James Montague

Unter Ultras


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      3

       Brasilien

      RIO DE JANEIRO

      Ich wartete auf Cláudio Cruz, den Gründer von Raça Rubro-Negro, der größten torcida organizada Brasiliens. Seit einigen Jahren gehörte Cláudio eigentlich nicht mehr zur Szene. Er besaß eine Bar in Lapa, die bereits seit einer Stunde geöffnet hatte, doch von Cláudio keine Spur. Die übrigen Geschäfte und Bars hatten ihre Metallgitter bereits heruntergelassen und verriegelt. Die einzige Ausnahme bildete Vaca Atolada, die »Feststeckende Kuh«.41 So war es an jedem glühend heißen Samstagnachmittag. Lapa lag zwar im Zentrum von Rios Zona Norte, doch in Brasilien funktionierte die sozioökonomische Geografie anders als an anderen Orten. Das Geld versammelte sich an den weißen Sandstränden von Ipanema und Leblon. Das Zentrum war am Wochenende tagsüber wie ausgestorben, was an der Stadtflucht und der hohen Kriminalitätsrate lag. Doch immerhin nachts erwachte Lapa zum Leben. Der Stadtteil hatte einen Ruf als Rios Ausgehviertel, doch 17 Uhr war noch ein bisschen zu früh für die meisten Cariocas. Außer in der Vaca Atolada. Die Angestellten bereiteten alles für die Sambaband am späteren Abend vor und räumten die zu Tischen und Stühlen zweckentfremdeten Bierkästen auf den Gehsteig. Ein Barmann meinte, ich könne warten, stellte eine eisgekühlte Literflasche Brahma-Bier vor mich auf den Tisch und öffnete sie einhändig in einer fließenden Bewegung. Cláudio komme immer zu spät, erklärte er.

      Die Vaca Atolada war ein Überbleibsel von Rios aussterbender Bohème-Szene. Drinnen an den Wänden hingen überall alte Konzertflyer. Die Toiletten waren mit altmodischen, pornografisch angehauchten Graffiti verziert, die irgendjemand einmal abzuschrubben versucht hatte. Die Partytouristen steuerten gewöhnlich die schickeren Cocktailbars einige Blocks die Straße herunter an. Doch wer Lapa kannte, kannte die Vaca Atolada – und Cláudio. Ihm gefiel seine Rolle: ein sperriges Relikt, das beharrlich seinen Platz verteidigte.

      Wenn Cláudio eintrifft, gleicht das mehr einem Überfall als einer Begrüßung. Energisch schüttelte er mir die Hand, während es schon aus ihm heraussprudelte: »Als ich noch Polizist war, habe ich von einer Bar geträumt, wo man für wenig Geld trinken gehen kann.«. Er ließ sich nieder und ruckelte seinen Bierkasten zurecht, bis er mir gegenübersaß. Er habe nicht viel Zeit, sagte er. Die Musiker würden gleich zum Soundcheck kommen. Doch schließlich blieb er zweieinhalb Stunden und redete beinahe ununterbrochen. Er platzierte sich genau eine Armlänge vor mir, und während er die Worte im Maschinengewehrtempo ausstieß, kam es mir beinahe so vor, als würde er gleichzeitig mit mir Schattenboxen. Wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, pochte er im Takt mit den Knöcheln auf den Tisch oder stieß mir gegen die Brust. Er bekannte, er sei doente por Flamengo: »verrückt« nach dem Clube de Regatos do Flamengo, einen von Rios größten Vereinen. Mit demselben Begriff – doente – bezeichnete er immer wieder auch andere Fans. Als wäre es ein Ehrenzeichen für eine außergewöhnliche Flamengo-Leidenschaft.

      Die Anfänge der brasilianischen torcidas gehen auf die organisierten Fanclubs zurück, die sich um 1940 rund um die Vereine aus Rio und São Paolo bildeten. Sie gewannen rasch an Beliebtheit und begannen ihre Mannschaften auf bis dahin unbekannte Weise zu unterstützen, zumeist angeführt von einer Sambaband, doch auch mit Bannern, Feuerwerkskörpern und Gesängen. Wie bei den argentinischen barras bravas nahm auch bei den brasilianischen torcidas die Gewalt mit der Zeit immer extremere Ausmaße an. Seit den 1980er-Jahren starben Hunderte Fans bei Schlägereien und internen Kämpfen. Allein 2013 wurden 30 torcedores umgebracht.42 Die Mordrate in Brasilien zählt ohnehin zu den höchsten weltweit; so wurden 2018 rund 50.000 Mordopfer gezählt.43 Kaum irgendwo sonst ist es so gefährlich, ins Stadion zu gehen. Cláudios Zeit hatte vor dieser Entwicklung gelegen. Er war inzwischen über sechzig, doch nach wie vor gut in Form, von kleiner Statur, die dunklen Haare kurzgeschoren. Auf seinem weitgeschnittenen Shirt prangte ein großer Button mit der Aufschrift »Lula Livre!« – »Freiheit für Lula!« – eine Solidaritätsbekundung für den linksgerichteten brasilianischen Ex-Präsidenten Lula da Silva, der nach seinem Amtsantritt kurz nach der Jahrtausendwende Brasilien umgekrempelt und Millionen Menschen aus der Armut geholt hatte. Doch inzwischen saß er wegen Korruption im Gefängnis, auch wenn seine – nach wie vor zahlreichen – Unterstützer (Cláudio inbegriffen) seine Inhaftierung für einen Skandal hielten. Mit gefälschten Beweisen habe verhindert werden sollen, dass er bei den Präsidentschaftswahlen gegen Jair Bolsonaro antreten würde, den rechten Ex-Offizier, der die von 1964 bis 1985 herrschende Militärjunta entschieden verteidigte und die Diktatur als »ruhmreiche Ära« bezeichnete.44 Bolsonaro hasst augenscheinlich alle und jeden: Frauen, Homosexuelle, Indios und sogar den Amazonas. Da Lula im Gefängnis saß, entschied Bolsonaro die Präsidentschaftswahl 2018 für sich und regierte seither. Cláudio war nicht entgangen, dass ich seinen Button bemerkt hatte. Als er Raça Rubro-Negro 1977 gegründet habe, so sagte er, hätten sie in einer »Zeit der Diktatur« gelebt. Auf Deutsch bedeutet raça in etwa »unbedingtes Verlangen« oder »starker Wille« kann aber auch mit »Bande« übersetzt werden. Rubro-negro (Rot und Schwarz) wiederum steht für die Farben von Flamengos Trikot. Die torcida war im Stadion an ihren roten Shirts zu erkennen, die allerdings nicht mit den Vereinsfarben zusammenhingen. »Raça trug als erste torcida nicht das Trikot des Klubs. Unser Shirt war rot für die Liebe zu Flamengo und den mühseligen Kampf für die linke Sache«, erklärte Cláudio.

      Der Fußball wurde bekanntlich 1894 von dem Schotten Charles Miller in Brasilien eingeführt, war dort allerdings zunächst ausschließlich der Oberschicht vorbehalten, sodass die riesige afrikanischstämmige und indigene Bevölkerung außen vor bleiben musste. Brasilien hatte erst wenige Jahre zuvor, 1888, als letztes Industrieland weltweit die Sklaverei abgeschafft. Es wird geschätzt, dass bis dahin in knapp 400 Jahren rund fünf Millionen Sklaven nach Brasilien verschleppt worden waren. Zum Vergleich: In den Vereinigten Staaten betrug die Zahl lediglich acht Prozent davon.45 Flamengo war ursprünglich als reiner Ruderklub gegründet worden und hatte erst eine Fußballabteilung eröffnet, als verärgerte Mitglieder des großen Rivalen Fluminese ihrem Verein den Rücken kehrten. Flamengo gelang es als erstem Klub, eine landesweite Fanbasis aufzubauen, nicht allein wegen seiner Erfolge in der damaligen Hauptstadt Rio, sondern insbesondere auch dank der Fortschritte in der Radiotechnik, die es ermöglichten, Partien in ganz Brasilien auszustrahlen. Cláudio wird wie jeder andere Flamengo-Fan nicht müde zu erzählen, dass der Verein zwischen 30 und 40 Millionen Anhänger habe. Mehr, als die meisten Länder Einwohner haben, wie er stolz hinzufügte. Auch Cláudio war durch das Radio infiziert worden. Mit fünf Jahren hatte er 1963 vor dem Empfänger verfolgt, wie Flamengo Meister wurde. »Mir kamen die Tränen, dabei wusste ich noch nicht einmal, was Meister eigentlich heißt. Der Reporter brüllte ›MEISTER!‹, und ich bekam Gänsehaut.« Seiner Ansicht nach lag seiner Begeisterung noch etwas anderes, Tiefgehendes zugrunde, möglicherweise ausgelöst durch die Farben Rot und Schwarz. »Das sind die beiden wirkmächtigsten Farben, die es gibt!«, sagte er. »Die Fahne der Sandinista war schwarz und rot. Hitlers Hakenkreuzfahne war schwarz und rot. Wo auch immer Rot und Schwarz sind, ist der Fanatismus nicht weit.«

      Er gründete Raça als Teenager gemeinsam mit seinem Bruder, und am Beginn ihrer torcida stand eine Mischung aus besessenem Fantum und Aktivismus. Wenn sie ihre Graffiti kritzelten und Poster klebten, mussten sie immer wieder »vor den Soldaten mit ihren Maschinenpistolen fliehen«. Stand an einem Sonntag ein Spiel an, brachten sie am Freitagabend mit einem Transporter Tausende Rollen Toilettenpapier zum Maracanã. Sie sprangen vom Transporter über den Zaun und versteckten das Toilettenpapier – das sie beim Spiel auf den Rasen werfen würden – sowie ihre Feuerwerkskörper und Banner zwischen den Dachsparren der Tribüne. Das Problem war, dass vier der großen Mannschaften aus Rio sich das Maracanã teilten und sie nicht riskieren durften, dass eine gegnerische torcida ihre Vorräte fand. »Wenn die Wachleute uns entdeckten, feuerten sie auf uns«, berichtete er. Mit dem mitgebrachten Wasser und Brot hielten sie sich die kommenden zwei Tage verborgen. »Wir blieben dort, ohne scheißen gehen zu können«, berichtete er. Bis am Sonntag die Tore geöffnet wurden und sie sich »mit Bauchschmerzen« rauswagten.

      Gewalt spielte seinerzeit bei den torcidas noch keine maßgebliche Rolle. »Das war noch ein anderes Rio, verstehst du? Wir mussten vor den Cops abhauen, die die Stadien bewachten.