Pepe ihn. Pedro war der »jefe« oder Boss der barra von Velez Sarsfield, La Pandilla. Der Sicherheitsmann am Stadiontor sprang auf und zückte seine Schlüsselkarte, als er ihn kommen sah. Pedro sagte: »Wir wollen etwas ganz Besonderes für unser Klubheim.« Es ging um ein Wandbild für das Hauptquartier der barra. Freundlich und charismatisch geleitete Pedro uns durch die Klubgeschichte und zeigte uns etwa die Statue des jungen Carlos Bianchi, der als erfolgreicher Torjäger bei dem Klub gespielt und ihn 1994 als Trainer zu den Triumphen in der Copa Libertadores und dem Weltpokal geführt hatte, oder den Pokalraum mit den Trophäen aus Bianchis erfolgreicher Trainerzeit. Alle paar Schritte wurde er wie ein heimgekehrter Held begrüßt. Ältere und jüngere Frauen verließen ihre Schreibtische und Tresen, um ihn zu umarmen. Pedro kannte jede beim Namen. Als wir am Schwimmbad vorbeikamen, das nach dem 2011 verstorbenen ehemaligen barracapo Marcos »Marquitos« Lencina benannt war, scharten sich die Kinder um ihn und hüpften hoch, um ihn abzuklatschen. Er erinnerte an Arnold Schwarzenegger an seinem zweiten Undercover-Tag in Kindergarten Cop.
Bei dieser Gelegenheit sah ich erstmals mit eigenen Augen den Einfluss der barras in den argentinischen Vereinen. Der Ex-Präsident von Vélez, Raul Gamez, hatte zuvor sogar als Anführer der barra wegen polizeifeindlicher Ausschreitungen sechs Monate im Gefängnis gesessen. Anschließend hatte er sich bei den Gremien des Vereins eingeschmeichelt und war letztlich gewählt worden. Doch wie ein Rockabilly-Opa, der über die K-Pop hörende Jugend von heute lamentiert, hatte er zuletzt die nachwachsende Generation der barra kritisch beäugt und erklärt: »Wir sind vor 50 Jahren ›gute Jungs‹ gewesen, als die Gesellschaft noch eine andere war. Damals herrschten noch andere Sitten, und Drogen waren für uns kein Thema.«31 Besonders kritisch sah er die zunehmende Politisierung der barra. Mit der Formulierung »gute Jungs« griff er eine Äußerung der ehemaligen argentinischen Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner auf, die kurz vor dem aus Steuergeldern finanzierten Trip der Anführer der bedeutendsten Gruppierungen zur WM 2010 in Südafrika die barras so genannt hatte. Doch die politischen Beziehungen reichten noch tiefer. Gewerkschaften, Unternehmen und sogar Parteien engagierten die barras häufig für Aktionen gegen ihre jeweiligen Gegner. Gamez sagte: »Die Politiker brauchen [die barras] und setzen sie als gewaltbereite Handlanger ein. Die Vereinsspitzen wollen kein Problem mit den barras, also schließen wir Pakte mit ihnen. Wir haben keine andere Wahl, denn es gibt keine Garantien [für unsere Sicherheit].«32
Pedro erklärte im Dämmerlicht ihrer Turnhalle, was er sich vorstellte: ein wandfüllendes Gemälde zu Ehren seines Vorgängers Marquitos. Auf der gegenüberliegenden Wand trocknete das frische Bild einer Cartoon-Bulldogge. Pedro zückte zur Erklärung sein Handy und spielte ein YouTube-Video ab, auf dem sein Held zu sehen war, der frühere, für seine Freistöße berühmte Vélez-Torwart José Luis Chilavert (Spitzname »El Bulldog«). Chilavert hatte 1996 gegen River Plate einen Freistoß von der Mittellinie verwandelt und 1994 im Finale der Copa Libertadores nicht nur einen Elfmeter gehalten, sondern auch selbst einen versenkt.
Es war Zeit zum Aufbruch. Wir mussten nach Bajo Flores, um Mauro zu treffen, einen der mächtigsten Männer von La Doce. Doch gerade, als wir aufbrechen wollten, klingelte Mikaels Handy. Einer seiner Kontaktmänner, ein Vertrauter von Rafa. Juan, eines der ältesten Mitglieder von La Doce, hatte von dem Treffen erfahren und war misstrauisch geworden. »Er meint, wir sollten nicht hingehen. Es könnte eine Falle sein«, berichtete Mikael ein wenig geknickt. Gegen das Treffen selbst war nichts einzuwenden, doch bei dem Ort, an den Mauro uns bestellt hatte, hatten bei Juan die Alarmglocken geklingelt.
Mikael schrieb seinem Kontakt, dass er Magenprobleme habe.
Juans Büro war ein den Boca Juniors geweihter Tempel. Hinter seinem Schreibtisch befand sich eine chaotische Collage seines Lebens. Ein gerahmtes signiertes Trikot. Fotografien von alten Spielen, Stadien und lange verstorbenen Freunden aus der barra. »Als ich Rafa gestern von eurem Treffen mit Mauro in Baja Flores erzählt habe, hat er gemeint: ›Vorsicht, die werden sie überfallen‹«, berichtete der muskulöse mittelalte Mann mit dem vollen grauen Haar, der womöglich Mikael und mir das Leben gerettet hatte. Sein Handschlag fühlte sich an, als könne er mühelos meine Finger zerquetschen. In der Ecke lehnte eine geladene Schrotflinte, auf dem Regal daneben stand ein von einem Gummiband zusammengehaltenes Patronenbündel. Juan erklärte, dass das ein Geschenk von Aldo Rico sei, einem ehemaligen Offizier, der in den 1980er-Jahren zwei fehlgeschlagene Putschversuche unternommen hatte.
»Was genau soll ›überfallen‹ heißen?«, fragte ich.
»Sie können euch zusammenschlagen, sie können alles machen, was sie wollen, denn sie sind wie eine Mafia«, sagte er. »Vielleicht geht ihr ganz nett und höflich dorthin und nichts passiert. Vielleicht aber doch.«
Als einer der La-Doce-Granden kannte Juan Rafa und Mauro seit Jahren. Mit acht Jahren hatte er seinen Vater erstmals in die Bombonera begleitet. Schon beim Betreten des Stadions hatte ihn das Geschehen in der Nordkurve hinter dem Tor – der sogenannten popular – in den Bann gezogen. Das Revier der barra. Sein Vater hatte ihm verboten, dorthin zu gehen. Es sei zu gefährlich. Doch Juan hatte nicht auf ihn gehört. Er hatte sich daheim fortgeschlichen, war heimlich zu den Spielen gegangen und hatte sich der barra angeschlossen. Zu jener Zeit war ein Mann namens Enrique »Quique« Ocampo der Boss von La Doce. Seinen Spitznamen »El Carnicero« (»der Schlachter«) hatte er nicht etwa der Tatsache zu verdanken gehabt, dass er besonders gut Menschen hatte aufschlitzen können. Vielmehr war er tatsächlich Schlachter gewesen. Sein Laden hatte um die Ecke von La Bombonera gelegen. Der Verein hatte ihm Eintrittskarten überlassen, die er weiterverkauft hatte, um die trapos der Truppe zu finanzieren und sich selbst einen kleinen Nebenverdienst zu verschaffen. In dieser Zeit hatte Juan Rafael di Zeo – Rafa – kennengelernt, der schließlich selbst zum Boss von La Doce aufsteigen sollte.
Ocampo blieb mehr oder weniger die gesamten 1970er-Jahre hindurch an der Spitze von La Doce. Zu jener Zeit ging es vor allem darum, das eigene Team zu unterstützen und, natürlich, die gegnerischen Fahnen zu stehlen. Juan sagte: »Ohne La Doce wäre ich nicht zum Boca-Fan geworden. Die Gemeinschaft von Freunden war das Entscheidende. Es war so etwas wie Brauchtum, den Gegnern die Fahnen oder T-Shirts abzunehmen. Damit begann es. Und dann kam immer mehr Gewalt ins Spiel, Ketten, Steine. Die Sache artete aus.« Wieso, das vermochte Juan nicht zu sagen. Möglicherweise wegen der Drogen. Oder weil immer mehr Geld im Spiel war und die Einsätze stiegen. Vielleicht war die Gewalt auch ein Kollateralschaden des Lebens unter einer in den letzten Zügen liegenden Diktatur. Die Regentschaft des Schlachters endete nach der Partie der Boca Juniors gegen Rosario Central 1981. Rosario gewann mit 1:0. Juan konnte sich noch erinnern, dass Maradona einen Elfmeter verschoss. Vor dem Spiel hatte der Schlachter dem krawallbereiten Teil von La Doce erzählt, dass er keine Karten mehr für das Spiel habe. Sie fuhren dennoch nach Rosario und wurden geschlossen verhaftet. Zu jener Zeit tobte der Machtkampf bereits zwei Jahre, doch diese Kränkung durch den Schlachter brachte das Fass zum Überlaufen.
»Wir haben sein Haus in La Boca angezündet«, berichtete Juan. »Daraufhin sagte er: ›Mit so etwas will ich nichts zu tun haben.‹« Der Schlachter zog sich zurück, und eine neue Generation übernahm das Ruder.
Juan holte ein Foto von der Wand. Die Farbaufnahme zeigte eine sehr viel jüngere Version von ihm, den Arm um die Schultern von José Barrita gelegt. Wegen seiner grauen Haare war Barrita gemeinhin nur »El Abuelo« genannt worden, der Großvater. Er war dem Schlachter auf dem Posten des barracapo gefolgt und so etwas wie ein Bohémien gewesen. »In gewisser Hinsicht war José ein Hippie. Er machte sich nichts aus Geld«, sagte Juan. Dem Großvater ging aller Protz ab, und er schien nie Geld in der Tasche zu haben. Er fuhr einen alten verbeulten Ford Falcon Ranchero und lebte für die barra. Ihn reizten das Leben als Außenseiter und das Adrenalin bei Auseinandersetzungen. In seiner Zeit wurden die Weichen für die weitere Entwicklung von La Doce gestellt. Die barra forderte mehr Geld vom Verein. Die Spieler mussten einen Teil ihres Gehalts abführen, damit die barra weiterhin ihre Namen rief. Eine Stiftung wurde gegründet, durch die La Doce ihre Einnahmen laufen lassen konnte. Der Klub wiederum begann, La Doce als seine Augen und Ohren zu nutzen, insbesondere, um seine Stars vor heiklen Situationen zu schützen. Ein berühmtes Beispiel war laut Juan die Ankunft von Maradona und Claudio Caniggia