Lisbeth Herger

moralisch defekt


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bin. Der braucht den Bub nicht zu haben.» Sie gibt zu, ihrerseits auch den Mann bedroht zu haben, mit bösen Worten, mit wilden Drohungen. Dass sie mit dem Karabiner direkt auf ihren Gatten gezielt habe, bestreitet sie jedoch vehement: «Wirklich ernst sei es ihr nicht. Das mit dem Gewehr sei nicht wahr, sie habe nicht gezielt.» Sie steht auch zu ihren Lügen und Schwindeleien: «Sie wisse schon, dass sie gelogen habe, der Mann sei daran schuld, weil er sie so viel geprügelt habe.» Von Scheidung jedoch will sie nichts wissen. «Geschieden habe sie sich nicht, weil sie ihn noch immer gern hatte», erklärt sie den Psychiatern – auch dies ist ein fester Bestandteil in den Zyklen häuslicher Gewalt.

      14 Tage nach Paulines Einweisung ins Burghölzli notiert der zuständige Arzt: «Pat. stets ruhig, unauffällig. Wir halten sie etwas unter Kontrolle wegen Fluchtgefahr, irgendetwas Auffälliges hat bis jetzt niemand bemerkt.» Sie wird nun ins E3 verlegt, in den «Wachsaal für ruhige Frauen». Sie steht früh auf, wird in der Landwirtschaft oder in der Küche oder auch im Waschhaus zur Arbeit eingesetzt, abends um fünf Uhr gibt es Bettruhe. Therapien gibt es für sie keine, weder Schlaf- noch Insulinkuren, auch keine Elektroschocks, wie man sie neuerdings im Burghölzli anwendet. Und auch Barbiturate oder Opiate, jene Vorläufer der Psychopharmaka, welche die grosse Wut, die laute Unruhe der Patienten bändigen und diese in einen betäubenden Schlaf zwingen, bekommt sie keine gespritzt. Pauline bleibt von all diesem verschont. Schliesslich ist sie ja keine Patientin, sondern zur Beobachtung da. Und sie bleibt, bis auf den Tränen- und Wutausbruch beim Besuch ihres Mannes, zuverlässig ruhig. Selbst die gynäkologische Untersuchung in der Frauenklinik lässt sie ohne Widerspruch über sich ergehen, damit die behauptete Schwangerschaft durch ein medizinisch abgesichertes Resultat, «Grav., ca. mens IV», bestätigt werden kann. Insgesamt zeigt sich ihr Gutachter, der Doktor mit dem Kürzel VS, mit der willigen Pauline zufrieden, solch ruhige Fälle werden in diesen Zeiten mit dem knappen Personal durchaus geschätzt: «Auf der Abteilung ist Pat. unauffällig und ruhig, man hat gar nicht über sie zu klagen. Sie macht alle Arbeiten, schwatzt nicht, erzählt nichts von ihren Angelegenheiten, verbreitet keine Klatschereien, angenehmes Element.»

      Das Gutachten

      Pauline Schmid, die 23-jährige Strafgefangene, wird im Burghölzli insgesamt während fünf Wochen beobachtet. Sie überrascht offenbar mit ihrer Unauffälligkeit, mit ihrer Bereitschaft, sich in die Anstaltsordnung einzufügen. Zumal sie mit einem schlechten Leumund eingeführt worden ist, als eine, welche die Eigentumsrechte missachte, als Mutter, die im Kampf um ihr Kind zum Ordonnanzgewehr ihres Mannes – jener Leihgabe der Armee an den wehrpflichtigen Gatten – gegriffen habe, aber auch als eine Unglückliche, die manchmal in ihrer Verzweiflung von Suizid spreche. Vielleicht kann sich Pauline ja in der Klinik, im Schutz geregelter Abläufe und karger, aber gesicherter Mahlzeiten tatsächlich beruhigen; möglich auch, dass sie in einer Depression steckt, die sie zahm werden lässt. Oder aber es sind die Geschichten, die man sich im Waschsaal oder beim Kartoffelschälen in der Küche zuflüstert, die sie gefügig machen, Gerüchte vom Umgang mit Widerspenstigen, mit sogenannt Renitenten, deren Schreie nicht selten durch die Wände zu hören sind. Vielleicht hat sich herumgesprochen, dass dabei kräftige Männer zum Einsatz kommen, mit Händen, die furchtlos zupacken, will jemand nicht schon abends um fünf Uhr in sein Bett, und die diese Widerständler zu fesseln wissen, in einer Rückenlage, die Hände in langen Lederhandschuhen, die Füsse in festen Gurten, nächtliches Austreten für die Notdurft nicht vorgesehen, die Bestrafung von Pannen am Morgen sehr wohl. Oder jemand hat ihr hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, dass hier der Teller leer bleibe, wenn man nicht genug oder nicht dasjenige arbeite, was verlangt wird; dass einen Ähnliches erwartet wie jene junge Frau, die genug hatte vom täglichen Zwang zur Strickerei, diesem dösigen Geklapper der Nadeln Tag für Tag, und die stattdessen einen Zeichenstift verlangte und umgehend kein Essen mehr bekam, bis sie sich wieder in den Maschenzwang fügte. Möglich, dass sich die Patientinnen und Internierten heimlich solche Geschichten erzählten, vielleicht aber auch schwiegen sie stumm vor sich hin, und man erfährt davon erst, wenn man später in Archiven nach vorhandenen Zeitzeugnissen sucht. Und dabei Texte aufstöbert wie diejenigen der mutigen Pflegerin Agnes Roth, eine, die schockiert war und zu dokumentieren begann, was sie sah, was sie hörte, was ihr zugetragen wurde und wofür sich niemand in der Welt zu interessieren schien.2 1948 erschien ihre kleine Broschüre, eine Sammlung von «Wahren Berichten und Selbsterlebnisse aus Irrenhäusern», frech betitelt mit «Ich klage an», publiziert im Selbstverlag an der Zürcher Loogartenstrasse, ein schmächtiges Büchlein voller Ungeheuerlichkeiten. Darin berichtet sie empört von den unmenschlichen Zuständen, vom Sadismus der Ärzte und des oft ungeschulten Personals, alles anonymisiert, die Orte des Schreckens dennoch leicht identifizierbar. «Die Heilanstalt macht krank», bilanziert die Autorin, man werde dort «lebendig begraben», werde «eine Null, eine Nummer, ein Zettel in der Anstaltskartei». Inwiefern Pauline selbst Zeugin von solchem Umgang mit Renitenz wird und ob es ihr eigenes Verhalten beeinflusst, dazu ist in den Akten nichts aufzufinden. Möglicherweise verhält sie sich ganz einfach aus taktischen Gründen ruhig, weil sie weiss, dass sie als Strafgefangene nur zur Begutachtung in der Anstalt weilt. Und weil sie sehr wohl verstanden hat, dass es dabei um nichts Geringeres als um ihre Freiheit geht.

      Die Rolle der Psychiatrie

      Das Gutachten wird am 23. Dezember 1941, einen Tag nach ihrer Rückführung ins Bezirksgefängnis, ausgestellt. Das Dreipunkteprogramm auf der Kopfseite umreisst den damals klassischen Auftrag der Justiz an die Psychiatrie, die Klärung der Zurechnungsfähigkeit, ob also Pauline über «die Fähigkeit der Selbstbestimmung oder die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Tat erforderliche Urteilskraft» verfügt, wie gross allenfalls der «Grad der Verminderung» ist und welche vorsorglichen Massnahmen «aus sicherheitspolizeilichen oder andern Gründen» von den Gutachtern empfohlen werden. Der Auftrag illustriert die bereits erwähnte Rolle der Psychiatrie in der Verwaltung jener Bürger, die in Hoffnungslosigkeit feststeckten, dabei zu sogenannt «Arbeitsscheuen» und Säufern wurden, zu Menschen, die sich nicht einordnen konnten oder wollten, die auf der Suche nach Arbeit viel herumzogen, die irgendwo unterschlüpften und es nicht immer so genau nahmen mit der Würde der Amtsträger und manchmal auch nicht mit dem Eigentum der anderen. Mit zu ihnen gehörten die «Liederlichen», meist Frauen mit ungehörigem Sexualleben, die man der Unzucht und Prostitution bezichtigte, oder dann die unehelich Schwangeren, die es samt ihrer Fruchtbarkeit zu bevormunden galt, unabhängig davon, unter welchen Umständen sie in die für sie misslichen «anderen Umstände» geraten waren. Die meisten waren in Armut geboren oder wurden durch ökonomische Krisen in die Armut gedrängt, waren ausbeuterischen Arbeitgebern ausgeliefert oder gewalttätigen Männern, die nicht selten – in stummer Wut oder lautem Gepolter – in Trunksucht verelendeten. Allen gemeinsam war ihr lebenslanger Kampf auf eher unwirtlichen Gleisen, nicht selten auf der Flucht vor dem Zugriff der Behörden oder auch vor der Strafjustiz. Die Gemeinden und Kantone aber versuchten, das Lumpengesindel loszuwerden, mit Abschiebungen über die Kantonsgrenze hinaus, mit Einweisungen in Arbeits-, Trinker- oder Heilanstalten oder mit dem Wegsperren hinter Schloss und Riegel. Dabei wurde zwischen strafrechtlichen und sozialen Übeltätern nicht immer streng unterschieden, sowieso galten Alkoholismus und Liederlichkeit als Vorstufen kriminellen Verhaltens. Diese «Vertreter der Unordnung», wie Schriftsteller Friedrich Glauser – selbst mehrmals in Anstalten interniert – die Gruppe einst ironisch nannte, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer zahlreicher. Sie füllten die Straf- und Heilanstalten, landeten im Armenhaus oder wieder auf der Strasse, die erhoffte Nachhaltigkeit der Massnahmen liess auf sich warten.3

      Hier nun bot die Psychiatrie einen möglichen Ausweg. Könnte man die soziale Sperrigkeit, die sogenannte Devianz, zu einer diagnostizierbaren Krankheit erklären, liessen sich die Fragen der Zurechnungsfähigkeit, der Strafe und der allgemeinen Sicherheit neu regeln. Der Umgang mit den Störenfrieden hätte dann nicht mehr in erster Linie die Strafe zum Ziel, sondern den Schutz der Gesellschaft vor diesen Kranken. Die Psychiater zeigten sich offen für das Anliegen der Richter und Behörden, es stärkte ihr Bemühen um wissenschaftliche Anerkennung und lockte sie mit der Ausweitung ihrer Rolle auch über die Anstaltsgrenzen hinaus. So setzten ihre Vertreter die Frage des Zusammenspiels von Strafjustiz und Psychiatrie prioritär auf die Themenlisten ihrer Fachtagungen. Und mit Verve beteiligte man sich auch an jener Debatte, die nach einer Vereinheitlichung des Strafrechts suchte,