Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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obwohl die Verfasser häufig weitgereist waren, um sich kundig zu machen und die genaue Kenntnis der Örtlichkeiten und Traditionen als wichtige Voraussetzung für ihre Arbeit nennen.

      3.2.3 Die Beschreibung jüdischer Bräuche im Markusevangelium und der Autor des zweiten Evangeliums

      Intime Kenntnis des Judentums?

      Ob das gleiche Urteil auch für den Hinweis gelten kann, Markus lasse ein gewisses Unverständnis für jüdische Bräuche erkennen, z. B. wenn er in 7,3 alle Juden nur mit rituell gewaschenen Händen zum Essen gehen lässt, ist schwierig, weil sich hier zugleich die Frage nach dem Verhältnis des Markus zu seinem Material stellt. Fühlte der Verfasser des zweiten Evangeliums sich verpflichtet, alle Unschärfen, die seine Quellen enthielten, zu verbessern, wenn er sie erkannte? Steht hinter einer solchen Ansicht nicht eher das moderne, vor allem auf historische Exaktheit bedachte, der Antike bzw. zumindest den Evangelisten so aber gar nicht geläufige Denken? Anders wäre die Stelle freilich zu beurteilen, wenn Markus an dieser Stelle die erläuternden Bemerkungen selbst eingefügt hätte. Eine solche Unschärfe wäre einem Jerusalemer Judenchristen in seinen erläuternden Bemerkungen wohl kaum unterlaufen.

      Ähnliches gilt m. E. für 10,12, wo Markus Jesus eine Scheidungsmöglichkeit auch für die Frau in den Mund legt, was damals im palästinischen Judentum nach unserer gegenwärtigen Kenntnis kaum möglich gewesen ist. Jedenfalls hat Josephus entsprechende Fälle deutlich als unjüdisch charakterisiert, und die in der Literatur angeführten Gegenbeispiele sind entweder spät oder von sehr begrenzter Aussagekraft. Auch im Blick hierauf wird man freilich nicht ohne weiteres die Verfasserschaft eines palästinischen Judenchristen ausschließen können, weil der Verfasser einfach die Praxis seiner Gemeinde wiedergeben kann, ohne auf ein historisches Wort Jesu und dessen jüdischen Kontext zu reflektieren. Der Verfasser hätte sich dann in dieser Hinsicht nicht anders verhalten als Matthäus, der in dieselbe Perikope eine Ausnahmeklausel einfügt, die sicher nicht von Jesus stammt.

      Aber kann man sich in allen Fällen mit der Rückführung der Unschärfe auf die Tradition, die den Verfasser nicht besonders interessiert haben soll, helfen? Hätte ein jüdischer Autor z. B. Mk 14,12 schreiben können, wo der erste Tag (= 15. ► Nisan) des Festes der ungesäuerten Brote, das auch Juden mit dem Pascha gleichsetzen konnten, mit dem Rüsttag auf Pascha gleichgesetzt wird, zumal durch eine kleine Korrektur die Sache hätte richtig gestellt werden können? So sehr man für das einzelne Versehen gute Entschuldigungsgründe anführen kann, so sehr spricht deren Menge doch entschieden gegen einen palästinischen Judenchristen, wenn man nicht zu Konstruktionen greifen will, die etwa lauten: die große zeitliche und räumliche Distanz des Markus zum Judentum im Jahre 70 n. Chr. mache diese Ungenauigkeiten erklärbar.

      3.2.4 Übersetzungen und ► Semitismen im Markusevangelium

      Ermöglichen es so die geographischen Angaben und die Schilderung jüdischer Bräuche nicht, die Verfasserschaft des Markusevangeliums durch einen palästinischen Judenchristen definitiv zu kontrollieren und zu einer völlig eindeutigen Entscheidung zu gelangen, so sprechen alle Merkmale zusammen genommen doch eher gegen als für die Verfasserschaft eines palästinischen Judenchristen. Eine Kontrollmöglichkeit dieses Befundes könnte evtl. in den Semitismen (9,5;11,21;14,45: Rabbi; 10,51: Rabbuni; 11,9.10: Hosanna) und den Übersetzungen (3,17;5,41;7,11.34;15,22.34, vgl. auch die Erklärung des Rüsttages in 15,42) liegen – wenn diese, wie häufig angenommen wird, vom Evangelisten stammen, dann war er des Hebräischen und Aramäischen mächtig, dürfte also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus Palästina stammen. Aber auch hier ist vor voreiligen Schlüssen zu warnen. Besagt der in der Tat beobachtbare Rückgang der Semitismen vom Markus- zum Matthäusevangelium etwas über die Sprachkenntnisse des ersten und zweiten Evangelisten, oder geht dieser Rückgang einfach auf das Fortschreiten der Tradition und die zurückgehende Bedeutung des palästinischen Raumes für die Urchristenheit zurück?

      Semitismen

      Das Vorkommen der Semitismen stellt vor allem ein Problem dar, wenn man für die mündliche Phase der Überlieferung „die Vorstellung einer festen Ausdrucksebene“ nicht annehmen will. Dann muss man nämlich die Frage stellen, warum Markus, der offensichtlich damit rechnet, dass ein zumindest wesentlicher Teil seiner Leser / Hörer das entsprechende Wort nicht versteht, dieses Wort überhaupt bringt und es anschließend übersetzt, wenn er die ihm mündlich überlieferten Traditionen in der Regel so frei wiedergibt, dass man seine Vorlagen nicht mehr erkennen kann. So sehr man Letzteres (vielleicht schon angesichts der Divergenz der Urteile über die zugrundeliegenden Quellen) zugeben muss, so wenig lässt sich das Problem der Semitismen mit der Annahme eines sehr freien Wortlauts der Quellen lösen.

      Man wird mit dem Hinweis auf die Semitismen umso vorsichtiger umgehen, als wir unglücklicherweise fast nichts über den Wechsel des Traditionsstoffes vom ursprünglich Aramäischen zum Griechischen wissen und diese Frage unberechtigterweise in der Forschung auch keine größere Rolle spielt. Der deutlich feststellbare Rückgang der semitischen Wendungen vom Markusevangelium über das des Matthäus und des Johannes zu dem des Lukas, welch letzterer solche überhaupt nicht mehr kennt, ist auch als Zeichen der Entfernung von der ursprünglich aramäischen Tradition zu verstehen, so dass die Tatsache, dass das älteste Evangelium sowohl absolut als auch im Verhältnis zu seiner Länge die meisten Semitismen enthält, in keiner Weise überraschen und keineswegs als Hinweis für eine semitische Muttersprache des Autors dieses Werkes interpretiert werden kann.

      Übersetzungen

      So bleiben allein noch die Übersetzungen – können sie Johannes Markus oder einen anderen Markus aus Palästina als Verfasser des Evangeliums retten? Aufgrund der gleichartigen Form ihrer Einleitung (3,17;7,11.34;15,42, vgl. auch 5,41 und 15,34), die auffälligerweise bei dem aus Palästina stammenden Juden Josephus nur ein einziges Mal begegnet und auch dort noch textlich unsicher ist (Ant. VII 3,2 § 67), kann man zu der Annahme neigen, diese müssten vom Endredaktor des Evangeliums stammen – aber eine über viele Zweifel erhabene Annahme haben wir damit nicht erreicht, da die Notwendigkeit, die in den zugrundeliegenden Traditionsstücken gebrauchten semitischen Termini den Zuhörern zu erläutern, auch schon vor der Integration dieser Stücke in das Evangelium bestand. Markus erhielt diese Traditionen bereits in griechischer Sprache und es spricht auch nichts dafür, dass er sie erstmalig aus einer judenchristlichen Umgebung in eine heidenchristliche übertrug. Angesichts der Tatsache, dass die Texte mit Sicherheit nicht erst von Markus ins Griechische übertragen, sondern schon längere Zeit in Griechisch überliefert wurden, ist es in keiner Weise einzusehen, wieso erst Markus die Notwendigkeit einer solchen Übersetzung empfunden haben soll, während in der Überlieferung vorher diese fremdsprachigen Termini unübersetzt geblieben sein sollen. Genau die gegenteilige Annahme ist wahrscheinlich. Die gleiche sprachliche Einleitung dieser Übersetzungen im Werk des Markus mag dann durchaus auf Markus zurückgehen, die eigentliche Übersetzung des Textes wird aber nicht von ihm stammen.

      Das Ergebnis unserer Überlegungen ist nicht zwingend. Die Gesamtheit der vorgetragenen Argumente weist aber in dieselbe Richtung: Der Verfasser des zweiten Evangeliums ist kein aus Palästina gebürtiger Judenchrist gewesen. Deshalb kommt der gelegentlich als Verfasser in Aussicht genommene Johannes Markus der Apostelgeschichte nicht in Frage.

      3.3 Die Bedeutung einer evtl. Augenzeugenschaft des Verfassers für das Verständnis des Markusevangeliums

      Augenzeugenschaft und die li terarische Eigenheit der Evangelien

      So schön es im übrigen wäre, wenn wir den Verfasser des Markusevangeliums genauer bestimmen könnten, so sehr muss doch auch darauf hingewiesen werden, dass selbst dann, wenn der Jerusalemer Zeuge der ersten Stunde, Johannes Markus, mit Sicherheit als Verfasser erwiesen werden könnte, damit unsere Erkenntnisse über die Evangelien und die Einsicht in ihren literarischen Charakter nicht verändert würden.

      Wir hätten auch dann weiterhin davon auszugehen, dass unsere Evangelien, also auch das des Markus, auf Tradition beruhen, die lange Zeit mündlich überliefert wurde und an den Gesetzmäßigkeiten solcher Überlieferung teilhatte, und dass das Ziel der Evangelien nicht historische Belehrung, sondern Stärkung und sekundär auch Weckung des Glaubens war.

      Die historische Glaubwürdigkeit des zweiten Evangeliums würde durch eine Zuweisung an den aus Jerusalem