Sybille Bayard Walpen

Der Clan vom Berg


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jeweils mit dem Zug von Varen zu den Arbeitsstellen pendelte, bevor sie im Juni 1923 für die Sommersaison auf die Fiescheralp ins Hotel Jungfrau-Eggishorn wechselte, einem Grandhotel am Fuss des Eggishorns. Sie fühlte sich wohl dort und stand in einem guten Verhältnis zur Besitzerfamilie Cathrein, die auch verschiedene Hotels auf der Riederalp führte. Die Fotografie aus jener Zeit zeigt eine elegante Frau mit dunklem Rock, Bluse, Jacke, Hut mit breiter Krempe, passenden Schuhen und Unterarmtasche, die selbstbewusst in die Kamera blickt.

      Nicht nur wegen ihres Einstiegs ins Gastgewerbe nahm Oktavias Lohn zu jener Zeit sprunghaft zu. Die Hotellerie erholte sich damals auch langsam vom Schock des Ersten Weltkriegs.31 Während sie 1921 in Mariastein 80 Franken Lohn und bis zu 60 Franken Trinkgeld im Monat verdiente, erhielt sie 1923 im Hotel Jungfrau-Eggishorn auf der Fiescheralp neben einem bescheidenen Lohn von 15 Franken bis zu 440 Franken Trinkgeld. Dies war allerdings ein saisonaler Arbeitsplatz, der während zweier bis dreier Monate einen überaus hohen Einsatz erforderte. Im Gegensatz zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als sich die Kundschaft der herrschaftlichen Gebirgshotels vorwiegend aus dem vermögenden europäischen Grossbürgertum zusammensetzte, dürfte Oktavia im Hotel Jungfrau-Eggishorn während der Zwischenkriegszeit aufgrund des Aufkommens des Inlandtourismus überwiegend mit wohlhabenden Schweizer Gästen in Kontakt gekommen sein.32 Der Luxus des Berghotels kontrastierte dabei auch in der Zwischenkriegszeit mit der Lebenswelt der Bergbauern. Während sich die Bauern auf der Alp in der Aletschregion bis weit ins 20. Jahrhundert vorwiegend von Schpiis [kalten Speisen wie Roggenbrot, Käse und getrockneten Fleischwaren] ernährten, wurde den Gästen im Hotel Jungfrau-Eggishorn Sardinen, Spargeln, Artischocken oder Safran und die Getränke in eigens dafür vorgesehenen Wasser-, Wein-, Champagner-, Vermouth-, Liqueur-, Absinth-, Bier- und Milchgläsern serviert. Auch die Ausstattung war sehr differenziert. Dazu gehörten Fumoir, Salon, Hotelhalle, Speisesaal und Gaststube. In weiteren Gebäuden befanden sich ein Postbureau, zwei Kapellen, ein Verkaufsbazar und anliegend ein Tennisplatz.33

      Oktavia als junge Frau (undatierte Aufnahme).

      Das verdiente Geld gab Oktavia in den ersten drei Jahren ihrer Buchführung fast ausnahmslos der Mutter. Es war für ihre Eltern ein dringend benötigter finanzieller Zustupf. Als ihr Lohn in den 1920er-Jahren stieg, gab sie ihren Eltern einen Teil des Lohns und überwies den Rest auf ein eigenes Bankkonto. Sie selbst lebte sehr sparsam. Geld gab sie nur für das Notwendigste aus: für Strümpfe, Unterröcke, Flickarbeit und Stoffe, für Briefmarken und Briefpapier, Haarkämme und Haarwasser, für Fotografien und für die Reisen von und zu ihren Arbeitsstellen. Genussmittel wie Schokolade, Kaffee oder ein Glas Wein beziehungsweise Freizeitaktivitäten wie eine Schifffahrt leistete sie sich nur ausnahmsweise. Ein einmaliger Besuch in einem Theater und in einem Schwitzbad in Bern im Jahr 1925 kostete je fünf Franken Eintritt. Hingegen liess sie ab 1924 für zwei bis fünf Franken regelmässig Messen für ihre verstorbenen Vorfahren lesen. Wegen fehlender Krankenversicherung übernahm sie die Arzt- oder Zahnarztkosten von 30 bis 70 Franken jeweils selbst.

      Nach Abschluss der Sommersaison 1923 auf der Fiescheralp arbeitete Oktavia an drei Orten am Genfersee, in Lausanne, in Saint- Cergue bei Nyon und in Chexbres bei Lausanne, bevor sie nach Varen zurückkehrte und erneut im Café de la Poste servierte. Im Mai 1924 reiste sie nach Lourdes zur Wallfahrt. In der Sommersaison 1924 arbeitete sie wiederum auf der Fiescheralp und wechselte für die Wintersaison 1924/25 nach Grenchen. Die nächsten Stationen waren La Chaux-de- Fonds, Laufenburg, Zürich, Varen, Grindelwald, Bern und Montana, wo sie jeweils nur wenige Wochen oder Monate blieb. Ohne zugesicherte Stelle reiste sie danach ins Tessin und kam dort mit nur fünf Franken in der Tasche an. Als Erstes ging sie in eine Kirche und liess für einen ihrer Vorfahren eine Messe lesen. Kurz darauf fand sie dann die Stelle im Kurhaus Cademario mit Blick auf den Luganersee. Ihre Tochter Anny erinnert sich noch heute, dass diese Geschichte sie als Kind sehr beeindruckte: Da kann man eine Messe lesen lassen und erhält dann eine Stelle.

      Wie schon in Leysin kam sie im Kurhaus im Tessin mit den damaligen modernen medizinischen Behandlungen in Kontakt. Der aus der Ostschweiz stammende Arzt Adolf Keller-Hoerschelmann vereinte in der neu gebauten Naturheilanstalt im sonnigen Süden alternative Heilmethoden im Bereich des Sports, der Diät, der Atmungstechniken und der Suggestion zu einem eigenen reformistischen Ansatz. Die natürliche Lebens- und Heilweise mit Bewegung, Entspannung, Licht, Luft und Sonne sollte zur Heilung wie auch zur Vorbeugung von krankhaften Störungen beitragen. In den 1920er-Jahren ging das Kurhaus auch in Sachen Ernährung neue Wege. So wurden Fastentage und Rohkosttage durchgeführt und den Gästen gedämpftes, salzloses Gemüse angeboten.34

      Nach ein paar Monaten in Cademario und der Reise nach Le Havre kehrte Oktavia ins Wallis zurück, um im November 1926 Jeremias Bayard zu heiraten. Schon im Vorjahr hatte sie mit den Vorbereitungen für ihre Hochzeit begonnen und sich in regelmässigen Abständen Teile ihrer Aussteuer gekauft: Zweimalig erwarb sie 1925 in einem Warenhaus in Bern Leintücher, Kissen, Kissenbezüge, Duvets, Türvorlagen, Moltons, Tischtücher, Stoff und Geschirr. Von ihrer Mutter erhielt sie selbst gewobene, robuste und sehr langlebige Bettwäsche. Sie liess in Lausanne für 50 Franken Fotografien von sich anfertigen, während Ringe und Ringsiegel 125 Franken kosteten. Zum Zeitpunkt der Hochzeit war Oktavia 29 und Jeremias 31 Jahre alt, ein damals übliches Heiratsalter, denn die jungen Leute mussten in bäuerlichen Gegenden oftmals zuwarten, bis sie genügend Geld für den Ehestand verdient hatten oder ihnen ein Teil des elterlichen Erbes zukam.35 Wie sie selbst notierte, hatte Oktavia in den elf Jahren insgesamt 10 710 Franken gespart, welche sie in die Ehe einbrachte. Davon hatte sie zu jenem Zeitpunkt 3000 Franken ihrer Schwester Serafine und 1089 Franken ihrem Bruder Theodul geliehen, wobei sie von beiden regelmässigen Zins erhielt. Der Rest lag auf verschiedenen Bankkonten. Jeremias hingegen verfügte zum Zeitpunkt der Hochzeit über kein eigenes Geld. Er brachte jedoch eine recht ansehnliche Anzahl Güter in die Ehe ein.

      Aussteuerrechnung Oktavias (1926).

      Jeremias führt die Tradition fort

      Jeremias, auch Mias oder ds’Miji genannt, wuchs zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder Theodor in der oberen Wohnung eines schmalen Hauses am Kegelplatz auf, einem etwas von der Hauptgasse zurückversetzten Platz im Zentrum von Varen. Die Familie lebte von der Landwirtschaft und vom Rebbau. Seine Mutter Leonie, geborene Varonier, zog die Buben allein auf, denn 1897, als Jeremias zweijährig war, starb sein Vater an Auszehrung, eine damals übliche Bezeichnung für eine durch Krankheiten wie Krebs oder Tuberkulose verursachte Abmagerung. Auf diesen Schicksalsschlag folgten gleich zwei weitere: Innerhalb eines Jahres verlor die Mutter nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre beiden Töchter. Da Leonie die Rebarbeiten nicht allein bewältigen konnte, griff sie nach dem Tod ihres Mannes auf die Hilfe von Tagelöhnern zurück. Auch Jeremias und Theodor mussten der Mutter schon sehr früh bei der Bewirtschaftung des familiären Guts helfen, weshalb Jeremias auch keinen Militärdienst verrichtete.

      Jeremias’ Kindheit war durch tägliches, intensives Beten geprägt. Während Mutter Leonie im Winter ein paar Wochen lang mit dem Vieh im Maiensäss in Bodmen weilte, wohnten Jeremias und sein Bruder bei einer Tante im Dorf, die als Pfarrhaushälterin arbeitete. Dort mussten sie jeden Abend den Rosenkranz, die fünf Wunden, den englischen Gruss und den Psalter beten. Wegen der nicht enden wollenden Aneinanderreihung von Gebeten versuchte Jeremias, die wiederkehrenden zehn Ave-Maria des Rosenkranzes auf neun, acht oder sogar sieben Gebete abzukürzen, bis die Tante dies merkte und ihn ermahnte. Er habe während seiner Kindheit genug gebetet, erzählte er seinen eigenen Kindern später gerne.

      Die beiden Brüder waren von ganz unterschiedlicher Statur: Der grosse und schlanke, ja schon hagere Jeremias glich eher dem Vater, während Theodor mit dem grossen, runden Kopf, dem stämmigen Körperbau und der eher geringen Grösse von 1,65 Metern der Mutter ähnelte. An seiner linken Hand besass Jeremias nur vier Finger. Als Jugendlicher verlor er seinen kleinen Finger beim gemeinsamen Holzspalten mit Theodor. Während Jeremias d’Misilju [das Stammteil] hielt, wollte Theodor dieses mit der Axt in Holzscheite schlagen und erwischte versehentlich Jeremias’ kleinen Finger. Da kein