Die aufkommende Freizeit- und Konsumgesellschaft führte dazu, dass der Sonntag vermehrt dazu genutzt wurde, Freizeitaktivitäten auszuüben und sich von der Arbeit zu erholen. Der Sonntag wurde verweltlicht und entglitt der Kontrolle der Kirche. Die Katholiken holten ihr wirtschaftliches Manko auf und gaben dabei grundlegende Werte der traditionellen katholischen Kultur auf. Die katholische Weltanschauung verlor ihren Absolutheitsanspruch. Die Modernisierung veränderte die hergebrachten Lebensweisen und die mit bäuerlichem Schaffen verbundenen Volksbräuche. Dabei kam es nicht plötzlich zu einer totalen Umkehrung der Werte, sondern zu einer Gleichzeitigkeit von Altem und Neuem. Während sich die technischen und wirtschaftlichen Lebensstrukturen rasch änderten, blieben die religiösen Volksbräuche eine Zeit lang weiterbestehen. So waren die Veränderungen der religiösen Praxis in den 1940er-Jahren zuerst unterschwellig, ab den 1960er-Jahren verliefen sie dann offensichtlich.
Oktavia zieht es in die Welt hinaus
D’Chachlini wurde Oktavias Familie in Varen genannt. Der Ausdruck bezeichnet Personen, denen schnell etwas kaputtgeht oder die leicht an andere Personen geraten. Oktavias Vater Theophil verdiente Geld mit Schreinerarbeiten, die er im Erdgeschoss des Wohnhauses im Ortsteil z’oberst Dorf in Varen ausübte. Mutter Barbara, geborene Jaggi, arbeitete als Weberin in Heimarbeit, wobei sich der grosse Webstuhl in einem Lokal im selben Haus befand. Daneben hielt die Familie Marty Nutztiere und war im Weinbau tätig. Als fünftes Kind im Jahr 1897 geboren, wuchs Oktavia mit ihren sechs Geschwistern Serafine, Theodul, Céline, Marie, Ignaz und Anna auf. Marie trat als 19-Jährige ins geschlossene Kloster von Gerunden in Siders ein und hiess nach dem Ablegen des Ordensgelübdes Schwester Ursula. Céline verstarb 1910 als 25-Jährige an Lungenkrebs. Drei Jahre später verstarb ihr Vater Theophil 54-jährig ebenfalls an Krebs. In Gesprächen mit ihren eigenen Kindern erwähnte Oktavia später ihren Vater nur selten. Ihre Mutter war ihr hingegen sehr wichtig. Nach dem Tod von Barbara liess Oktavia jedes Mal, wenn sie von ihr träumte, ihr zu Ehren eine Messe lesen.24
Wie für die meisten Mädchen im Wallis zu Beginn des letzten Jahrhunderts endete die obligatorische Schulpflicht für Oktavia mit zwölf Jahren. Bis weit in die 1950er-Jahre hinein hatte der Kanton den Frauen nur spärliche Ausbildungsmöglichkeiten anzubieten: Sehr wenige Töchter aus Berggemeinden besuchten ein von Klosterfrauen geführtes Pensionat, eine Mädchenhandelsschule oder ein Lehrerinnenseminar.25 In der oberen sozialen Schicht war die Abwehrhaltung gegen jegliche Berufstätigkeit der Frau allgemein verbreitet. In gewerblichen Kreisen wie dem Detailhandel, dem Gastgewerbe oder der Hotellerie war die Mitarbeit der Töchter und Ehefrauen im Rahmen des Familienbetriebs hingegen selbstverständlich. Eine Notwendigkeit war der Einsatz der Frauen bei den Arbeiterbauern, sie mussten einen Grossteil der landwirtschaftlichen Tätigkeiten im familiären Betrieb übernehmen.26 Bei den als Selbstversorger lebenden Bauernfamilien stellte der zusätzliche Einsatz der Frauen in Heimarbeit, im Hausdienst oder im Gastgewerbe ein kleines Erwerbseinkommen dar. Dabei herrschten teilweise prekäre Arbeits- und Lohnverhältnisse, obwohl die Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften, insbesondere Dienstbotinnen, zu jener Zeit im Wallis gross war. Im Gegensatz zu anderen Kantonen wie Tessin oder Uri, wo die Frauen in der Textilindustrie einen wesentlichen Teil der Arbeiterschaft stellten, waren Frauen in den von der Schwerindustrie geprägten Betrieben des Wallis hingegen nur selten anzutreffen.27
Auch Oktavia war als junge Frau zuerst im Hausdienst und anschliessend im Gastgewerbe tätig. In ihrem Haushaltsbüchlein sind all ihre Arbeitsstellen mit den entsprechenden Einnahmen und Ausgaben festgehalten. Als Erstes war sie als Haushaltshilfe bei der verarmten Adelsfamilie von Werra im Nachbardorf Leuk angestellt. Als sie dort im Sommer 1915 mit ihrer Buchführung begann, war sie 18 Jahre alt. Oktavia und Jeremias kannten sich zu jener Zeit bereits. Jeremias neckte Oktavia auch später noch gerne. Immer, wenn sie damals von Varen nach Leuk gelaufen sei, so meinte er, habe man bis weit hinunter Richtung Dalaschlucht den Hintern wackeln sehen.
Neben einem grossen Landwirtschaftsbetrieb gehörten der Familie von Werra bis 1912 auch zwei Schlösser, eines im Talgrund in Susten und ein kleineres für die Wintermonate am Sonnenhang in Leuk.28 Damit war die Familie die grösste Arbeitgeberin der Region. Der Notar, Grossrat und stellvertretende Regierungsstatthalter Leo von Werra war in der Region für seine Grosszügigkeit bekannt. Seine Frau Henriette, geborene de Wolff, stammte aus dem französischsprachigen Sitten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das familiäre Vermögen aufgebraucht. Nicht nur die Versuche, die Landwirtschaft rentabler zu machen, sondern auch Leo von Werras Projekte als Unternehmer und Erfinder scheiterten. Dies führte den stark verschuldeten Baron in einen juristisch umstrittenen Konkurs, und er verlor 1912 seinen gesamten Besitz. Das Schloss in Susten wurde zwangsversteigert. Es beherbergt seither ein Alters-, Pflege- und Behindertenheim. Die Familie von Werra mit ihren acht Kindern musste dauerhaft in ihre Winterresidenz nach Leuk ziehen und war in den darauffolgenden Jahren in grosser finanzieller Bedrängnis.
Oktavia verdiente in Leuk einen für damalige Verhältnisse geringen Lohn von 25 Franken im Monat, der manchmal durch ein paar wenige Franken Trinkgeld aufgebessert wurde. Sie fühlte sich bei der Familie von Werra jedoch sehr wohl und sprach immer positiv von der Zeit in Leuk. Henriette von Werra sei eine flotte Frau gewesen. Bei ihr lernte sie nicht nur Französisch, auch ihre Kochkünste eignete sie sich dort an. Kochen und Sparen lerne man bei reichen Leuten, so sagte sie. Omeletten mit Holderblüten war eines der Gerichte, das sie in Leuk lernte und später für ihre Familie zubereitete.
Im Oktober 1915, als sie erst ein paar Monate bei der Familie war, begleitete Oktavia die fast vierjährige Emma und den 15 Monate alten Franz von Werra von Leuk hinunter zum Bahnhof Susten, von wo aus sie mit dem Zug zu Adoptiveltern nach Süddeutschland gebracht wurden. Aufgrund der grossen materiellen Not hatten sich Leo von Werra und seine Frau Henriette dazu entschieden, zwei der insgesamt acht Kinder nach Deutschland zur Adoption freizugeben. Die Kinder wuchsen bei einer süddeutschen Adelsfamilie in Beuron auf, die allerdings in den 1930er-Jahren ebenfalls verarmte. Die scheue und introvertierte Emma kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Leuk zurück und lebte dort bis zu ihrem Tod. Der Draufgänger Franz hingegen trat 1935 in die deutsche Luftwaffe ein. Während des Kriegs wurde er über England abgeschossen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Während eines Gefangenentransports in Kanada sprang er vom fahrenden Zug und floh über den Sankt-Lorenz-Strom in die damals neutralen USA. Diese Geschichte machte ihn zum gefeierten Helden, und bei seiner Rückkehr wurde er von Adolf Hitler und Hermann Göring empfangen. Im November 1941 kam Franz bei einem Übungsflug über der Nordsee ums Leben.29
Auszug aus Oktavias Haushaltsbüchlein, Leuk ( 1916).
Nach dem Ende der Anstellung bei der Familie von Werra im Sommer 1917 arbeitete Oktavia gemäss den Angaben im Haushaltsbüchlein neun Jahre lang im Gastgewerbe an verschiedenen Orten in der Schweiz. Die Stellen fand sie entweder über ein Stellenvermittlungsbüro oder über Zeitungsannoncen. Nach eineinhalb Jahren in Brig wechselte sie 1919 nach Leysin, welches zu jener Zeit neben Davos ein international bekanntes Zentrum zur Behandlung von Knochentuberkulose war. Der therapeutische Ansatz basierte auf guter Ernährung, dem Aufenthalt im Freien und kalten Wassergüssen. Auguste Rollier, der 1903 in Leysin ein Sanatorium für Kinder mit Tuberkulose errichtete und bis 1940 rund 40 Sanatorien ausbaute, setzte zudem auf die heilende Kraft der Sonne.30 In Leysin wird sich Oktavia möglicherweise einen Teil ihres medizinischen Wissens angeeignet haben, mit dem sie später nicht nur ihren Kindern, sondern auch den Dorfbewohnern in Krankheitsfällen behilflich war. 1920 kehrte sie nach Varen zurück und führte elf Monate lang das Café de la Poste, eine der drei Gaststätten im Dorf. Jeweils am Sonntagabend stattete ihr Jeremias dort einen Besuch ab. Er blieb allerdings immer nur bis zehn Uhr. Das sei seine Zeit gewesen, um heim ins Bett zu gehen. Oktavia gefiel diese Arbeit, und am liebsten hätte sie die Gaststätte gleich übernommen. Für Jeremias kam das aber nicht infrage.
Auch in Varen führte sie Buch über ihre Einnahmen und ihre Ausgaben für Bier, Wein, elektrisches Licht, das