erfahren durfte und einen lieben Bub das Leben schenken durfte.»
Der frühe Tod der Mutter muss Pauline getroffen haben. Sie tut sich schwer mit dem eigenen Fernbleiben in der Sterbephase, das vielleicht ökonomisch begründet war. Eine Heimkehr kostete Reisegeld und brachte Lohnausfall. Zudem blieb sie in ihrer Trauer allein. Der innerfamiliäre Austausch war wohl dürftig, blieb beschränkt auf Briefpost und seltene Gespräche am Telefon. Die Geschwister waren früh auseinandergedriftet, die grosse Schwester ging nach Davos, zur Kur, später als Dienstmädchen in fremde Haushalte. Und auch Alois, der Bruder, wurde schnell ein Abwesender. Ein Hilfsarbeiter, der sich zunehmend an Arbeitslosigkeit und Alkohol aufrieb. In diesen Leben hatte eine kleine Schwester wenig Platz. Und die von Pauline behauptete Liebe des Vaters scheint erst recht ein Wunsch der Sehnsucht zu sein. Im Burghölzli-Gutachten jedenfalls wird der Vater ausschliesslich in der Rolle eines Anklägers zitiert, der sich bitter über die widerborstige Tochter beschwert, die ihm schon früh Schmach und Schande beschert habe, mit Lug und Trug und Alkohol, so sehr, dass er sein Städtchen St. Margrethen fast hätte verlassen müssen. Zweifelsfrei ist Pauline, die Jüngste, familiär auf sich alleine gestellt, der Tod der Mutter dürfte sie heftig erschüttert haben. Und liess die Minderjährige wohl sehr einsam zurück.
Erste Diebereien
Pauline bleibt nach dem Tod ihrer Mutter dem Rheintal fern. Tritt im thurgauischen Weinfelden eine neue Stelle an. In einer Brauerei mit Gastwirtschaft. Als Mädchen für alles. Mit einem Wochenlohn um die elf Franken, bei Kost und Logis. Ein niedriges Gehalt, auch im kollegialen Vergleich, das für wenig reicht, und schon gar nicht für kleine Träumereien. Pauline mag sich damit nicht abfinden. Sie entschliesst sich zur Nachbesserung, versucht sich ein erstes Mal als kleine Diebin. Zwei Mal greift sie in den Geldbeutel der Kollegin, tappt zudem in die vom Wirt ausgelegte Falle mit der herumliegenden Zwanzigernote als Köder. Sie wird angezeigt, kommt in Untersuchungshaft, wird im Herbst 1938 vom Bezirksgericht Weinfelden wegen Diebstahl und Fundunterschlagung verurteilt: 14 Tage Gefängnis, Gerichtskosten von neunzig Franken, Rückzahlung der gestohlenen Gelder. Der Schuldenberg ist umgerechnet 16 Wochenlöhne hoch. Eine schlechte Bilanz für ihren Selbsthilfeversuch. Die Löhne selbst aber, die niedrigen Dienstmädchengehalte, sind für die Richter kein Thema, jetzt nicht, und sie werden auch später in Paulines Akten nie in den Fokus der sonst umfassenden Tatanalysen gerückt. Nicht von der Strafjustiz, nicht von den Behörden und auch nicht von den Psychiatern. Im Gegenteil, die Weinfelder Richter verstehen ihr Urteil als gemässigt, betonen die strafmildernden Faktoren, dass es Paulines erste Verfehlung sei und ihr Leumund nicht ungünstig laute. Und fügen deshalb ihrem Urteil doch noch etwas Würze bei, zum Schutz und Wohle der Bürger, in Form eines nicht unbedeutenden Nachsatzes: Marie Pauline Schwarz ist als unerwünschte Ausländerin für zehn Jahre aus dem Kanton Thurgau auszuschaffen.
Mittellos und wohl ebenso widerwillig schlüpft sie für kurze Zeit bei ihrem Vater in St. Margrethen unter. Dieser ist bereits über sechzig, arbeitet noch immer, als Taglöhner, auf dem Bau und als Fuhrknecht, lebt von Zuweisungen der Krisenhilfe, stellt Gesuche um Steuerreduktionen. Altersrenten gibt es keine. Mittlerweile ist er als Quartalssäufer bekannt. Später dann, nach 1949 – Deutschland ist wieder im Aufbau –, wird er von seinem Heimatland eine kleine Pension bekommen, ausbezahlt von der Deutschen Interessenvertretung in Zürich, der späteren Botschaft. Im Herbst 1954 stirbt Alois Schwarz, der einst aus Ochsenhausen Zugewanderte, seinen Ausländerstatus und die Armut nimmt er mit ins Grab.
Pauline kann und will nicht lange bei diesem Vater in Dauerkrise bleiben, er kann ihr nicht helfen, selbst wenn er auch wollte. Aber der Alltag kostet, und die Schulden des ersten Urteils drängen auf Zahlung. Unterstützung ist keine in Sicht, sie muss sich selbst aus dem Sumpf ziehen. Erneut wird sie delinquent. Diesmal versucht sie es nicht mehr als Diebin, sondern erschwindelt sich die benötigte Ware. Erprobt zum ersten Mal ihre kleinen Inszenierungen in der Erfindung akuter Not. Sie setzt dabei auf ihre Ortskenntnisse, auf ihre narrative Inspiration und ihr Talent zu ein bisschen Schauspielerei. Gibt sich in den Läden als eine andere aus, wird zu «Leni Müller», einer Dienstmagd in Stellung, die in der Bäckerei Süssigkeiten für die Herrschaften abzuholen hat – die Frau des Hauses wird nachkommen und bezahlen. Oder zur Botengängerin von «Fräulein Kehl zur Drahtseilbahn», die in der Handlung Beeler zwei Stränge Wolle und Stricknadeln abholen soll; sie probiert im Modegeschäft Zeindler einen Mantel mit Pelzkragen an, wählt einen passenden Blusenstoff, erzählt von ihrem Vater, der bei der Bahn arbeite, und dass die Familie vor Kurzem nach St. Margrethen zugezogen sei, in ein neues Häuschen. Und auch, dass sie den schönen Mantel zu gerne ihrer Mutter zur Prüfung zeigen möchte, bevor sie abends zum Bezahlen zurückkommen werde. Im Wäschegeschäft Dornbierer gleich nebenan tritt sie erneut als Leni Müller auf, diesmal aus reichem Haus, die zu viel Geld ausgegeben hat und sich auf Kredit zwei Hemden, zwei Barchentleintücher und eine Berufsschürze geben lässt. Doch Kaufmann Dornbierer wird misstrauisch, fährt Pauline hinterher und steckt seine Ware wieder ein. Die Ertappte bringt auch dem Herr Zeindler seinen Mantel wieder zurück und läuft dann mit leerem Magen nach Fahr zur Metzgerei, um sich dort ein Würstchen zu erschwindeln.
Pauline wird angezeigt, wird Anfang Dezember 1938 verhaftet, sechs Tage später tritt das Bezirksgericht Unterrheintal in Rheineck zusammen. Sie zeigt sich den fünf Richtern als einfacher Fall, gesteht alles sofort ein, wird für «fortgesetzten Betrug und Betrugsversuch in sechs Fällen» und wegen «rechtswidriger Täuschung» schuldig gesprochen. Diesmal sucht man im Urteil vergeblich nach Milde, ihre Arbeits- und Mittellosigkeit wird Pauline gar zum Nachteil.«Da sie vollständig mittellos und längere Zeit ohne Arbeit war, wäre es ihr niemals möglich gewesen, für die gemachten Warenbezüge aufzukommen.» Die Rückgabe der gestohlenen Ware, die den Schadensbetrag auf 31 Franken und 20 Rappen, also auf circa zehn Taglöhne reduziert, hilft auch nicht weiter. Zumal sie eine Wiederholungstäterin ist, das wirkt straferschwerend. Einzig ihr freimütiges Geständnis findet Gefallen bei den urteilenden Herren. Doch das Ergebnis ihrer Betrugstour in den Dörfern ihrer Kindheit ist für Pauline erneut vernichtend: fünf Wochen Gefängnis, Verpflichtung zur Rückerstattung der verbliebenen Schadenssumme, Übernahme der Verfahrenskosten und der während ihrer Haft anfallenden Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Der Weinfelder Schuldenberg wird um weitere 150 Franken aufgestockt.
Die erste Heirat
Nach ihrer Entlassung aus der Kantonalen Strafanstalt St. Gallen kehrt Pauline Schwarz – noch keine zwanzig Jahre alt – der Ostschweiz endgültig den Rücken. Sie sucht sich neue Arbeit im Zürcher Unterland. Im Februar 1939 tritt sie erst bei einem Bauern in Rafz eine Stelle an, wechselt dann ins Restaurant Pflug. Ein derart häufiger Stellenwechsel war bei Dienstmädchen nicht unüblich. Sie wurden meist schlecht bezahlt, unter Abzug von Kost und Logis, und noch schlechter behandelt, mit wenig Freizeit und viel Arbeit bis weit in den Abend hinein. Sie befanden sich meist auf der Suche nach besserer Arbeit, ausserdem bedeutete ein Stellenwechsel nicht selten die Befreiung von zudringlichen Dienstherren und eifersüchtigen Gattinnen. Im «Pflug» lernt Pauline ihren künftigen Ehemann kennen, den Witwer Armin Schmid; mit seinen neun Kindern braucht er zupackende Hände in Haus und Hof. Pauline wird erst seine Haushälterin, dann seine Geliebte, nach ein paar Monaten seine Frau. Gründe für die schnelle Heirat der beiden gibt es viele. Armin Schmid sucht eine weibliche Kraft, die ihm erhalten bleibt und nicht kurz nach Dienstantritt wieder flieht vor der gewaltigen Arbeit. Ein häufiges Schicksal von Witwern, so kann man es in den Protokollen der damaligen Armenfürsorge nachlesen. Armin hat aber auch als Mann Gefallen an Pauline gefunden. Sie ist jung, mit ihrem dichten braunen Haar und den grauen Augen attraktiv, und er braucht, wie er später, bei der Scheidung, eingesteht, eine Frau in seinem Bett. Aber auch Pauline hat ihre Motive. Auch bei ihr geht es nicht um romantische Liebe. Vielleicht sucht sie mehr Sicherheit in ihrem Leben. Leidet unter Heimatlosigkeit, fühlt sich entwurzelt. Aber vor allem, und das wiegt wohl ebenso schwer, ist sie schwanger. Und trägt zudem, nebst dem Kind im Bauch, einen unerbittlich auf Abzahlung drängenden Schuldenberg auf ihren Schultern. Eine Heirat kann hier vorerst Lösungen bringen. Zudem droht ihr für die Zukunft noch eine Gefahr: Pauline ist nach wie vor deutsche Staatsbürgerin, sie hat bereits eine kantonale Ausschaffung als «unerwünschte Ausländerin» hinter sich, ist inzwischen zwei Mal vorbestraft; man munkelt, dass in ihrer Heimat, im nationalsozialistischen Deutschland, mit Diebinnen, wie sie eine ist, nicht eben zimperlich umgesprungen wird. Rafz ist nah an der Grenze, da bekommt man so