Sybille Bayard Walpen

Der Clan vom Berg


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ab, desinfizierte den Stumpf mit Schnaps und nähte die Wunde anschliessend zusammen. Jahre später wiederholte sich fast dasselbe Missgeschick bei Theodor. Er lebte bereits in Solothurn, als er sich mit dem noch drehenden Messer seines Rasenmähers rund drei Zentimeter seines Daumens abschnitt, welcher von einer Katze geschnappt und gefressen wurde. Er band ein Taschentuch um den Stumpf und wollte zuerst weitermähen, ging dann aber auf Anraten seiner Familie trotzdem ins Spital. Auf die Frage des Arztes, wo denn der abgeschnittene Daumen sei, erwiderte er, eine Katze hätte ihn gefressen.

      Als junger Erwachsener erkrankte Jeremias an Tuberkulose. Zu jener Zeit war in Leuk ein Wagen des Kantons stationiert, in dem die Bevölkerung ihre Lungen kontrollieren lassen konnte. Deshalb begleitete Oktavia ihren Mann dorthin zur Kontrolle. Der versprochene Bericht liess allerdings auf sich warten. Auf ihre Nachfrage hin hiess es, Jeremias solle wegen der Lungenblutungen zur Kur nach Montana, die Höhenluft fördere deren Genesung. Da Jeremias wegen der vielen im Frühsommer anstehenden Arbeit zu Hause bleiben wollte, rieten sie Oktavia, ihrem Mann in Bodmen Sorge zu tragen. Sie leistete Folge und sorgte dafür, dass er sich nicht übermässig belastete. Die nächste Kontrolle zeigte in der Tat einen besseren Befund. Jahre später kam es dann zu einem Blutsturz, einer plötzlichen Blutung aus der Lunge. Der Klinikaufenthalt war nun unvermeidbar, obwohl Jeremias glaubte, dass man von Montana nicht mehr zurückkehre. Tochter Anny begleitete ihren Vater in die Klinik nach Montana, wo er rund zwei Monate verbrachte. Unerwartet früh stand er eines Tages wieder vor der Haustüre, sodass Oktavia ihn fragte, was er denn schon wieder zu Hause mache. Die Lungenprobleme und der ständige Husten begleiteten ihn jedoch sein Leben lang.

      Jeremias wurde Landwirt und Weinbauer und lebte wie schon seine Vorfahren als Selbstversorger. Rare Geldquellen waren der Verkauf von Trauben oder Wein oder eines Tiers. Die Aluminium Industrie AG führte zwar ab 1908 in Chippis bei Siders eine Aluminiumhütte, expandierte kräftig und ermöglichte vielen Varnern in der Folge ein regelmässiges Einkommen als Arbeiterbauern. Jeremias entschied sich jedoch gegen die Fabrik, da die Familie relativ viel Gut besass, der Besitz an Boden und Vieh ein wichtiges Element des sozialen Status war und Lohnarbeit in dieser auf Selbstständigkeit ausgerichteten Wirtschaft als Zeichen der Abhängigkeit und Armut galt.36 So gingen auch eher diejenigen in die Fabrik arbeiten, die selbst wenig Gut besassen. Aus demselben Grund arbeiteten nur wenige Personen im Oberwallis hauptberuflich als Handwerker. Wegen der hohen Unfallgefahr und dem langen Arbeiten in Hitze und Lärm hatte die Fabrik einen schlechten Ruf. So meinte Jeremias, er gehe nicht in die Fabrik arbeiten, weil dort alle krank würden. Auch die Niederschlagung eines Streiks im Jahr 1917 und die Entlassung von mehr als 1000 Arbeitern aufgrund der Weltwirtschaftskrise von 1929 trugen zur schlechten Reputation bei.37 Darüber hinaus zeigten sich nach Inbetriebnahme der Aluminiumhütte Umweltschäden an Reben, Aprikosenbäumen, Wäldern und Kühen in der Umgebung, welche von den Betroffenen auf die Fluoremissionen zurückgeführt wurden, die bei der Elektrolyse des Metalls in die Atmosphäre entwichen.38 In den Jahren von 1918 bis 1928 führte dies zum ersten «Fluorkrieg», in dem die Aluminium Industrie AG durch das Aufmarschieren zahlreicher Experten, die die Abgase für unschädlich erklärten, schliesslich einen Vergleich mit den betroffenen Bauern erreichte.39

      Jeremias mit Mutter Leonie und Bruder Theodor (undatierte Aufnahme).

      Sein Bruder Theodor schlug hingegen eine akademische Laufbahn ein. Auf Anraten eines verwandten Priesters und mit dessen finanzieller Unterstützung besuchte der intelligente Jugendliche von 1904 bis 1911 das Kollegium in Brig mit dem Ziel, Priester zu werden, ein Amt, das zu jener Zeit mit grossem sozialen Ansehen verbunden war. Gemäss dem Jahresbericht des Kollegiums Brig von 1912 wurde damals jeder vierte Briger Student Priester.40 Wer kein Theologiestudium in Angriff nahm, wurde Notar, Advokat oder Arzt. Frauen war der Zutritt zum Kollegium bis ins Jahr 1967 verwehrt.41 Die Absenz Theodors führte dazu, dass der daheim gebliebene Jeremias noch stärker anpacken musste, um die Güter und das Vieh zu bewirtschaften und dem Bruder das Studium zu ermöglichen. Als einer der wenigen im Dorf, die das Kollegium absolvierten, leitete Theodor während der Jahre am Gymnasium die Theatergruppe Varen, in der auch Jeremias mitspielte. Die Matura konnte Theodor zu jener Zeit jedoch nicht in Brig absolvieren, sondern musste das Gymnasium mit einem einjährigen Cours technique am Lycée cantonal in Sitten abschliessen.42 Das Walliser Schulsystem gab damals schweizweit zu Klagen Anlass, was auf das Zusammenlegen von jeweils zwei Jahrgängen und die mangelnde Qualifikation der Lehrer beziehungsweise deren erbärmliche Besoldung zurückzuführen war.43 1906 erliess die Eidgenossenschaft ein Maturitätsreglement, welches das Wallis zu Anpassungen zwang, wollte man eine anerkannte Maturität und somit den prüfungsfreien Eintritt in die Universitäten. Staatsrat Burgener wollte deshalb während Theodors Gymnasialzeit die letzten zwei Gymnasialklassen nach Sitten verlegen, wogegen im Oberwallis heftige Opposition entstand. Nach langen und harten Kämpfen und nachdem die naturwissenschaftlichen Fächer gestärkt wurden, erteilte man in Brig im Sommer 1911 erstmals die eidgenössische Matura.

      Je näher die Matura rückte, umso klarer wurde es für Theodor, dass er nicht in den Dienst der Kirche eintreten wollte. Dies stellte für seine Mutter eine Riesenenttäuschung dar. Stattdessen begann der mathematisch Begabte im Herbst 1912 als 21-Jähriger ein Studium zum Maschineningenieur an der ETH in Zürich. Dies war aussergewöhnlich, denn trotz der grossen Industriewerke studierte zu Beginn des Jahrhunderts kaum ein Walliser an der ETH und wurde Ingenieur oder Chemiker, was wohl auch mit der schlechten Ausbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern zusammenhängen dürfte. Theodor wohnte bei Jesuiten, die den Studenten aus Bergkantonen halfen, sich in der Stadt und an der Universität zurechtzufinden und sich angemessen zu kleiden. Zudem war Theodor alias «Knurr» Mitglied der katholischen Studentenverbindung der Kyburger (Akademische Kommentverbindung Kyburger), die 1912 als Tochterbewegung der Akademischen Verbindung Turicia gegründet wurde und neben der Pflege der Geselligkeit auch die Rechte der damals noch kleinen katholischen Minderheit in Zürich wahren und vergrössern sollte.44

      Obwohl er zu den Übungen der höheren Semester zugelassen war, brach er sein Studium nach zwei Semestern im Frühling 1913 ab und kehrte ins Wallis zurück, wo er wieder bei seiner Mutter und seinem Bruder wohnte.45 Während sechs Monaten absolvierte er anschliessend ein Praktikum bei der Firma Brown Boveri & Cie. im Zweiggeschäft in Münchenstein bei Basel. Im zweiten Anlauf begann er im Oktober 1915 an der ETH in Zürich die Ausbildung zum Elektroingenieur. Er fiel jedoch zweimal bei der zweiten Vordiplomprüfung durch, sodass eine weitere Zulassung verwirkt war.46 Noch während seines Studiums lernte er in Zürich die Solothurnerin Frieda Maria Luterbacher kennen, Tochter des wohlhabenden Solothurner Uhrenfabrikanten Josef Luterbacher. Frieda hatte, wie bei Töchtern der Elite in katholischen Kantonen üblich, die Matura am Mädchengymnasium Académie Sainte-Croix in Freiburg absolviert.47 Wohl wegen der liberalen Gesinnung ihres Vaters studierte sie anschliessend Italienisch und Französisch an der Philosophischen Fakultät in Zürich und nicht an der katholischen Universität Freiburg. An Weihnachten 1918, anlässlich eines Besuchs bei der Familie im Wallis, schickte der 27-jährige Theodor seiner sechs Jahre jüngeren Frieda eine Postkarte, auf der eine Aufnahme des verschneiten Dorfs Varen zu sehen ist.

      Liebe Friedy

      Bin glücklich und ohne Unglück heimgekehrt. Bei uns liegt alles im tiefen Winter, auf diesem Bild kannst du dir einen Begriff machen vom Dorfe Varen. Siehst wie es hier im Wallis zwar idyllisch aber doch immerhin abgestorben aussieht. Auf alle Fälle fühle ich mich heimisch im Kreise meiner Angehörigen […].

      Theodor verliess die ETH im Frühling 1919 ohne Diplom und bekundete grosse Mühe beim Finden einer Arbeitsstelle. Um Arbeitserfahrung sammeln zu können, bezahlte er sogar für eine Praktikumsstelle in Oerlikon. Er hätte das kleine Dalakraftwerk im Tal gegen Leukerbad leiten können, dafür konnte sich Frieda allerdings überhaupt nicht begeistern. So wohnte er immer wieder und während längerer Perioden zu Hause bei seiner Mutter und seinem Bruder, ohne ihnen aber bei den Arbeiten in der Landwirtschaft