und die beiden Männer begruben das Kriegsbeil.
Der brüchige Waffenstillstand hatte in der Folge trotz des harten staatlichen Vorgehens gegen die barras gehalten. Im Jahr 2015 war Mauricio Macri zum argentinischen Präsidenten gewählt worden. Er hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, die Macht der barras durch eine nach dem Vorbild des FBI neugeschaffene Eliteeinheit gegen Fußballgewalt zu durchbrechen. Rafa war mehr oder weniger aus La Bombonera verbannt worden. Juan holte aus seinem Aktenschrank einen dicken Ordner mit Zeitungsausschnitten und Titelblättern von Zeitschriften der vergangenen Jahrzehnte: Berichte über La Doce, den Großvater und »den Krieg« (zwischen Mauro und Rafa). Das Interessanteste an seiner Sammlung war die Berichterstattung über Rafa. Viele Hochglanzmagazine hievten ihn aufs Cover. Die erste Ausgabe des argentinischen Playboys brachte ein Interview mit ihm: »Unter Männern mit dem Kopf von Bocas Barra«. Auf einem anderen Cover trug Rafa Boxhandschuhe und machte Schattenboxen mit der Kamera. Die Titelzeile lautete: »Botschafter der Angst.« Er wurde wie ein Rockstar behandelt. Juan sagte dazu: »Rafa ist einerseits ausgesprochen beliebt, eine Berühmtheit. Andererseits sehen manche Leute in ihm so etwas wie einen Terroristen. Ihm öffnen sich also viele Türen, aber genauso viele schließen sich auch.« Ich hatte gehofft, ihn nach Bocas anstehendem Spiel zu treffen, doch nach der Episode mit Mauro erschien das kaum wahrscheinlich.
Der Einfluss der barras ist augenscheinlich ein unlösbares Problem. Sie verdienen zu viel Geld und kennen zu viele schmutzige Geheimnisse der Machtelite, wenn nicht sogar der obersten politischen Führungsschicht des Landes. Darüber hinaus werden sie als Volkshelden verehrt, und La Doce ist als ständige und verführerische Macht in La Bombonera allgegenwärtig. Spieler kommen und gehen. Vereinspräsidenten machen Versprechen, brechen sie und verschwinden wieder. Und La Doce? Die Gruppe und ihre Gesänge bleiben. Anscheinend könnten höchstens die barras selbst die barras zu Fall bringen. Juan sagte: »Wir fragen uns selbst die ganze Zeit, was in Zukunft sein wird. Denn auch wenn im Moment alles okay ist, kann schon morgen oder übermorgen alles in Chaos und Schießereien enden.« Er war überzeugt, dass »der Krieg« erneut ausbrechen würde. »Die Lage droht hochzugehen wie eine Granate.«
Das Gruppenspiel gegen Athletico Paranaense aus Brasilien in der Copa Libertadores stand kurz vor dem Anpfiff, und La Bombonera schimmerte blau und goldfarben im Flutlicht. Das Stadion war ausverkauft, wie bei jedem Spiel. 50.000 Zuschauer wurden erwartet. Die Polizei hatte sämtliche Zufahrtswege zum Stadion engmaschig kontrolliert, Straßen abgeriegelt und den Verkehr umgeleitet. Doch im Moment sah es so aus, als würde ich das Spiel verpassen. Ein Ticket für ein Boca-Spiel zu ergattern war kompliziert. La Doce kontrollierte das Geschäft, insbesondere dessen lukrativsten Teil: die ausländischen Touristen. Für ein Ticket oder die »Leihgebühr« für eine offizielle Dauerkarte wurden schon mal mehr als 400 Dollar fällig. Eigentlich hatte Mikael über seine La-Doce-Kontakte Karten für uns beide besorgen sollen, doch nach der Geschichte mit Mauro hatten wir bislang nur eine. Und so sehr Mikael mir auch behilflich sein wollte: Genau für diesen Moment war er hierhergekommen. Unter keinen Umständen wollte er ihn verpassen, und ich würde ihm gewiss nicht im Weg stehen. Er stapfte zur Eingangsschleuse und versprach, mich nach dem Spiel zu treffen.
Einen Pfeil hatte ich noch im Köcher: meinen Presseausweis. Ich zeigte ihn am Ticketschalter vor. Der Mann lachte, ließ den Rollladen herunter, verriegelte ihn und schlenderte kichernd davon. Ich machte mich zu einem anderen Tor auf und flehte die Sicherheitsleute inbrünstig an. Schließlich öffnete ein zermürbter Wachmann das Tor, um mich loszuwerden.
Das Estadio Alberto J. Armando verdankt seinen Spitznamen seiner ungewöhnlichen Form. Der in Slowenien geborene Architekt Viktor Sulčič ließ sich bei seinem Entwurf Mitte der 1930er-Jahre von einer Bombonera, einer Pralinenschachtel, inspirieren. Daraus resultierte eine kompakte, steil ansteigende Form, die auf jedem Platz das Gefühl vermittelt, in den oberen Rängen eines Opernhauses zu sitzen. Angesichts der Top-Lage mitten im dicht besiedelten Stadtteil La Boca stand es nicht zur Debatte, dass das Stadion jemals seinen angestammten Platz verlassen würde, im Gegensatz zu River Plate, das 1926 mit seinem Stadion in das vornehme barrio Núñez gezogen war. Stattdessen machte man das Beste aus den Gegebenheiten, errichtete das Stadion, baute es um und passte es den Erfordernissen an. Angesichts des beschränkten Platzes baute man eben in die Höhe. Es entstand eine beeindruckende Hufeisenform mit jeweils drei Rängen, die an drei Seiten förmlich in das Spielfeld hinabzustechen scheinen; an der vierten Seite schließt ein schmaler Block mit Logen das Stadion ab. Von oben gleicht es allerdings weniger einer Pralinenschachtel als einer in der Mitte durchgeschnittenen Torte.
La Bombonera nach dem Anpfiff zu betreten war eine schwindelerregende Erfahrung. Die ununterbrochenen Gesänge und treibenden argentinischen Trommeln zusammen mit den zum Rasen steil abfallenden Tribünen führten dazu, dass mir schwummrig zumute wurde. Man begriff sofort, weshalb die argentinischen Fangesänge – schnell, kompliziert und tatsächlich eher Gesänge, kein Gebrüll – und die telones einen weltweit unvergleichbaren Einfluss gewinnen konnten und in Stadien von Madrid bis Jakarta zunächst nur vom Hörensagen, später auch mithilfe des Internets kopiert und weiterentwickelt worden waren. Doch dann ereignete sich etwas Außergewöhnliches. Athletico ging in Führung, und die Gesänge schwollen nur noch weiter an. Wie Mikael mir hinterher berichtete, war das immer so. Unmittelbar nach dem Gegentreffer sangen Bocas hinchas derart lautstark, als hätte gerade ihr Team getroffen. Sie stimmten das berühmte Lied »Si, Señor« an, ihre Version des argentinischen Rocksongs »Y Dale Alegría a mi Corazon« von Fito Páez aus dem Jahr 1990, auch wenn River Plate und San Lorenzo jeweils für sich beanspruchen, den Song als Erste aufgegriffen zu haben. Eine Frage, die für immer offenbleiben wird.
Und schenk meinem Herzen Freude,
Ich bitte dich nur um eines: siege heute!
Die Copa Libertadores ist meine
Leidenschaft Gib dein Herz und deine Seele,
Du wirst sehen,
Wir sind nicht wie die Feiglinge von River Plate.
Die Spieler hatten mit dem aufgeweichten, ramponierten Rasen zu kämpfen. Nur Carlo Tevez nicht. Auch wenn der Nationalmannschaftsstürmer bei Anpfiff auf der Ersatzbank gesessen hatte, war er Bocas unbestrittener Star und der Held der Bombonera. Tevez war in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsen und hatte sich aus dem barrio bis in Bocas erste Mannschaft hochgekämpft. Nach dem Gewinn der Copa Libertadores und der argentinischen Liga hatte sein Weg ihn zunächst nach Brasilien zu Corinthians und dann über den Atlantik nach Europa geführt, wo er sich bei West Ham, Manchester United, Manchester City und Juventus einen Namen gemacht hatte. Unterbrochen von einem kurzen und lukrativen, wenn auch peinlichen, Abstecher nach China, stand er nun zum dritten Mal bei Boca unter Vertrag. Als Kind des barrio galt er zugleich als Spieler der barra. Wenige Wochen nach seiner Rückkehr zum Verein war ein Foto geschossen worden, das Tevez beim Abendessen mit Rafa und Mauro zeigte. Niemand konnte bei Boca reüssieren, ohne zunächst La Doce die Reverenz zu erweisen.
Nach Tevez’ Einwechslung kippte das Spiel. Er schien sich schneller durch den Acker zu wühlen, als seine Mitspieler auf dem Geläuf rennen konnten. Kurz nach dem Rückstand glich Boca aus, und tief in der Nachspielzeit gelang Tevez in der 96. Minute der Siegtreffer. Ein infernalischer Lärm brach aus, als würden gleichzeitig tausend Instrumente tausend Treppen hinuntergeworfen. Der ekstatische Jubelausbruch mündete erneut in Gesänge, und endlich ertönte der Schlusspfiff. Die Zuschauer sangen immer weiter, indessen sie sich wie eine Welle in alle Himmelsrichtungen in die Straßen von La Boca ergossen und sie verstopften. In dem Gedränge konnte ich kaum mein vibrierendes Handy hervorkramen. Mikael erwartete mich draußen. Wir mussten uns beeilen. Rafa di Zeo hatte sich zu einem Treffen bereiterklärt. Wir mussten sofort los.
Wir stürmten durch das Gewirr dunkler, feuchter Gassen, die La Bombonera umgaben, vorbei an Reihen von Polizisten und jubelnden Fan-Pulks. Vorbei an Wandgemälden von Bocas unbestrittenem Helden Diego Maradona. Vorbei an einem Bild des Union Jacks mit Totenkopf und gekreuzten Knochen in der Mitte und der Aufschrift: »Wir werden mit der Hand Lateinamerikas auf die Malvinas zurückkehren.« Mehrmals bogen wir falsch ab, bis wir schließlich zum angegebenen Treffpunkt gelangten. Eine Tankstelle. Kurz dachte