Sybille Bayard Walpen

Der Clan vom Berg


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fragte, ob ich dort die Lehre machen könne. Sie sagten mir, das sei möglich, ich müsse aber einen gewissen Betrag pro Monat dafür bezahlen. Kannst du dir das vorstellen, Geld zu bezahlen, ich als Erstgeborene! Da gab ich die Idee wieder auf. Ich bin die Einzige ohne Lehre, mit Ausnahme von Markus machten alle eine Ausbildung. Die Mutter hätte es mir bezahlt, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihr das zu sagen, verstehst du. Onkel Pius meinte, ich hätte Lehrerin werden sollen, ich war gut in der Schule.

      Als das mit der Büroarbeit nicht klappte, ging ich in die Stellen, ich ging servieren. Das war das Einzige, das man ohne Lehre machen konnte. Zuvor arbeitete ich aber noch in Sitten bei einer Familie mit vier Kindern, um Französisch zu lernen. Da war ich 16 Jahre alt. Dort verdiente ich 35 Franken im Monat. Die Mutter meinte, für die viele Arbeit von morgens bis abends sei das doch etwas zu wenig. Das sagte ich der Patronne [Chefin], die mir prompt den Lohn auf 40 Franken erhöhte. Das Jahr beendete ich aber trotzdem nicht, denn der Vater sagte: «Komm’ doch nach Hause, wir haben hier Arbeit für dich.»

      Die erste richtige Stelle trat ich im Tearoom Singerhaus am Basler Marktplatz an. Kurz nach dem Krieg servierte ich dort Patisserie. Die Grenzen waren aufgegangen und die Leute aus Mulhouse strömten herbei. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Patisserie die assen, tellerweise verkaufte ich. C’était incroyable! [Das war unglaublich!] Das war etwas Spezielles für die, die hatten doch jahrelang keine mehr gegessen. Später fragte ich die Patronne, ob ich nicht nur Patisserie verkaufen, sondern auch Kaffee servieren könne. Da durfte ich servieren. Als ich 20 war, machte ich im Hotel St. Georges in Montana zwei Jahre lang den Saal. Franz und Mary arbeiteten im selben Hotel. Nach Montana war ich in Siders im Hôtel Bellevue. Danach in Zermatt im Hotel Seilerhaus, dort servierte ich auch Essen. So bin ich immer ein bisschen aufgestiegen. In Zermatt waren es Saisonstellen, da war ich zwei oder drei Mal. Ich erinnere mich, dass ich dort Fisch ausnehmen musste. Das hatte ich aber vorher noch nie gemacht. Der Patron [Chef] machte mir anschliessend ein Kompliment. Ich dachte, wenn der wüsste, dass ich das erste Mal Fisch ausgenommen hatte. Meine Mutter sagte immer: «Du musst mit den Augen lernen. Schauen.»

      Danach war ich zwei Jahre im Restaurant Walliserkeller in Bern, da ich gehört hatte, dass es dort gute Arbeitsstellen gibt. Ich erhielt zwar keinen Lohn und das Zimmer musste ich selbst organisieren. Das Trinkgeld war aber grosszügig und so verdiente ich trotzdem relativ gut. Ich behielt nie einen Rappen selbst, sondern schickte immer alles heim. Da muss ich meiner Mutter ein Kompliment machen. Meine Eltern benötigten das Geld zwar, aber die Mutter legte immer einen Teil auf die Seite. An meiner Hochzeit gab sie mir ein Bankbüchlein. Das fand ich nett.

      Ich wollte nach England gehen, um Englisch zu lernen. Da es in Zermatt viele englischsprachige Gäste gab, musste man dort Englisch sprechen. Meine Mutter machte aber ein Drama. Sie wollte nicht, dass ich weggehe. Sie sagte, es gebe eine Englischschule in Oertlimatt bei Interlaken, ich solle dort Englisch lernen, mein Bruder Franz gehe auch dorthin. «Du gehst nicht nach England, das ist überhaupt nichts.» So besuchte ich diese Schule in Interlaken. Es fuchste mich jedoch, dass ich nicht nach England gegangen war, denn sie hatten mir dort schon eine Stelle zugesichert, die ich absagen musste. In Interlaken lernte ich meinen Mann Désiré kennen, ein Wink des Schicksals. Danach bereute ich es nicht mehr. Er lernte Englisch, weil er nach Kanada wollte, um dort zu arbeiten. Weil er anschliessend aber in Zürich arbeitete, nahm ich eine Stelle in Bern an. Dort war ich in der Mitte zwischen seinem Arbeits- und seinem Heimatort Montreux. Auf dem Weg nach Hause kam er mich in Bern besuchen. Später fand er eine Stelle in Yverdon und wollte mich in seiner Nähe haben. Aber das war mir ein bisschen zu nahe, denn dazumal musste man aufpassen, wenn man zusammen war. Darum ging ich nach Genf, nicht allzu nahe, dann nach Lausanne. Immer ein bisschen näher. Dann heirateten wir. Bon, voilà.

      Früher heiratete man in Varen im Deuxpièces in Schwarz. Ich wollte aber unbedingt in Weiss heiraten. Ich war die Erste im Dorf. Danach heirateten die anderen auch in Weiss. Dasselbe war mit den Hüten, die die Mädchen und Frauen zu jener Zeit am Sonntag immer tragen mussten, wenn sie zur Messe gingen. Ich arbeitete in Sitten und hatte gesehen, dass sie dort keinen Hut trugen. Ich hasste den Hut. So ging ich ohne Hut zur Messe. Das war skandalös. Meine Mutter schämte sich und ging stattdessen in die Frühmesse. Das nächste Mal, als ich in Varen zur Messe ging, waren schon drei ohne Hut. Beim dritten Mal hatte kein Mädchen mehr einen Hut auf. Ich war halt weg gewesen und hatte gesehen, dass es anders sein konnte.

      Anfang der Sechzigerjahre baute uns mein Bruder Alfons in Montreux das neue Haus. Kaum aus der Maurerlehre war er, stell dir das einmal vor. Er hatte einen Handlanger, der den Zement mischte und anrührte. Auch die Brüder Arnold und Markus kamen manchmal am Samstag helfen. Zwei Sommer lang dauerten die Bauarbeiten. Nach dem ersten Sommer war der erste Stock fertig. Dazwischen machte Alfons in St. Gallen die Ausbildung zum Polier. Und wie er das gebaut hat, das ist so ein gutes Haus. Wir hatten zum Glück einen guten Architekten. Mein Mann hatte gerne moderne Architektur, es ist ein modernes Haus. Mary, Anny und auch Franz liehen uns Geld. Jeder gab so viel, wie er konnte. Darum mussten wir weniger Geld aufnehmen. Der Zins war dazumal sehr hoch.

      Hedys Haus in Montreux kurz nach der Fertigstellung (undatierte Aufnahme).

      Als Désiré kurz nach Abschluss der Bauarbeiten starb, da hatte ich nie Angst. Er kam bei einem Unfall mit Starkstrom am Arbeitsplatz ums Leben. Der Strom war nicht abgestellt, als er etwas flicken wollte. Daniel, das jüngste unserer vier Kinder, war dazumal zwei Jahre alt. Auch meine beiden Grossväter starben früh. Das liegt in der Familie, das frühe Sterben der Väter. Ich hatte immer Angst, dass dies weitergeht, dass die Väter sterben, wenn ihre Kinder noch ganz klein sind. Auch meine Schwiegermutter verlor ihren Mann früh wegen einer Krankheit. Zu jener Zeit hatten sie jedoch noch keine Versicherung. Désiré hatte zum grossen Glück Versicherungen abgeschlossen. So hatte ich auch als Hausfrau und Mutter mein Auskommen. Du weisst nicht, wie froh ich drum war.

      Zu wissen, dass die Familie da war, gab mir nach Désirés Tod eine Sicherheit, auch mit den kleinen Kindern. Ich wusste immer, wenn ich etwas brauche, dann kann ich zu den Brüdern und Schwestern gehen. Das half mir das ganze Leben lang. Zu wissen, dass du jemanden hast, zu dem du gehen kannst. Den guten Familiensinn haben uns unsere Eltern eingepflanzt. Wir sehen uns zwar nicht oft, aber wenn wir zusammenkommen, dann haben wir es gut.

      Zu Mutters 70. Geburtstag machten die Zwillinge, meine beiden jüngsten Geschwister, ein Fest. Da fiel mir etwas wieder ein, was mich jahrelang bedrückt hatte. Als die Zwillinge geboren wurden, da war ich 16 Jahre alt. Die Mutter musste die letzten zwei Monate vor der Geburt im Spital liegen, sonst hätte sie die Kinder verloren. Während dieser Zeit schickten sie mich als Älteste mit dem Vieh und den Kindern, die noch nicht in die Schule gingen, nach Bodmen. Das waren die drei Kleinsten, Erich, Markus und Alfons. Es war Ende Januar. Da wir dort Heu in der Schiir hatten, musste im Winter immer einer mit dem Vieh dorthin. Ich schaute zum Vieh und beaufsichtigte die Kinder. Der Vater blieb mit denjenigen, die zur Schule gingen, in Varen. Der Alfons war mit 14 Monaten der Jüngste und schiss mir nichts als in die Hosen. Die Mutter hatte so eine Angst, «Jesses Gott, das Kind isst nichts, der Kleine da alleine in Bodmen». Aber der Vater sagte: «Ich kann die nicht alle in Varen haben, das ist unmöglich.» Der Vater hatte ein unglaubliches Vertrauen, der sagte sich, das Kind macht das schon. Ich hätte alles für ihn gemacht. Ich machte dem Alfons Minästrasuppe [Minestrone]. Und der Kleine ass und ass und hatte eine angeregte Verdauung. Ich wusste nicht mehr, wie ich die Windeln trocknen sollte. Überall in der Küche waren Windeln aufgehängt und ich machte dauernd Feuer, damit sie trockneten. Ich war überfordert. Ich konnte den Kindern zu wenig Halt geben, ich war ja selbst noch ein Jungi [Kind]. Ah, bon dieu. Die anderen Varner, die zur gleichen Zeit in Bodmen waren, sagten, ich sei die Erste im Stall. Kein Wunder war ich die Erste. Der Erich hatte so eine Angst vor dem Vieh, dass ich die Kinder zu Hause schlafen liess. Ich musste vor ihrem Erwachen fertig sein. Im Stall hatten sie so Angst, sie weinten und weinten und weinten. Nichts als gitullut [geweint]. Ich wusste nicht mehr, was machen. Dem Vieh gab ich wahrscheinlich nicht genug Heu. Die wollten immer hinauf zur Schiir. Da habe ich versucht, Erich mit einem Stock dorthin zu stellen, er solle die Kühe abwehren. Aber als die erste Kuh den Grind drehte, sprang er vor Angst den auf beiden Seiten hochgestapelten Schnee ämbrüf [hoch]. Der Vater hatte mir schon gezeigt, wie viel Heu ich dem