*1943
«Du weisst nicht, wie das Fegefeuer ist»
Bildnachweis und Quellenangaben
Prolog
Kurz vor ihrer Hochzeit mit Jeremias Bayard im Herbst 1926 begleitete Oktavia Marty ihre Schwägerin Josephine im Zug nach Le Havre an die nordfranzösische Küste. Josephine war die Frau von Oktavias Bruder Ignaz. Mit ihren vier Töchtern, die zwischen drei und zehn Jahre alt waren, wollte sie mit dem Schiff nach New York auswandern, wie Tausende von Walliserinnen und Wallisern in den Jahrzehnten zuvor.1 Ignaz hatte das Wallis bereits vor einem Jahr Richtung Amerika verlassen und holte nun die Familie nach. Ganz freiwillig war er damals nicht gegangen. Ignaz war draufgängerisch, ganz anders als seine Schwester Oktavia, ein Luftibus mit unzähligen Ideen, der vieles ausprobierte und das Abenteuer liebte. Die Martys, so hiess es im Oberwalliser Dorf Varen, seien gescheite und unternehmungslustige Leute. Bevor er auswanderte, arbeitete Ignaz als Schreiner und führte drei Bäckereien in Varen, Leuk und Leukerbad. Die Räder seiner Mühlen baute er selbst. Das Mühlenrad im Nachbardorf Salgesch diente ihm dafür als Modell. Er war auch der Erste in Varen, der ein Auto besass. Misswirtschaft sei es gewesen, die zu Schulden im Umfang von 10 000 Franken und zum Bankrott geführt haben soll. Deshalb wanderte er 1925 in die USA aus, liess sich auf Long Island bei New York nieder und fand eine Anstellung als Schreiner. Er konnte sich schnell etablieren und erhielt als erster Zahltag einen Dollar in Gold. Mit den Jahren baute er sich auf Long Island ein Schreinerunternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitenden auf und war zeitlebens einer der Einzigen, der in New York Wendeltreppen bauen konnte. Nach einem Jahr war er bereits so gut situiert, dass er einen Teil seiner Schulden zurückzahlen und Frau und Kinder nach Amerika nachholen konnte. Josephine fühlte sich jedoch nie wohl in den USA, war sehr eifersüchtig und lernte nie Englisch. Sie starb früh, geistig verwirrt.
Die damals 29-jährige Oktavia begleitete die Familie auf ihrer Reise nach Le Havre, denn die aus dem Saastal stammende und in Susten aufgewachsene Josephine hatte wenig Reiseerfahrung. Ganz im Gegensatz zu Oktavia, die aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit im Gastgewerbe mit häufigen Stellenwechseln schweizweit schon ziemlich herumgekommen war. Wie im Haushaltsbüchlein vermerkt, in dem Oktavia ab 1915 auf den Rappen genau und mit präziser Datumsangabe ihre Ein- und Ausgaben festhielt und dessen erste Seite sie mit «Spare in der Zeit, so hast du in der Not» überschrieb, kostete die Fahrt nach Le Havre und zurück 100 Franken. Auch einen Handkoffer für 65 Franken schaffte sie sich für die Reise an. Als das Schiff mit Josephine und den vier Kindern an Bord den Hafen von Le Havre Richtung New York verliess, stieg Oktavia wieder in den Zug und kehrte in die Schweiz, nach Varen, zurück. Sie trat die Rückreise nicht ohne eine gewisse Wehmut an, denn am liebsten wäre sie nach Amerika mitgefahren. Sie fühlte sich jedoch Jeremias Bayard verpflichtet, dem sie die Hochzeit versprochen hatte. Oktavias weiterer Lebensweg wäre wohl anders verlaufen, hätte sie sich zusammen mit ihrer Schwägerin auf den Weg über den Atlantik gemacht. Doch sie kehrte ins Wallis zurück, wurde Mutter von elf Kindern und führte zusammen mit ihrem Mann Jeremias ein Leben als Selbstversorger.
Das Wallis im Wandel
Varen befindet sich nahe der Sprachgrenze zwischen dem Ober- und dem Unterwallis, offiziell durch den Bach La Raspille getrennt, am Südhang des Tals auf 750 Metern über Meer. Ein Bergsturz in prähistorischer Zeit am rechten Rhoneufer formte den fast kahlen Hang mit steppenartiger Vegetation.2 Die Gegend ist geprägt durch ein südliches Klima mit sehr geringen Niederschlagsmengen. Das Dorf thront auf einer Terrasse oberhalb des Pfynwalds, einer der grössten zusammenhängenden Föhrenwälder der Alpen. Dort sucht sich die Rhone, umgangssprachlich auch «der Rotten» genannt, ihren Weg frei durch den Talboden. Die Kirche Maria Sieben Schmerzen befindet sich, abgesetzt vom Dorfkern, am südlichsten Punkt auf einem Felsvorsprung, von welchem der Hang rund 200 Höhenmeter gegen das Bahngeleise und den Rotten im Talgrund abfällt. Das 500-Seelen-Dorf3 war Anfang des letzten Jahrhunderts von Westen her über Salgesch erreichbar, wobei sich die Landstrasse durch Wiesen, Nussbäume und Weinberge den Hang hochschlängelte und die Sicht über die sanften Hügel des Mittelwallis bis ins Unterwallis freigab. Von Osten her führte der Weg von Susten im Talgrund über das oberhalb gelegene mittelalterliche Städtchen Leuk hinunter zur Dalabrücke mit dem Dalaturm aus dem 13. Jahrhundert. Die imposante Dalaschlucht im Rücken, stieg der Weg auf der anderen Seite zuerst steil, dann abflachend durch Wiesen und Weinberge hoch nach Varen.
Das Oberwallis war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein geografisch und sprachlich isoliertes Randgebiet. Im ausgesprochenen Agrarland mit als Selbstversorger lebenden Kleinbauern arbeiteten im Jahr 1888 79 Prozent (schweizerischer Durchschnitt: 40%) und im Jahr 1910 noch 61 Prozent der Bevölkerung (schweizerischer Durchschnitt: 29%) hauptberuflich in Landwirtschaft, Minen und Wald.4 Dabei verteilten sich die Landwirtschaftsbetriebe auf mehrere Talstufen und waren aufgrund der erbrechtlichen Realteilung, das heisst der gleichmässigen Aufteilung des Erbes auf die Kinder, in zahlreiche Parzellen aufgesplittet. So war ein Hektar Walliser Rebland im Jahr 1916 durchschnittlich in 38 Parzellen aufgeteilt.5 Die Industrialisierung fand im Vergleich zu anderen Schweizer Regionen relativ spät statt und war vor allem auf die Entsumpfung der Rhoneebene durch die erste Rhonekorrektion (1863–1894) und die Verbreitung der Eisenbahn zurückzuführen. Dabei war die Entwicklung in den Jahren nach der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke Sitten – Brig (1878) zunächst eher zögerlich.6 Dies änderte sich in den 1890er-Jahren, als die Nutzung der Elektrizität der Industrie ungeahnte Energiequellen eröffnete und neue Investitionen in bisher eher peripheren Gebieten zur Folge hatte. So wurde im Jahr 1908 die Aluminiumhütte der Aluminium Industrie AG (AIAG, auch Alusuisse genannt) in Chippis bei Siders eröffnet. Im selben Jahr nahm das Chemiewerk Lonza in Visp seine Produktion auf. Obwohl eine zunehmende Anzahl Personen im Oberwallis in der Folge in den Fabriken arbeitete, gaben sie ihr bäuerliches Leben nicht auf. Als sogenannte Arbeiterbauern führten sie mit der Hilfe der Familienmitglieder den familiären Landwirtschaftsbetrieb fort, was für die Unternehmer den Vorteil hatte, dass die Löhne tief gehalten werden konnten.7 Das mit der Eröffnung des Simplontunnels (1906) und der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke Frutigen – Brig (1913) weiter vorstossende Eisenbahnnetz, das langsame Aufkommen des motorisierten Verkehrs und die besseren Strassenverbindungen – hier hinkte das Oberwallis bis zum Ersten Weltkrieg dem Unterwallis hinterher – führten weiter dazu, dass sich der seit Mitte der 1850er-Jahre aufkommende Fremdenverkehr deutlich verstärkte. Dies zeigte sich in einer Ausweitung des Angebots an Betten auch in den