verschiedenster Couleur vorantreiben sollte.4
Einer, der sich dabei mit gewichtiger Stimme einmischte, war der Zürcher Psychiater Auguste Forel, bis 1898 Direktor des Burghölzli. Professor Forel hatte einen sozialpolitischen Blick, war gleichzeitig beseelt von der Vision, das Volk vor Schäden durch eben jene «Psychopathen» zu schützen. Er verstand das Verbrechen – bis auf wenige Ausnahmen – als Ausfluss von Geisteskrankheit. Strafe half da wenig, die Täter sollten weniger für kurze Zeit ins Gefängnis als auf unbestimmte Zeit in speziellen «Anstalten für moralische Defekte» versorgt werden. Sein grosses Ziel war, die Verbrechensbehandlung ganz zur Sache der Psychiatrie zu erklären, die Strafjustiz wäre dabei nur mehr ihre Gehilfin. Der schlangenumwundene Asklepiosstab also als Dirigentenstock im Umgang mit dem Bösen. Für diese Reform forderte der ambitiöse Psychiater eigens ein schweizerisches Irrengesetz, das den Primat der Psychiatrie über das Strafrecht juristisch absichern sollte. In diesem neuen Verständnis liesse sich zudem auch auf die wachsende Gruppe jener Unsteten zugreifen, die ihre Strafe bereits abgesessen hatten oder die im Sinne des geltenden Strafrechts gar nie strafrechtlich belangt werden konnten, die aber mit ihrer Widerborstigkeit und ihrem Unglück die Behörden ständig auf Trab hielten.
Die Psychiatrie arbeitete dem von Auguste Forel postulierten Modell auch diagnostisch zu. In den Lehrbüchern wurde um 1895 neu die «konstitutionelle Störung» eingeführt, eine Ergänzung zu den bereits etablierten «angeborenen» und «erworbenen Störungen». Sie ermöglichte das Erfassen dieser «Psychopathen» und «abnormen Charaktere» in Abgrenzung von bereits verankerten Krankheitsbildern wie «geistiger Idiotie» oder «schwerer Debilität». Es ging dabei nicht um eine grundlegende Störung der Intelligenz, aber um «unwiderstehlich krankhafte Triebe und Neigungen oder tiefe moralische Defekte», also um den Umgang mit «verbrecherischen oder sonstigen antisozialen Neigungen», denen strafrechtlich nicht beizukommen war.5 Diese Definitionen in den Lehrbüchern lesen sich wie ein diagnostisches Aufrüsten im Kampf gegen soziale Unverträglichkeit, sie lassen weite Möglichkeiten auch willkürlicher Deutungen zu. Mit seinem Ansatz setzte Professor Forel Elemente einer eugenisch orientierten Denkart in die Psychiatrie, die von Eugen Bleuler und dessen Sohn Manfred, seinen späteren Nachfolgern im Burghölzli, weiter ausgebaut wurden. Mit seinen frühen Forderungen nach Zwangssterilisationen und Kastration positionierte sich Auguste Forel in der Frage eugenischer Volkshygiene als Vorläufer für ganz Europa.
Abschliessend sei noch erwähnt, dass sich die Professoren aus Zürich, Bern und Basel mit ihren Plänen nur zum Teil durchsetzen konnten. Eine so breit angelegte Medikalisierung von Abnormität wollte nicht allen gefallen, zu schnell drohte aus dem «einig Volk von Brüdern» ein «einig Volk von Psychopathen» zu werden. Einspruch kam deshalb von verschiedener Seite. Wache Bürger und Juristen sahen Persönlichkeitsrechte bedroht, die Strafrechtler fürchteten eine Unterwanderung des Grundprinzips von Schuld und Strafe. Erfolgreich blieb die Stärkung der Rolle der Psychiatrie im Strafvollzug dennoch. Ihre Gutachtertätigkeit bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit wuchs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rapide an. Die Jahresberichte der Heilanstalt Burghölzli illustrieren diese Entwicklung, sie verzeichnen eine achtfache Zunahme im ersten Jahrhundertviertel, einen Anstieg von 54 auf insgesamt 426 angefragte Gutachten. Später dann brachte das neue Schweizerische Strafrecht von 1942 den Psychiatern weitere Arbeit. Es sorgte für eine klare Trennung von strafrechtlichen und administrativen Massnahmen, sodass es neu die strafrechtlich verordnete Verwahrung gab, während parallel dazu die Versorgung auf administrativem Weg weiterhin gängige Praxis blieb. Psychiatrische Gutachten blieben bei beiden Verfahren wichtig. Wie weit die Empfehlungen dann schliesslich umgesetzt wurden, lag oft im Ermessen der einzelnen Behörden. Dabei entpuppten sich die vielen kantonalen Erlasse als bunte Flickenteppiche, mannigfaltig verwebt und verknüpft. Gemeinsam war ihnen der rudimentäre Rechtsschutz der Betroffenen und das Fehlen verbindlicher Fristen bei der Bemessung solcher Massnahmen. Man entzog den Versorgten damit wichtige Grundrechte und schuf eine Kategorie von Bürgern zweiter Klasse. Die Psychiater unterstützten mit ihrer Gutachtertätigkeit diese Disziplinierung sozialer Not. Auch wenn damit kein einziger der Widerborstigen von der gesellschaftlichen Bühne verschwand und die erhoffte Entlastung der psychiatrischen Heilanstalten ausblieb.
Schlagende Argumente
Pauline Schmids Gutachten umfasst 17 Seiten, verweist auf fünf Zusatzakten, wird von zwei Ärzten unterzeichnet. Es ist an die Bezirksanwaltschaft Zürich adressiert und stützt sich auf drei Pfeiler der Information: Es sind dies die Polizeiakten, dann «die mündlichen Berichte des Ehemannes der Angeklagten» und schliesslich die eigenen Beobachtungen der Ärzte während Paulines Aufenthalt. In der «Vorgeschichte» beschäftigen sich nur wenige Zeilen mit Paulines Kindheit und Jugend, der Rest des Berichts konzentriert sich auf Paulines Leben als Kriminelle, ihre Delikte werden zu einer Art Biografie aufaddiert, mit detaillierten Angaben zu Zeit, Tatort und Beteiligten, in offensichtlicher Anlehnung an vorliegende Polizeirapporte. Zusätzlich wird im gesamten Bericht wiederholt auf Ehemann Armin zurückgegriffen, er, der die Verhaftung initiiert und die Begutachtung ins Rollen gebracht hat. Seine Aussagen wandeln sich unter den schreibenden Händen der Ärzte schleichend zu Tatsachen. Anfänglich zitiert man ihn noch korrekt und wahrt die nötige Distanz: «Bereits zu Beginn der Ehe hat Schmid, nach seinen eigenen Angaben, bemerkt, dass die Frau ihn ständig belog.» Doch wenige Zeilen später werden seine Behauptungen zu ausgewiesenen Fakten:«Schmid musste sein Pachtgut in Adlikon-Regensdorf bald wieder aufgeben, weil die Frau zu untüchtig war. Sie konnte den Haushalt nicht besorgen, hielt keine Ordnung und liess alles verkommen. Die Kinder wurden verwahrlost und zum Lügen angehalten.» Für die Rekonstruktion ihres Vorlebens werden noch weitere Informanten zugezogen, wer genau das ist, bleibt aber intransparent. «In Rafz genoss Frau Schmid bereits als ledig einen schlechten Ruf», liest man im Gutachten, und weiter, dass ihr Ehemann Armin bereits «vorher von verschiedenen Seiten vor der Heirat mit dieser übel beleumdeten Ausländerin gewarnt worden sei». Gewichtig werden auch die beim alten Vater eingeholten Anschuldigungen eingearbeitet, Pauline «habe ihm schon immer viel Schwierigkeiten gemacht, habe ihn früher, als sie noch zu Hause war, bestohlen und belogen», zitieren die Psychiater den stadtbekannten Quartalssäufer, «oft habe sie sich dem übermässigen Alkoholgenuss hingegeben» und habe auch sonst überhaupt «vielfach einen anormalen Eindruck gemacht». Den Vorwurf des Alkoholismus widerlegen die Ärzte zwar nach ihren Untersuchungen, die von Vater und Ehemann beobachtete Abnormität jedoch erheben sie in den Status einer Frühdiagnose. Die siebenseitige «Leumundserhebung» mit der – wenn auch fehlerhaften – Auflistung aller Delikte zeigt schliesslich zweifelsfrei, dass es sich bei Pauline um eine chronische Schwindlerin und Betrügerin handelt, die berechtigterweise unter Verdacht steht, geistig nicht ganz normal zu sein.
Im Anschluss an die Vorgeschichte präsentiert der Bericht «Eigene Untersuchungen und Beobachtungen» zur Strafgefangenen Schmid. Auch hier gibt es bemerkenswerte Ungereimtheiten. So betont man die grosse Ruhe bei ihrem Eintritt: «Frau Schmid war auffallend ruhig, als sie in die Anstalt kam. […] Die Internierung machte ihr wenig Eindruck, sie lachte darüber und fand sich rasch in die ungewohnte Situation.» Im Aufnahmestatus der Krankenakte jedoch wird sie als weinendes Häufchen Elend beschrieben. Auch die behauptete Minderintelligenz zeigt sich schillernd, einmal wird Pauline als «oligophren» (als minderintelligent) beschrieben, bei der später durchgeführten Untersuchung fehlen dafür typische Hinweise: «Gedächtnis, Auffassungs- und Merkfähigkeit sind intakt. Die Orientierungsfähigkeit ist normal», stellt der Arzt fest.
Aufschlussreich sind die psychiatrischen Untersuchungen im engeren Sinne, die als Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle wiedergegeben werden. Sie ähneln den vorgängig schon zitierten Polizeiverhören, sind deliktorientierte Einvernahmen mit dem Fokus auf die Lügen und Schwindeleien und auf allfällige Widersprüche, in denen sich Pauline bei ihren Rechtfertigungen verfängt. Die Werthaltung der Ärzte schwingt bei ihren Einschätzungen immer mit, etwa bei der Frage, wann Grundbedürfnisse bei Menschen wie Pauline zu Luxus mutieren: «Sie brachte eine Menge Waren, die sie gar nicht braucht. So besass sie drei Paar Finken und brachte noch ein viertes Paar mit.» Den bürgerlich kultivierten Ärzten fehlt das Verständnis für die Handlungslogik einer in Armut festgefrorenen oder sich mittellos auf der Flucht befindlichen Frau, für die das Anlegen eines Vorrats an Finken durchaus Sinn machen kann. Die von ihr ausgeführten Tatmotive treffen fast durchgehend auf Unverständnis, Erklärungen wie