im Bad oder sonst wo. Und heute sagt man, die Kinder sollen lesen. Ich ging auch gerne in die Kirche. Da hatte ich wenigstens die Gelegenheit, jemanden ausserhalb der Familie zu sehen. Religion war selbstverständlich. In dieser Zeit musste ich zumindest nicht arbeiten.
Mary, die Zweitgeborene, war das genaue Gegenteil von mir. Sie war lustig und übermütig. Ich durfte nicht. Ich war die Stille und Seriöse. Als Erstgeborene musste ich das Beispiel für die anderen sein, das drillen sie dir ein. Ich konnte es der Mutter auch nicht recht machen, ich war ihr zu wenig aktiv, zu ruhig, glaube ich. Vielleicht ging ich ihr auch speziell auf die Nerven, weil ich nicht aus mir herauskam. Das ist schon möglich, das weiss ich nicht. Tante Anna hatte ein Radio. Sie sagte zu meiner Mutter: «Das müsst ihr auch anschaffen.» Meine Eltern kauften sich noch während des Kriegs ein Radio. Dazu musste aber erst eine Antenne montiert werden. Ich hörte gerne den Radiosender «Die Stimme Amerikas»49. Während des Kriegs wurde dort Propaganda gesendet, und ich interessierte mich für die Informationen. Mary hingegen wollte immer Musik hören.
Als der Krieg losging, waren wir in unserem Maiensäss in Bodmen. Als wir zurück nach Varen kamen, sagte die Mutter zu mir, wir hätten keine Polenta mehr. Wir assen fast jeden Tag Polenta. Ich solle doch in den Konsum welche holen gehen. Dazumal kauften wir ganze Säcke, die wohl um die 50 Kilo schwer waren. Im Konsum sagten sie mir, man könne Polenta nur noch kaufen, wenn man die entsprechenden Coupons erhalten habe. Das war schlimm für uns, denn wir hatten zu wenig Polenta-Coupons, und ohne Polenta konnten wir nicht leben. Da wir Wein produzierten und Bienen hatten, bekamen wir während des Kriegs Extra-Zuckerrationen. Das war allerdings kein normaler Zucker, sondern ein spezieller. Statt ihn für den Wein oder die Bienen zu brauchen, verwendeten wir einen Teil für uns selbst. Die übrig gebliebenen Zucker-Coupons schickte meine Mutter nach Genf zu Leuten, mit denen sie oft Kontakt hatte. Im Gegenzug schickten die Genfer uns ihre Polenta-Coupons. So hatten wir während des Kriegs genug Polenta. Meine Mutter wäre eine gute Geschäftsfrau geworden. In den späten Kriegsjahren nahmen sie abgetrennte Coupons im Konsum nicht mehr an, da sie wussten, dass sie von woanders herstammten. Da war ich 14 oder 15 Jahre alt und empfand das als grosse Ungerechtigkeit. Der Übername unserer Familie, di Gfrornu [die Gefrorenen], stammt auch aus dieser Zeit. Während eines Frühjahrs gefroren Reben und Fruchtbäume, sodass Entschädigungen bezahlt wurden, damit die Bauern überleben konnten. Da wir viele Kinder waren und relativ viele Reben und viel Gut besassen, erhielten wir auch eine entsprechende Entschädigung. Das rief Neid hervor. Ich nahm es auf jeden Fall so wahr. Seither sind wir di Gfrornu im Dorf.
Den Krieg nahmen wir nur indirekt wahr. Als Flugzeuge abends den Himmel Richtung Süden passierten, sagte der Vater: «Schau, jetzt sind die Flieger ganz schwer. Wenn sie in der Nacht oder am nächsten Morgen zurückkommen, sind sie dann ganz leicht.» Und in der Tat, am nächsten Morgen überflogen die Flugzeuge das Wallis ohne Ladung. In der Zeitung stand dann, sie hätten diese oder jene Gegend bombardiert. Am Abend hiess es auch immer, man solle die Fenster verdunkeln. Am Himmel hörte man das Surren der Flieger. Da mein Vater keinen Militärdienst geleistet hatte, wurde er während des Zweiten Weltkriegs nicht eingezogen. Wie oft half er anderen Frauen, deren Männer eingezogen wurden oder die ihren Mann verloren hatten! Er ging mähen und half, das Heu in die Schiir [Scheune] einzubringen. Der Vater sagte oft: «Helft einander». Das haben wir gemacht, alle. Um die Produktion anzukurbeln, wurden die Waren während des Kriegs etwas besser bezahlt. Man erhielt mehr Geld, wenn man Wein oder ein Tier verkaufte. So ging es den Leuten auch mit Selbstversorgung allmählich etwas besser. Nach dem Krieg sagte die Mutter: «Jetzt geht es dann wieder zurück mit den Preisen.» Sie gingen aber nie mehr anhaltend zurück. Nach dem Krieg verbesserte sich das Leben im ganzen Land.
Ganz früher hatten wir wenig Kontakt zu den anderen im Dorf. Wir waren ja selbst eine grosse Familie. Jede Familie war für sich. Als Kind lernte ich: Du darfst nichts erzählen. Was in der Familie passiert, das geht die anderen nichts an. Jeder musste für sich schauen, sonst ging man unter. Wenn das Misère [Unglück] da ist, dann schaut jeder zuerst für sich. Das ist normal. Und wenn alle genug haben, dann kannst du teilen. Verstehst du? Das kannst du nicht anders machen. Du schaust für dich, du musst, sonst überlebst du nicht.
Mit den Verwandten hatten wir Kontakt. Die Buben arbeiteten manchmal für Onkel Theodul, den Bruder meiner Mutter. Tante Serafine, die Schwester meiner Mutter, sahen wir oft. Wir halfen einander. Sie half uns beim Rebenbinden und wir gingen ihr Heuen. Wir gingen auch oft zu Tante Serafine und tauschten uns mit ihr aus. Ich weinte mich auch hin und wieder bei ihr aus, wenn ich grossen Kummer hatte. Oder ich ging zu meiner Lieblingskuh, dem Hasu, einer weissen Kuh mit geraden Hörnern. Schon als kleines Mädchen durfte ich den Hasu führen, wenn wir mit dem Vater aufs Feld gingen. Die Kuh war immer da, wenn wir sie brauchten. Sie gehörte zur Familie, sie teilte Freud und Leid mit uns. Nach getaner Feldarbeit hirtete ich sie. Ich war dadurch oft mit ihr alleine, was ich sehr schätzte. Einmal gingen Mary und ich sie hüten und sagten zueinander, dass wir doch auch auf ihr reiten könnten. Gesagt, getan. Ich führte die Kuh gegen eine Mauer, Mary stieg auf und wir liefen gemeinsam ein Stück. Da bekam ich Angst und sagte zu ihr, sie solle heruntersteigen. Als wir abends nach Hause zurückkehrten, gab es ein Donnerwetter. Jemand hatte uns beobachtet und es dem Vater erzählt. Man könne auf einer Kuh nicht reiten, dafür seien die Pferde da, so sagte er. Um Heu von der Scheune in den Pflanowinien nach Varen zu transportieren, musste man entweder das Heu selbst tragen oder ein Pferd mieten. Aufgrund unseres Experiments kam der Vater jedoch auf die Idee, dass die Kuh, wenn sie ein Kind tragen könne, auch Heu müsse tragen können. So versuchte er es, und in der Tat trug der Hasu das Heu hoch nach Varen. Das kam sehr gelegen, denn es war Krieg und die Pferde waren für das Militär eingezogen worden. Später schleppte der Hasu sogar Baumaterialien und Zementsäcke von Birchen hoch in die Weid, als der Vater dort umbaute, um die Küche mit dem Zimmer zu verbinden. Als der Hasu alt war, ging der Vater mit ihm nach Leuk auf den Markt. Mir tat das Herz weh und ich hoffte, er könne ihn nicht verkaufen. Vater kam jedoch alleine zurück und ich war todunglücklich.
Später arbeitete ich bei Tante Anna, einer weiteren Schwester meiner Mutter, kurz vor ihrem Tod. Als ihre drei Kinder noch ganz klein waren, starb Anna an Magenkrebs. Während der Krankheit half ich ihr und machte die Haushaltung. Auch bei Kriegsende war ich noch bei ihr. Überall läuteten die Glocken. Das weiss ich noch gut, alle freuten sich, jetzt ist Frieden, der Krieg ist fertig. Als Anna dann starb, kehrte ich wieder nach Hause zurück. Ich sah Annas Mann Pius viel später einmal, da konnte er schon fast nicht mehr laufen. «Du hast mir doch dazumal geholfen», meinte er, «als ds’Anny krank war. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, weil ich dich zu wenig entlohnt habe.» Ich erwiderte: «Das ist apa [wahrscheinlich] schon richtig gewesen.» Aber es stimmt schon, er gab mir nichts. Und ich erinnere mich, dass auch der Vater sagte, das sei eigentlich schon haarig, da gebe man das Mädchen und erhalte nicht einmal ein Merci. Mir war das egal, ich brauchte ja auch nichts. Man muss aber schon sagen, im Dorf hatte niemand Geld, ausser denjenigen, die in der Alusuisse in Chippis arbeiteten. Das Leben hat sich so geändert seither. Die Leute früher haben alle so gelebt, während Jahrhunderten. Alle Annehmlichkeiten des heutigen Lebens gab es dazumal nicht.
Man hatte noch keine Sekundarschule dazumal. René war der Erste, der nach sechs Jahren Primarschule dorthin ging, nachdem sie Mitte der Vierzigerjahre in Leuk die Schule aufgemacht hatten. Ich musste stattdessen drei Jahre in die gleiche Klasse. Den Grund hierfür weiss ich nicht. Der Vater sagte, das gehe doch nicht. So haben sie mich abgemeldet. Meine Tante Marie, die Klosterfrau in Ingenbohl, sagte: «Schick sie mir doch, ich nehme sie schon.» Sie arbeitete dort als Lehrerin. Dann wohnte ich in zwei verschiedenen Familien in Brunnen und Ingenbohl und musste von Brunnen hinauf zur Schule laufen. Als ich manchmal bei Tante Marie übernachtete, machte sie immer die Läden zu. Ich war nicht offiziell bei ihr. Ich war nicht gerne dort, denn gelernt habe ich nichts. Am Schluss hat sie mir aber nur Einser ins Notenbüchlein geschrieben. Das war dazumal die beste Note.
Die Mutter wollte, dass alle Kinder, auch die Mädchen, etwas Richtiges lernen. Dass Mädchen eine Lehre machten, war in Varen zu jener Zeit nicht häufig der Fall. Im Dorf sagten sie, da habe man zu Hause so viel zu tun, da gebe man doch die Mädchen nicht weg. Aber meiner Mutter war das wichtig. Es war sie und nicht der Vater, die wollte, dass wir in die Fremde gingen. Das ist ihr hoch