unserer Basstrommeln.« Als Raça sich etabliert hatte, sorgte Cláudio für einen Vervielfältigungsapparat im Stadion. »Wir hatten ein … Wie heißt das noch? Ein soziales Netzwerk!« Cláudio bezeichnete es als »ein prähistorisches WhatsApp. Das war unser Instagram.« Noch während das Spiel lief, arbeitete ein Raça-Team bereits an einem Fanzine zu der Partie. In Handarbeit hauten sie die Seiten mit ihren Gedanken zum Spiel und zu anderen Themen wie etwa den hohen Eintrittspreisen heraus und verteilten die Hefte im Stadion.
Für Cláudio bedeutete Fan von Flamengo sein mehr als nur Liebe. Doente ist das passende Wort dafür. Etwas, das einen überkommt und über das man im Grunde keine Kontrolle hat. Doch bei Raça ging es um mehr, nämlich darum, den Autoritäten die Stirn zu bieten und den Menschen zu zeigen, dass man Widerstand leisten konnte, indem man die Dinge selbst in die Hand nahm. Cláudio blieb zehn Jahre dabei, dann beschlich ihn das Gefühl, zu alt zu sein und keinen Draht mehr zu den Jüngeren zu finden, etwas, das auf sämtlichen Tribünen der Welt passiert. Eine neue Generation löst die alte ab.
Die Band war da, und Cláudio musste zum Soundcheck. »Raça war nicht einfach nur eine torcida organizada«, sagte er. »Sie veränderte die Menschen und ihr Verhalten. Sie begannen, die Gemeinschaft in den Vordergrund zu stellen, und entwickelten einen politischen Blick auf ihre Umgebung.«
Die Gründung von La Doce und der anderen barras bravas war ein Ausfluss der argentinischen Leidenschaft für das Spiel, der Ursprung der brasilianischen torcidas dagegen war eher künstlerischer Natur. Der Begriff torcida ist von dem portugiesischen torcer – verdrehen oder wringen – abgeleitet. Immer wieder wurde mir erzählt, dass das auf die vornehmlich weiblichen Fans zurückginge, die in den Anfangstagen des brasilianischen Fußballs bei Spielen ihre Schals oder Blusen nervös in den Händen verdrehten oder verwrangen. Andere behaupteten, der Begriff leite sich von den Fans her, die ihre verdrehten T-Shirts über den Köpfen rotieren ließen. Doch organisierte Gruppen tauchten erst Ende der 1930er-, zu Beginn der 1940er-Jahre auf. Und wie kein anderer war Jayme de Carvalho daran beteiligt. Carvalho war 1927 als 16-Jähriger mit dem Schiff aus dem Bundesstaat Bahia im Nordosten des Landes auf der Suche nach Arbeit nach Rio gekommen. Zunächst verkaufte er in einem Bus Süßigkeiten, anschließend arbeitete er in einem Kleidungsgeschäft, bis er schließlich im Justizministerium eine Stelle als einfacher Beamter fand. Er entdeckte Flamengo für sich und begann so etwas wie ein Doppelleben zu führen. Unter der Woche war er ein unauffälliger staatlicher funcionario, doch am Wochenende war er doente por Flamengo. 1942 gründete er die Karnevalskapelle Charanga, die das gesamte Spiel über für ein Spektakel sorgte, wie er es von den Straßenbands seiner Kindheit im heimischen Bahia kannte. Als die Kapelle das erste Mal aufmarschierte, beschwerte sich der gegnerische Torwart beim Schiedsrichter und der ließ die Spieler den Platz verlassen.46
Ihren Namen verdankte die Gruppe dem berühmten und äußerst produktiven brasilianischen Komponisten und Textautor Ary Barroso, der als Filmkomponist 1945 für einen Oscar nominiert wurde. Seine berühmteste Komposition ist »Aquarela do Brasil«, international einer der bekanntesten Songs aus der Feder eines Brasilianers. Auch Barroso war doente por Flamengo und betätigte sich nebenbei als Fußballkommentator für Radio Tupi, wobei er gelegentlich auch zu Triller- und anderen Pfeifen griff. Als er bei einem Flamengo-Spiel das unbeholfene Spiel der Kapelle vernahm, bemerkte er spöttisch: »Freunde, das ist keine Musikband. Das ist eine charanga.«47 Der Begriff charanga bezeichnet in Brasilien eine schief spielende Amateurband. Doch Jayme gefiel der Name, die Charanga do Flamengo war geboren, und Ary und Jayme wurden Freunde.
Gemeinsam mit seiner Frau Laura nähte und färbte Jayme riesige Transparente für das Stadion. Außerdem trugen sie dieselben rot-schwarzen Trikots wie die Spieler auf dem Feld, allerdings hatten sie ihre selbst hergestellt. Für das Fla-Flu-Derby gegen Fluminese im Oktober 1942 entwarf Jayme ein Spruchband mit der Aufschrift »AVANTE FLAMENGO«.48 Nach Flamengos Ausgleichstreffer kletterten Jayme und ein Freund über den Zaun und rannten auf das Spielfeld, was unter den 30.000 Fans beinahe einen Aufstand ausgelöst hätte. Polizisten zerrten sie vom Rasen, verhafteten sie jedoch nicht. Der legendäre Sportjournalist Mário Filho aus Rio – nach dem das Maracanã seit 1966 offiziell benannt ist – beschrieb in einem kurzen Artikel die Anfänge der Flamengo-Fankultur. In dem Text »Karneval im Frühling« schildert er, wie ein Polizist sich beim 1944er-Finale der Meisterschaft des Staates Rio wegen einer gewaltigen Explosion zu Boden warf. Jayme de Carvalho hatte eine »Dynamitbombe« aufs Feld geschmissen. »Er zündete eine Bombe. Sie ging hoch und erfüllte das Stadion mit ihrem Rauch. An der Seitenlinie, wo sie gelandet war, hatte sie den Rasen versengt. Nach dem von Flamengo gewonnenen Spiel führte Jayme eine spontane Prozession tanzender und singender Fans durch Rios Straßen.«49
Feuerwerkskörper und Fahnen waren durchaus nichts Ungewöhnliches in brasilianischen Stadien, die Musikband dagegen schon, und binnen kurzer Zeit fand die Charanga landesweit Nachahmer. Die Lieder der Straßen und des Karnevals wanderten in die Stadien, und Jayme wurde Brasiliens erster Super-Fan. Der Verein stellte ihn an und schickte ihn auf Auslandsreisen. Er hatte sogar einen Ausrüstervertrag mit einem Kleidungsunternehmen. Er war annähernd so berühmt wie die Spieler, so berühmt, dass er vor der WM 1950 zum Chefe dos Chefes de Torcida Brasileira ernannt wurde. Das soeben fertiggestellte Maracanã bildete den würdigen Rahmen für eine Mannschaft, von der erwartet wurde, dass sie den Titel holte. Jayme sollte die Charanga auf internationaler Bühne präsentieren und zugleich dazu beitragen, die gewaltbereiten Impulse der Menge in Zaum zu halten. Bernardo Buarque de Hollanda stellte hierzu in einem Aufsatz in Football and the Boundaries of History fest: »Man wollte unbedingt das Bild eines vernünftigen Staates abgeben, daher übertrugen die Offiziellen die Aufgabe, die Fans und ihr Verhalten zu lenken, weitgehend an Jaime [sic!] de Carvalho. Den Organisatoren war bewusst, wie wichtig ein Wortführer unter den Fans sein würde, um die Polizeichefs bei der Durchsetzung eines wohlgefälligen Verhaltens zu unterstützen.« Und das tat Jayme. Mit seiner Torcida Brasileira begleitete er jedes Spiel der brasilianischen Mannschaft. Bei Brasiliens 6:1-Erfolg über Spanien begannen die Zuschauer »Bullfights in Brazil« von João de Barros zu singen. Barros »war ganz gerührt und ihm kamen die Tränen, als er hörte, wie sein Lied von einer Menge von geschätzt 200.000 Menschen gesungen wurde«.50
Doch dann verlor Brasilien das Finale gegen Uruguay durch den berühmt-berüchtigten Maracanazo (»Schock von Maracanã«), der nicht nur bei den Spielern, sondern im gesamten Land tiefe Spuren hinterließ. Das einzig Erfreuliche war, mit welch erstaunlicher Fairness die Fans die Niederlage hinnahmen. Doch die wohl folgenreichste Wirkung hatte Jaymes Engagement bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Turniers erzielt, und zwar bei Brasiliens 2:0-Sieg über Jugoslawien. Die Filmaufnahmen des Spiels sind von recht bescheidener Qualität – die FIFA begann erst 1954, die WM-Endrunden vernünftig aufzuzeichnen –, doch in den existierenden Ausschnitten erkennt man explodierende Feuerwerkskörper, Spruchbänder und die Band im Vordergrund. Der Lärm der von der Charanga angeführten 142.000 Zuschauer hinterließ bei den Gästen bleibenden Eindruck. Ohne Jayme de Carvalho und seine Charanga wäre Hajduk Splits Torcida nie gegründet worden.
Jayme de Carvalho war Cláudios großer Held. Gemeinsam mit seiner Frau Laura führte Carvalho die Charanga und die Torcida Brasileira auch zu den WM-Endrunden in der Schweiz, Schweden, Mexiko und der Bundesrepublik Deutschland und machte so bis zu seinem Tod 1976 ein internationales Publikum mit dem Charanga-Sound bekannt. Cláudio stürmte in die Bar und kehrte mit einem Buch zurück. »Jayme war der allererste Fan, der im Vereinstrikot auf der Tribüne auftauchte«, sagte er und reichte mir das Werk, das er Jayme gewidmet hatte, ein Bildband mit Geschichten und Fotos aus Jaymes Leben. »Verstehst du, wie wichtig die Charanga do Flamengo war?«
Mitte der 1960er-Jahre erlebte Brasilien einen Wandel mit einer rasanten Urbanisierung. Der Putsch von 1964 war der Beginn einer jahrzehntelangen Militärdiktatur. Die neue Fangeneration war jung und arm und lechzte nach Veränderungen. Die bestehenden torcidas waren letztlich ein Produkt ihres Vereins. Ihre Anführer, auch wenn sie wie Jayme nur das Beste wollten, galten als Angestellte des Vereins, dagegen wollten die jüngeren Fans sich von jeglichen Autoritäten befreien. Neue Gruppierungen wie die Torcida Jovem do Flamengo entstanden und schreckten nicht davor zurück, das eigene Team auszupfeifen. In Leserbriefen an Rios Zeitungen