Lisbeth Herger

moralisch defekt


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die kriegsbedingten Verschlechterungen direkt auf Pauline und ihr Anstaltsleben auswirken, ist schwer zu sagen. Sie gehört sowieso zur Kategorie der Ärmsten. Ist in der überfüllten «Allgemeinen» untergebracht, wird selbstredend in die dritte Klasse eingeteilt, karges Essen, reduzierte Besuchszeiten. Zudem nehmen die Armenfälle weiter zu, wie im Jahresbericht bedauert wird. Das hat handfeste Gründe. Es lässt sich mit einem neuen Auftrag der Psychiatrie erklären, den diese sich – in den Jahrzehnten zuvor – zugespielt hat und zuspielen liess. Sie kümmert sich nicht mehr nur um Geistesstörungen im engeren Sinne, sondern hilft auch, den Umgang mit «Unruhigen», mit «Umtriebigen» zu klären, die sich unbelehrbar widerborstig und dabei manchmal auch straffällig verhalten. Wer dank ärztlicher Diagnosekunst nur als eingeschränkt urteilsfähig oder gar krank erkannt wird, soll für seine Trunksucht, seine Liederlichkeit, seinen Mundraub weniger bestraft als vor allem ausgesondert werden. Weggesperrt. Mit einer sogenannten Massnahme. Dabei gilt der Schutz weniger den Renitenten selbst als vielmehr dem Rest der Gesellschaft. Man hat neue Diagnosen entwickelt, welche die Bevormundung dieser Unruhigen ermöglichen und die Durchsetzung sogenannt fürsorgerischer Zwangsmassnahmen medizinisch stützen. Und so kommt es, dass im Burghölzli in den 1940er-Jahren nicht nur geforscht, gelehrt und – gemäss den eigenen Statistiken – eher selten geheilt, sondern mehr und mehr auch begutachtet wird. Die Gutachtertätigkeit steigt von Jahr zu Jahr, 1941 beträgt die Zunahme über zehn Prozent, vermeldet der Jahresbericht, sodass insgesamt 353 Gutachten an Behörden und Versicherungen ausgeschickt werden. Eines davon gilt Pauline Schmid.1

      Ein Armeleutekind

      Die Krankenakte von Pauline Schmid ist das Protokoll einer Klärung. Im Fokus stehen «Geistestätigkeit» und «Urteilskraft». In den fünf Wochen konzentrieren sich die Ärzte auf die Taten und Tatmotive der Angeschuldigten. Familiäre Hintergründe und biografische Entwicklungen sind nicht weiter wichtig. In der kurzen Autoanamnese erfährt man, dass der Vater Deutscher, die Mutter Schweizerin ist, dass die Strafgefangene in der Ostschweiz aufgewachsen ist, dass sie eine mittelmässige Schülerin war, die gerne rechnete, sich aber mit Lesen schwertat. Und dass sie früh als Küchen- und Hausmädchen in fremde Dienste geschickt wurde. Noch vor ihrer Konfirmation sei sie zu ihrem Onkel nach Schönenberg gekommen, so erzählt sie, habe in der Landwirtschaft mitgeholfen, später sei sie als Küchenmädchen nach Bülach weitergezogen. Die fremden Hausdienste habe sie nur für kurze Zeit unterbrochen, um zu ihrer erkrankten Mutter heimzukehren. Habe sich bald schon an einer neuen Stelle verpflichtet, im Zürcher Unterland, bei Rafz, bei einem Bauern. Mit 21 dann habe sie geheiratet und sei ein Jahr danach Mutter eines kleinen Buben geworden. So notiert der Arzt die Kurzbiografie aus dem Munde der Angeklagten.

      Von der sonstigen Schwere in diesem jungen Leben, noch vor ihrer Heirat, findet sich in den Aufzeichnungen nichts. Es braucht die Fahrt ins Rheintal, den Gang in die Gemeindearchive von Buchs und St. Margrethen, um auf Sedimente dieser Kindheit zu stossen. In den Gemeinderatsprotokollen, in den gebundenen Folianten zur Armenunterstützung dieser Jahre, in den Betreibungs- und Strafregistern – überall finden sich Spuren aus dem Alltag der Familie Schwarz. Und sie alle erzählen Bruchstücke davon, dass der kleinen Pauline wohl eher ein rauer Eintritt in die Welt beschieden war. Ihr Vater Alois, Sohn eines Söldners, kam im Jahr 1900 aus dem württembergischen Bellamont bei Ochsenhausen ins sankt-gallische Buchs. Der junge Mann ist damals 24, vaterlos, er versucht sein Glück alleine als Hausknecht im neuen Land. 1909 heiratet er Paulina Oberholzer, eine Bauerntochter aus dem zürcherischen Schönenberg. Das zweite ihrer vier Kinder, der kleine Anton, stirbt kurz nach der Geburt, Sohn Alois und die Töchter Louise und Marie Pauline zeigen sich zäh. Marie Pauline, die spätere Pauline, ist die Jüngste. Sie kommt 1918, bei Kriegsende, auf die Welt, in den offiziellen Dokumenten wird sie als Marie geführt. Auf wirtschaftliches Glück wartet Familie Schwarz vergeblich. Bereits 1916 wird Zuwanderer Alois samt Familie schriftenlos, sein Heimatausweis ist abgelaufen, die geforderte Kaution von 4000 Franken ist für ihn unbezahlbar. Aber immerhin findet die Familie zwei Bürgen, die für sie garantieren. Jahre später soll ein Neustart in St. Margrethen eine Wende erzwingen, Vater Schwarz übernimmt ein Wirtshaus und wird Gastwirt. Marie Pauline ist damals neun, wechselt die Schule und die Lehrer. Doch der Orts- und Berufswechsel zahlt sich nicht aus. Kaum eingezogen in der Gaststätte Zum Landhaus, beginnen sich hinter dem Tresen die Schuldbriefe zu stapeln, mindestens zwei Mal monatlich steht der Betreibungsbeamte vor der Tür. Die Gäste werden weniger, die Gläubiger immer mehr. Alle wollen sie ihr Geld haben, Kaufhäuser und Versicherungsgesellschaften, der Wein- und der Velohändler, der Bäcker, eine Volksbank. Sie melden sich von weit her, aus Davos, aus dem luzernischen Malters und aus den Dörfern rings herum, aus Altstätten oder Heiden, und auch die örtliche Molkerei stellt formell ein Begehren. Schliesslich ist der Konkurs unvermeidlich. 1929 wird aus Alois Schwarz ein «gewesener Wirt», und kurze Zeit später zieht die Familie vollkommen verarmt aus ihrem «Landhaus» wieder aus. Der Überlebenskampf dauert an. Pfändungen und Betreibungen, die wegen «unverschuldetem Zahlungsunvermögen» schliesslich gar nicht mehr weitergeleitet werden. Nur das Steueramt gibt nicht auf. Und der alte Hausarzt Dr. Feiner. Unwillig verweigert er die Behandlung der erkrankten Mutter, wartet auf die eingeforderte Kostengutsprache der Gemeinde. Diese wiederum beschert Vater Schwarz eine Ausschaffungsdrohung, «falls die Gemeinde für ihn die Arztkosten bezahlen müsse». Und zudem wird er wegen seiner Schuldenwirtschaft mit der Einstellung des Aktivbürgerrechts bestraft. Ein hübscher weisser Schimmel amtlicher Bürokratie, denn Zuwanderer Schwarz besitzt gar keine Bürgerrechte, der Einkauf in die Schweizer Staatsbürgerschaft ist für ihn auch nach dreissig Jahren unerschwinglich geblieben.

      Wie sich die drei Schwarz-Kinder durch all diese Jahre bewegen, weiss man nicht. Nur zwei behördliche Spuren führen direkt zu ihnen. Einmal wird Vater Alois «wegen fortgef. Entzugs seines Kindes vom vorgeschriebenen Schulunterricht» mit einer Busse bestraft. Es geht dabei um seine Jüngste, um Marie Pauline, die offenbar oft krank ist, wegen einer «Wanderniere», wie der Vater den Richtern erklärt, und dass sie deswegen «alleine in einer Bank sitzen müsse», klagt er, und dass «der Lehrer sich nicht viel mit ihm [dem Mädchen] abgebe». Doch seine Erklärungen zählen nicht.«Diese Einreden sind jedoch solange ein ärztliches Zeugnis fehlt, nicht stichhaltig», urteilen die Richter, vergessen, dass bereits ein Arztbesuch für Habenichtse unbezahlbar sein kann. Die zweite Aktennotiz, die einen Einblick in die Kindheit der Geschwister Schwarz erlaubt, ist eine Intervention des Waisenamtes, damals, als man den Konkurs abwickelte und das Amt verlangte, dass man für die drei eine kleine Summe der Konkursmasse abzweige. Die 1000 Franken wurden sogleich verteilt, eine beachtliche Summe wanderte nach Davos, Sanatoriumskosten für Louise, die an Tuberkulose erkrankt war. Sie blieb dann gleich dort, für die Anfänge ihres Dienstmädchenlebens, so verrät uns der örtliche Meldeschein.

      Pauline verlässt ihr Elternhaus mit ungefähr 14 Jahren, so erzählt sie dem Arzt in ihrem Aufnahmegespräch. Sie berichtet auch von Mutters Erkrankung und ihrer diesbezüglichen Heimkehr. Den eigentlichen Tod spart sie in ihrer Erzählung aus. Sie ist noch keine 19, als die Mutter schliesslich stirbt. Mitten im Winter 1937. An einer «Herzlähmung», wie das Totenbuch der evangelischen Kirchgemeinde von St. Margrethen festhält. Hinweise darauf, wie sehr dieser Tod die junge Frau umtreibt, finden sich im kurzen Lebenslauf, geschrieben am Tag nach ihrem Eintritt ins Burghölzli. Im ersten Teil erzählt sie in knappen Worten von ihrem jungen Leben, erschafft sich mit den üblichen Stereotypen eine glückliche Kindheit, schreibt diskret über das Schwierige hinweg. «Am 13 Juni 1918 wurde ich in Buchs geboren. Mit einem Bruder und Schwester wuchs ich auf. Meinere Jugend durfte ich mit vielen frohen Zeit erleben. Die Schule besuchte ich in Buchs und St. Margrethen. Wo meine Eltern heute noch sind. Nach meiner Konfermation ging ich in die Fremde um mein Brot zu verdienen, 2 Jahre diente ich als Küchenmädchen bei Familie Fehr in Bülach. Hernach ging ich nach Hause um meiner Mutter in den kranken Tagen eine Hilfe zu sein. Doch mit vielen Heimweh ging ich später wieder an eine Stelle, wo ich kein Glück hatte so wurde mir viele Schicksal zur Last. Doch immer vertraute ich auf Gott er werde mir helfen.» Der zweite Teil, der immerhin die Hälfte ihres Textes ausmacht, ist mehr Reflexion als Biografie, er gilt dem Sterben und dem Tod ihrer Mutter, den sie schreibend umkreist. «So kamen so viel Stunden wo meine Mutter ans Sterben war und konnte ein 1 ½ sah ich Sie nie mehr sehen, wo ich nur imer und imer denke warum ich nicht eher Heim war, seit dem Tode habe ich mich so viel geweint und habe nie mich mehr so zu Hause gefühlt, Trotzdem das der Vater sehr lieb zu mir war. Im 1939 verheiratet