Lisbeth Herger

moralisch defekt


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bleibt sie verschont von einem Schicksal, wie es kurz danach ihren Bruder ereilen wird. Sein in Chur gelerntes Bäckerhandwerk musste Alois wegen Mehlunverträglichkeit aufgeben, nun kämpft er sich als Fuhrknecht durchs Leben oder als Handlanger im Steinbruch. Im August 1939 verliert er einmal mehr seine Arbeit. Auch er kehrt zu seinem verarmten Vater zurück, auch er versucht, sich mit kleinen Diebstählen über Wasser zu halten, ein Fahrrad, das er klaut und verpfändet, ein Nachtessen in der Kneipe, nach dem er zechprellend verschwindet. Und auch er wird erwischt, wird vor Gericht gestellt und wegen Diebstahl, Betrug und Zechprellerei bestraft. Einmal. Zweimal. Dreimal. Schliesslich schafft man ihn nach der Haft bei Schaffhausen über die Grenze. In eine Heimat, die er noch nie betreten hat, in ein Land, in dem die Faschisten das Sagen haben und gerade dabei sind, einen entsetzlichen Krieg zu eröffnen. Vollständig mittelos steht Alois da, am anderen Ufer des Rheins, die zwanzig mitgeführten Reichsmark hat man ihm beim Grenzübertritt abgenommen, wegen Verstoss gegen das deutsche Devisengesetz. Der Ausgeschaffte versucht sich erneut in kleinen Betrügereien, weit allerdings kommt er damit nicht. Er landet als «Volksschädling» vor einem Sondergericht, angeklagt wegen einer Deliktsumme von 150 Reichsmark und eines «niedrigen Charakters». Der Staatsanwalt plädiert auf Todesstrafe, Alois kommt mit acht Jahren Zuchthaus davon. Nach zwei Jahren stirbt er im Zuchthaus Bruchtal bei Mannheim, gemäss ärztlichem Attest an Tuberkulose.

      Ob und was Pauline vom Schicksal ihres Bruders überhaupt mitbekommen hat, damals, als sie in Rafz ihre Dienste antritt und Alois sein Urteil in Pfäffikon kassiert, oder später, nach seiner Ausweisung, kann nicht geklärt werden. Bestimmt war er nicht Gast an ihrer Hochzeit – falls sie überhaupt zum Fest geladen hat –, denn zu diesem Zeitpunkt sitzt er bereits im Gefängnis und wartet auf seine Ausschaffung. Und zwei Jahre später, als Pauline im Burghölzli aus ihrem Leben erzählen soll, verwandelt sie ihren Bruder kurzerhand in einen Wehrmachtssoldaten im Kriegsdienst. Sich selbst aber kann sie mit ihrer frühen Heirat retten. Pauline und Armin heiraten im September 1939, also just in jenen Tagen, als Deutschland Polen überfällt. Pauline ist nun keine Schwarz mehr, sondern eine Schmid, und will nun nicht mehr Marie Pauline, sondern nur mehr Pauline heissen. So wie einst ihre Mutter. Die Heirat soll ein Neustart und alles ein wenig anders werden. Selbst der Thurgau ist nun nicht mehr verbotenes Terrain, denn das Kantonsverbot wird durch die Heirat aufgehoben. Auch davon erzählt sie später dem Psychiater bei ihrer Anamnese.

      Auf der Flucht vor dem Mann

      Als die junge Pauline in die Sprechzimmer der Psychiater im Burghölzli gebracht wird, hat sie also schon einiges in ihrem Leben erfahren. Und sie wird, trotz der Brutalitäten, nicht etwa als flüchtende Ehefrau, als ein Opfer von häuslicher Gewalt in der Klinik aufgenommen, sondern als Strafgefangene, als Wiederholungstäterin, mit dem Auftrag der Beurteilung ihrer Zurechnungsfähigkeit. Nach den ersten Schrecken scheint sie der Wechsel in die Klinik sogar zu beruhigen. Jedenfalls notiert der Arzt am zweiten Tag eine erstaunliche Veränderung bei der neu Eingewiesenen, die tags zuvor noch ein Häufchen Elend war: «Pat. sehr vergnügt, lacht lustig, hat sich in die Situation gefunden. Ruhig.» Einzig wenn man auf ihren Ehemann zu sprechen kommt, wird sie unruhig und anklagend. Sie erzählt, dass die Ehe nur für kurze Zeit gut gegangen und ihr Mann dann ins Militär eingezogen worden sei, sie habe im Haus bei den Kindern und auf dem Hof die Stellung gehalten, es sei ein strenger Anfang gewesen. Gewalt und Rohheit müssen bereits in den ersten Ehewochen alltäglich gewesen sein. Dass sie dabei ihr erstes Kind verlor, verrät sie den Ärzten erst gegen Ende der Beobachtungszeit. «Heiraten habe sie müssen, war gravid, habe dann eine ‹Ausleerete› gehabt», notiert der Arzt. Dass aber auch die neue Schwangerschaft, ein paar Wochen später, die Gewalt des Mannes provozierte, daraus macht Pauline von Anfang an keinen Hehl: «Im Dezember dann, als sie gravid war, habe er wüst mit ihr getan und sei grob geworden. Weil sie schwanger war und weil sie gesagt habe, er könne schon melken gehen. Er sei aber ganze Nächte im Wirtshaus gehockt und habe gejasset, und wenn er im Delirium heimkam, habe er wüst getan. Sehr oft sei das vorgekommen, einfach höch habe er gehabt. Und dann habe er sie immer geschlagen.»

      Schwierig gestaltet sich auch das Verhältnis der Stiefkinder zur jungen Pauline. Einige der Töchter sind älter als Pauline, die jüngsten noch Kleinkinder. Und nun hat da plötzlich diese eingeheiratete Frau das Sagen. Kommt dazu, dass die verwaisten Kinder ihre verstorbene Mutter wohl noch immer vermissen. Pauline, die Fremde, hat einen schweren Stand. Und selbst das nachbarschaftliche Ankommen will nicht wirklich gelingen. Man munkelt dies und jenes über die Magd, die so schnell zur Ehefrau aufgestiegen ist, und schon bald werden Wasserkübel zu Zankäpfeln, fliegen böse Worte von Tür zu Tür. Bereits im Februar 1940 muss die Familie Schmid ihre Pacht in Rafz aufgeben, man zieht nach Adlikon-Regensdorf, der Mann geht als Handlanger in Stellung. Die Schuld an diesem Scheitern schiebt Landwirt Schmid seiner Pauline zu. Ihrer Untüchtigkeit. Seine Absenz jedoch im bäuerlichen Betrieb, etwa, weil man ihn bei der Mobilmachung an die Grenzen rief, oder seine Liebe zum Alkohol, das Alleinlassen der Schwangeren mit Kindern und Kegeln und einem Stall voller Kühe, das alles bleibt unerwähnt. Ausser bei Pauline. Sie weist die Vorwürfe dezidiert von sich, betont, dass sie trotz «Nierenbeschwerden in der Schwangerschaft» stets gearbeitet habe, zur Geburt nicht ins Spital gegangen sei. Sie habe zu Hause geboren, alles «sei gut gegangen, am dritten Tag sei sie wieder aufgestanden und habe gewaschen», so wehrt sie sich gegen die Vorwürfe. Und versucht in kindlicher Angst, die Kündigung der Pacht wieder rückgängig zu machen, mit einem gefälschten Vertrag, was ihr später vor Gericht als Urkundenfälschung angelastet wird. Angstvoll und verstörend wirkt auch die Rechtfertigung dieser Täuschung:«Ja, weil es geheissen hat, wegen mir muss man fort von da, aber wegen mir hat man nicht fort müssen, ich habe geschafft. […] Ich habe dann gesagt, wir können schon wieder nach Rafz, das ist der Pachtvertrag. Ich habe gemeint, mit dem könnte ich den Mann halten, wenn er so bös mit mir ist.»

      Im Sommer 1940 wird Pauline zum ersten Mal Mutter. Nur wenige Wochen danach nimmt sie den kleinen Jakob und flieht Richtung Zürich. Niemand ist da, der sie unterstützen könnte. Sie bringt den Säugling in eine Krippe an die Fahrgasse, erzählt, sein Vater sei verunfallt und sie müsse Arbeit suchen, nimmt bei einem Bauern in Effretikon eine Stelle an. Und verschuldet sich dabei. Der Pflegeplatz kostet, auch die Besuchsfahrten zu ihrem Buben, dann das Hochzeitsgeschenk für die Schwester, die neue Handtasche für das Fest. So entlockt sie ihrem Dienstherren mehrere Darlehen, wiegt ihn im Glauben, sie lasse sich scheiden. Nach fünf Monaten gibt sie ihr Reduit auf. Ehemann Armin hat seinen Sohn polizeilich suchen lassen, hat die beiden aufgespürt. Und Pauline kehrt zu ihm zurück. «Und dann ist er gekommen und hat gesagt, er will jetzt lieb sein, und ich bin wieder heim», fasst sie die fatale Dynamik zusammen.

      Im Frühsommer 1941, «als er wieder so verrückt war mit ihr», wie sie es ausdrückt, flieht Pauline erneut. Diesmal ohne das Kind. Sie nimmt verschiedene Stellen an, unter falschem Namen, gibt sich als Ledige aus, verdingt sich da und dort. Das Geld reicht nirgends hin, zum Abtragen von Schulden schon gar nicht. Zwei Jahre hat sie pausiert, nun beginnt sie wieder zu delinquieren. Beschafft sich mit ihren kleinen Schwindeleien Notwendiges und Geld. Zwischenzeitlich kehrt sie heim, vor allem zu ihrem Buben, lange hält es sie dort aber nicht, nur ein paar Tage, ein paar Wochen. Ehemann Armin gibt sich reuig und fromm, verspricht Besserung, beschwört seine Frau, ihr verwerfliches Lügen und Betrügen doch einzugestehen, vor Gott und der Welt, und sich endlich zu bessern. Er schickt sie zu einem «Stündeler», damit ihr «die Sünden vergeben und ihr geholfen werde». Oder ins Erholungsheim des Evangelischen Brüdervereins. Die grosse Reue jedoch bleibt aus, der Schuldenberg wächst, erneut kehrt Pauline heim. Und ist kurz danach wieder «in anderen Umständen». Verhütungsmöglichkeiten sind für Frauen wie sie weder erreichbar noch alltagstauglich. Doch diesmal führt nicht die neue Schwangerschaft, sondern der kleine Jakob, also das bereits geborene Kind, zur nächsten Eskalation. Denn wieder zu Hause findet Pauline, die Mutter, ihr Bübchen nicht mehr. Der Mann hat es weggebracht, in den fernen Kanton Tessin, angeblich zu Bekannten. Die Fremdplatzierung ihres Kindes, so ganz ohne Rücksprache, einfach über ihren Kopf hinweg, mag Pauline nicht hinnehmen. In den späteren Befragungen erklärt Vater Armin die Fremdplatzierung als Schachzug im Kampf gegen den Zugriff der Behörden: «Die Behörden hätten schon eingreifen wollen, da sei es ihm gelungen, den Kleinen und die jüngste Tochter aus seiner ersten Ehe bei Bekannten im Tessin unterzubringen.» Pauline aber reagiert zutiefst verletzt: «Er habe doch kein Recht ihn fortzutun, sie sei doch die Mutter», erklärt