Mauro selbst wurde angeschossen, überlebte jedoch. Schließlich wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Rafa kehrte an die Spitze zurück, und Mauro wurde als sein Stellvertreter eng eingebunden. In Mikaels Augen handelte es sich um einen wackeligen Waffenstillstand, der jeden Moment gebrochen werden konnte. Mikael hatte einen alten Kumpel bei La Doce angerufen, der sich noch an seinen kurzen Ruhm als bekanntester Hooligan von Buenos Aires erinnern konnte. Er hatte gesagt, dass Mauro sich bereiterklärt habe, uns am darauffolgenden Tag vor dem Boca-Spiel in Bajo Flores zu treffen. Im abschließenden Gruppenspiel der Copa Libertadores erwartete Boca zu Hause Athletico Paranaense. Boca hatte sich bereits für die K.-o.-Phase qualifiziert, doch für Mikael war es die Chance, in sein geliebtes Estadio Alberto L. Armando zurückzukehren, von allen zärtlich »La Bombonera« genannt. Und immerhin stand noch etwas nicht ganz Unwichtiges auf dem Spiel. Durch einen Sieg würde Boca Juniors in dieselbe Hälfte des Turnierfeldes wie River Plate gelangen, sodass die beiden im Halbfinale aufeinandertreffen konnten. Mauricio Macri lag falsch. Es musste nicht unbedingt 20 Jahre dauern, bis der Unterlegene sich von der Niederlage im superclásico-Finale der Copa Libertadores würde erholen können. Das Schicksal winkte Boca nach nicht einmal zwölf Monaten mit der Möglichkeit zur Vergeltung.
In einem westlichen Außenbezirk von Buenos Aires waren in beeindruckenden renovierten Räumlichkeiten drei Künstler an ihren Leinwänden beschäftigt. Aus dem Radio schallten System of a Down, und die Sprühdosen zischten. Der Geruch von Lösungsmitteln hing schwer in der Luft. An einer Wand widmete sich einer der Männer einem telon für San Lorenzo, einem riesigen weißen Banner, auf dem er gerade die Vorzeichnung von zwei Trommeln farbig ausarbeitete. Ein zweiter saß an dem Porträt von Eva Peron mit der argentinischen Flagge als Hintergrund, das für die hinchas der Nationalmannschaft bei der bevorstehenden Copa América in Brasilien bestimmt war. Der dritte verlieh für das anstehende Boca-Spiel einer kleineren Fahne in Blau und Gold mit dem Twitter-Hashtag der Boca-Juniors-Nachwuchsfans, @JuvenilXeneizes, den letzten Schliff. Pepe Perretta, der eine rote Truckermütze mit dem Aufdruck »Buenos Aires Aerografia« trug, erklärte: »Die ist nicht für La Doce, sondern für die normalen hinchas.« Er musterte die Arbeit seiner Leute mit einer unangezündeten Selbstgedrehten im Mund.
Die Frage nach dem Ursprung der riesigen Blockfahnen – der telon –, die bei Fußballspielen ganze Ränge verhüllen, ist bis heute ungeklärt. Doch über den momentan besten telon-Künstler der Welt besteht kein Zweifel. Pepe Perretta hat mehr als 100 dieser Monumentalwerke geschaffen, und jedes davon erzählt eine eigene Geschichte von den jeweiligen Auftraggebern. Die Wände in Pepes Büro im Obergeschoss waren übersät von signierten Trikots und Fotografien, die ihn mit argentinischen Legenden zeigten. Eine Ecke des Raums wurde durch ein Originalstück des mit Stacheldrahtkrone versehenen Zaungitters aus dem Stadion von Pepes Lieblingsklub Nueva Chicago abgetrennt. Hinter dem Zaunstück befanden sich neben Hunderten von Trikots und Schals auch Dutzende Bücher über seinen Helden Diego Maradona und etliche signierte Fotografien des Spielers. Auch Messi hatte Pepe ein Trikot geschickt. Jedes einzelne Stück hier war ein Geschenk von hinchas, Spielern oder auch Päpsten als Dankeschön für die beeindruckenden öffentlichen Kunstwerke, mit denen Pepe sie geehrt hatte. Auch der gigantische telon mit dem Papst, Messi und Maradona für die barra von Godoy Cruz war Pepes Werk gewesen.
Pepes Arbeiten waren weltweit bereits in den Kurven und auf den Rängen der größten Stadien zu sehen gewesen: in Kolumbien und Chile, in Italien bei Napoli, Inter, Lazio, Torino und der Fiorentina, in Spanien bei Barcelona und Atlético Madrid. In Argentinien hatte er für unzählige unvergessliche Momente gesorgt, etwa durch seinen berühmten telon zu Ehren von Sergio Agüero kurz vor dessen Wechsel von Independiente zu Atlético Madrid oder einen telon von 350 Meter Länge, der annähernd das gesamte Racing-Club-Stadion verhüllt hatte. Gerade hatte er mit Saudi-Arabien telefoniert, für das er eine 500-Meter-Flagge schaffen sollte, ein neuer Weltrekord. Begonnen hatte alles 2006, nicht zuletzt dank La Doce. Als Biker hatte Pepe zunächst vor allem Helme und Tanks mit seinen Kunstwerken verziert. Gelegentlich hatte er auch Ladenfassaden bemalt, wenngleich sein Vater seinen künstlerischen Ambitionen kritisch gegenübergestanden hatte. Doch eines Tages war La Doce auf Pepe zugekommen und hatte bei ihm ein Banner mit dem Boca-Trikot und einer Zwölf in einem Kreis in Auftrag gegeben.
Das Werk wurde unter großem Brimborium enthüllt, und Pepe konnte sich vor Anfragen anderer barras nicht mehr retten. Sie alle wollten ebenfalls ihre eigenen unverwechselbaren Fahnen und Banner. Oftmals brachten sie bereits Entwürfe mit, die Pepe anschließend überarbeitete. Er wusste, was funktionierte und was nicht. Laut eigener Auskunft malte er, was seine Auftraggeber wollten. Politische oder religiöse Tabus kannte er nicht. Das berühmte telon für Godoy Cruz beispielsweise enthielt eine Karte der Malvinas (Falklandinseln). Die Arbeit an einem Stück dauerte zwischen fünf und 15 Tagen, nicht selten unter gewissen Sicherheitsvorkehrungen, falls gegnerische barras die Flagge als Machtdemonstration zu stehlen versuchen sollten. Gelegentlich beschützten ihn bei der Arbeit Dutzende Personen des jeweiligen Vereins. »Ich lege all mein Herzblut in die Arbeit. Denn genau das stelle ich dar: das Herzblut der barras.« Bis zu jenem Tag war Pepe noch nie ein Banner gestohlen worden, nicht zuletzt, weil ihm gelingt, was niemand anderem gelingt: zwischen den barras hin und her zu wechseln, ohne dass Rivalitäten oder Stammesdenken ihm in die Quere kommen – allein wegen seiner Arbeit.
Dass Pepe von allen rivalisierenden barras gleichermaßen geschätzt wird, verdankt er in erster Linie dem einzigen Prinzip seiner Arbeit: Er hat noch nie ein Werk geschaffen, das sich gegen irgendjemanden gerichtet hätte. Boca-Fans hatten von ihm Schmähbanner gegen River gewollt, doch »ich male ausschließlich für eine barra, nicht gegen einen anderen Klub«. Ein einziges Mal führte seine Bereitschaft, telones für jeden zu gestalten, dazu, dass sich eine barra von ihm abwandte. Pepe hatte von River Plate den Auftrag für ein riesiges Banner erhalten. Sein Vater, der seiner Kunst stets skeptisch gegenübergestanden hatte, war ein Fan des Vereins gewesen, dennoch hatte Pepe ihm nichts von dem Auftrag erzählt. Sie waren gemeinsam ins Monumental gegangen, wo der Vater miterlebt hatte, wie die Kunst seines Sohnes vor einem frenetischen Publikum entrollt worden war. Kurz darauf war er gestorben, doch nicht ohne verstanden zu haben, wofür sein Sohn lebte. Allerdings hatte das Banner Folgen gehabt. La Doce hatte sich nie wieder bei Pepe gemeldet.
Auf den ersten Blick ergeben die trapos, die telones und die Zettel-Choreos nur wenig Sinn. Es sind hochdekorative, technisch anspruchsvolle und kostspielige Kunstwerke, deren an die eigene Mannschaft oder die Welt gerichtete Botschaft – sei es ein Gedenken, eine Warnung oder auch eine politische Aussage – nur wenige Sekunden zu sehen ist und dann auf immer verschwindet. Häufig werden die Banner im Anschluss verbrannt, damit sie nicht den gegnerischen Fans in die Hände fallen können. Für Pepe jedoch ergibt das alles vollkommen Sinn. Dank der modernen Technik und den sozialen Netzwerken werden seine Schöpfungen auf ewig bewahrt. Vor allem jedoch drücken sich in ihnen Stolz und Support aus, sodass sie ohnehin stets nur für einen bestimmten Moment und einen engen Kreis gedacht sind. Pepe erklärte: »Ursprünglich sollte die Fahne bei einem Fußballspiel nur die Verbundenheit mit dem eigenen Viertel zeigen. Für mich war das immer so eine heraldische oder mittelalterliche Sache. So etwas wie das eigene Abzeichen auf dem Schlachtfeld.«
»Gibt es noch einen Klub, für den du gern arbeiten würdest?«, fragte ich ihn.
»Nein, da gibt es keinen Klub für mich!«, erwiderte er, und genau so war es. Ihm ging es nicht um Klubs oder Mannschaften. Sondern um Stadien. Er sprach nicht von Real Madrid, sondern vom Bernabeu. Er sprach nicht von der barra des Club América oder den hinchas der mexikanischen Nationalmannschaft. Er sprach von dem Estadio Azteca. »Meine Museen sind die Zäune und Tribünen der Stadien«, stellte er fest. »Der beste Rahmen für meine Kunst sind die besten Stadien. Will man Gemälde und Skulpturen sehen, geht man in ein Museum. Und mein Museum sind die Stadien.«
Mikael gab eine kleine Fahne für Hammarby in Auftrag, bevor Pepe auf den Computer schaute und sah, dass er schon spät dran war. Im Stadion von Vélez Sarsfield wartete ein wichtiger Job auf ihn. Er sprang mit einer Zigarette im Mundwinkel auf seine Harley Davidson und bretterte Richtung Schnellstraße. Fünfzehn Minuten darauf kam er – mit uns im Schlepptau – am Estadio José Amalfitani an. Pedro Paz erwartete uns bereits. Pedro