von Anfang an besonders beliebte Matthäusevangelium gibt den Maßstab ab, an Hand dessen das Markusevangelium, das im übrigen in der Alten Kirche immer nur auf geringes Interesse gestoßen ist, als weniger der Ordnung entsprechend angesehen wird.

      Die Lösung des Presbyters

      Mit dem Hinweis auf die Predigten des Petrus unterläuft der ► Presbyter geschickt den Vorwurf der Unordnung und setzt das Markus- wie das Matthäusevangelium gleichermaßen als zuverlässig ins Recht. Das Matthäusevangelium biete die zutreffende Ordnung der Worte und Taten Jesu, während das Markusevangelium ein Erinnerungswerk sei, das auf den Predigten des Petrus basiert und schon von daher – eine freilich andere – Authentizität atmet.

      3.2 Moderne Versuche, das Zeugnis des Papias zu kontrollieren

      Das Zeugnis des Papias ist in der Forschung nun immer wieder in der Hoffnung einer intensiven Nachprüfung unterzogen worden, dieses kontrollieren und die Identität des von Papias genannten Markus feststellen zu können.

      Das Ergebnis dieser Bemühungen ist freilich sehr unterschiedlich. Ist das Papiaszeugnis nach Meinung der einen praktisch wertlos und verdankt es seine Existenz überhaupt nur dogmatisch-ideologischen Interessen, so ist nach anderen dieses Zeugnis zuverlässig. Das Überleben des Markusevangeliums nach der Abfassung des Matthäusevangeliums ist nach diesen Autoren nur verständlich, wenn es von Anfang an mit der Autorität des Petrus in Verbindung stand. Diese Nähe des zweiten Evangeliums zu Petrus findet sich übrigens nicht nur bei Papias, sondern auch in anderen Zeugnissen der Kirchenväter.

      3.2.1 Der (Johannes) Markus des Neuen Testaments

      Markus: Ein Jerusalemer Judenchrist?

      Bei der Auswertung des Papiaszeugnisses spielt eine erhebliche Rolle, dass im Neuen Testament selbst an verschiedenen Stellen ein Markus genannt wird, und an einer Stelle sogar ein Markus in enge Beziehung zu Petrus gebracht ist: 1 Petr 5,13 (eine Stelle übrigens, die Papias gekannt haben dürfte, vgl. Eusebius, Kirchengeschichte III 39,17). Der dort genannte „Sohn“ des Petrus wird in der Literatur – ob zu Recht oder zu Unrecht, kann hier zunächst einmal dahingestellt bleiben – sowohl mit dem in einigen (z. T. sekundär unter dem Namen des Paulus verfassten) Briefen erwähnten Markus (Kol 4,10;2 Tim 4,11;Philm 24) als auch mit dem in Apg 12,12.25;15,37.39 mehrfach genannten, aus Jerusalem stammenden und mit Paulus und Barnabas in Zusammenhang stehenden Johannes Markus identifiziert, obwohl diese Identifikation des Verfassers des Markusevangeliums mit dieser Person gleichen Namens in der altkirchlichen Literatur nirgendwo vorgenommen wird. Setzt man diese Identifikation voraus, kann man trefflich die Korrektur-Frage stellen, ob der Verfasser des zweiten Evangeliums ein aus Jerusalem stammender Jude sein kann.

      3.2.2 Die geographischen Angaben im Markusevangelium und der Autor des zweiten Evangeliums

      Kenntnis der Geographie Palästinas?

      Die Klärung dieser Frage wird mit Hilfe verschiedener Überlegungen versucht, z. B. wird gefragt, ob der Verfasser des zweiten Evangeliums sich in der Geographie Palästinas und Galiläas auskennt, ob er die jüdischen Bräuche einwandfrei beschreibt und ob er noch eine Kenntnis der aramäischen Sprache erkennen läßt – all das wäre ja von einem Jerusalemer Judenchristen zu erwarten. Die Geographie-Kenntnisse Galiläas und Jerusalems auf seiten des Markus werden dabei häufig recht kritisch betrachtet, weil Markus in der Tat an einigen Stellen Jesus eine zumindest merkwürdige Wegstrecke zurücklegen lässt.

      In dieser Hinsicht berühmt ist z. B. die Stelle Mk 7,31, die wirklich eine auffällige Zickzacklinie beschreibt, die man für die deutsche Geographie mit der Übersetzung verdeutlicht hat: „von Darmstadt über Frankfurt nach Mannheim mitten durchs Neckartal“ bzw., wenn man es lieber in europäischem Maßstab will: „von Madrid über Paris und Wien nach Rom“. Oder man hat auf Mk 5,1 hingewiesen, wonach Gerasa direkt am See Genesareth gelegen haben soll, was aber mitnichten der Fall war. Führen so eine Reihe von Angaben im Evangelium dazu, dem Verfasser eine gute Kenntnis der Geographie Galiläas abzusprechen, so traut man ihm aufgrund der falschen Reihenfolge in 11,1 – auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem kommt man erst nach Bethanien und dann nach Bethphage – trotz der zutreffenden Angabe von dem dem Ölberg gegenüberliegenden Tempel in 13,2 – auch keine Kenntnis der Geographie Jerusalems zu, so dass von daher gewichtige Argumente gegen den aus Jerusalem stammenden Johannes Markus als Verfasser unseres Evangeliums angeführt werden können.

      Aber so eindeutig sind die aus diesen Stellen sich ergebenden Konsequenzen durchaus nicht, da wir kaum davon ausgehen können, dass auch die gebildetsten Menschen – und dass der Autor des zweiten Evangeliums zu diesen gerechnet werden muss, unterliegt keinem Zweifel! Es war nicht der schon in der Alten Kirche hochgeschätzte Matthäus, der die Literaturgattung Evangelium geschaffen hat, sondern Markus – damals alle zureichende geographische Kenntnisse hatten. Ein Einwohner Jerusalems muss nicht notwendig exakte Kenntnisse der Örtlichkeiten Galiläas gehabt haben, und aus der angeblich falschen Reihenfolge in Mk 11,1 kann man m. E. nicht einfach auf eine Unkenntnis der Örtlichkeiten Jerusalems schließen, da diese Stelle auch als bloße Aufzählung und nicht als exakte Reihenfolge gemeint