denkenden, ehrlich die Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände bestimmt.»9
Die lebhafte Wissenschaftspopularisierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts widerlegt das Klischee der traditionell abgehobenen Professorenschaft im Elfenbeinturm.10 Natürlich bezeichneten manche Akademiker die Popularisierung als Wissenschaftstrivialisierung. Wenn der kollegiale Druck zu gross wurde, griffen die Popularisierer aber auch selbst auf das Argument zurück: Ihre Popularisierung sei seriös im Gegensatz zu den unseriös-trivialen Popularisierungen. Doch namhafte Professoren waren sich nicht zu schade, die Integration der Wissenschaften in die bildungsbürgerliche Kultur voranzutreiben. Der Markt für populärwissenschaftliche Medien expandierte massiv: von Zeitschriften und Büchern über Vorträge bis hin zu Ausstellungen in Museen. In Deutschland wurden um 1700 rund 60 solcher Zeitschriften herausgegeben; 1790 waren es bereits über 700, 1875 fast 2000, 1914 schliesslich knapp 6500. Ging es in den populärwissenschaftlichen Periodika zunächst noch um den «ästhetischen, aufklärerischen und philosophischen Genuss der ‹Einheit der Natur›», wie die Historikerin Barbara Orland schreibt, wurden Naturwissenschaft und Technik «als entscheidender Motor für den Fortschritt präsentiert», der sich in beeindruckenden Errungenschaften manifestierte: Eisenbahn, elektrischer Antrieb und Beleuchtung, Telegraf. Das heisst: Der Nutzen gewann an Bedeutung.11
Für die Schweiz hat der Historiker Jon Mathieu die medizinischen Periodika des 19. Jahrhunderts untersucht, die sich um die «Volksgesundheitspflege» kümmerten.12 Ein Arzt und Politiker schrieb in den 1880er-Jahren: «Eine grosse Aufgabe in der hygienischen Aus- und Fortbildung des Volkes fällt der Presse zu, die durch eine derartige eingreifende Thätigkeit mehr Nutzen stiften könnte als durch politische und confessionelle Zänkereien.»13 Zwischen 1850 und 1900 erschienen knapp 3000 Artikel zu medizinisch-hygienischen Themen in populären Zeitschriften, und es wurden fast 300 neue Unterhaltungs- und Belehrungsblätter gegründet. Die meisten Artikel widmeten sich den Themen Gesundheit und Sauberkeit, zunehmend auch dem Äusseren des Körpers und der häuslichen Umgebung. Die Mehrheit der Artikel wurde von den universitären Zentren und ihrem Umfeld angeregt. Die Verfasser und die in den Texten genannten Personen trugen häufig akademische Titel und gaben sich durch ihren Beruf als Fachmänner zu erkennen, als Ärzte, Naturforscher und Chemiker. Oder sie konnten dem wachsenden Kreis eines halbwissenschaftlichen Journalismus zugeordnet werden. Oft druckten die neuen Unterhaltungs- und Belehrungsblätter Artikel aus Fachblättern ab. Wie Mathieu hervorhebt, versuchte man, die Form des populären Mediums zu beachten: Man präsentierte die wissenschaftlichen Stoffe so, dass Laien sie verstehen konnten und sie vielleicht sogar unterhaltsam fanden. Die Artikel adressierten zwar oft die stetig wachsende Arbeiterschaft und die Unterschichten – in der drängenden Überzeugung, diese hätten die Aufklärung besonders nötig: «Die Armen und Lohnabhängigen waren prädestiniert für Krankheit und Schmutz und wurden vielleicht nicht ungesünder, bestimmt aber dreckiger», schreibt Mathieu.14 In Wirklichkeit erreichten sie aber oft nur die bürgerlichen Schichten. Die Zeitschriften kursierten weder in der Arbeiterschaft noch im Kleinbürgertum.
Viele Artikel fallen durch ihren praktischen Inhalt auf, sie beschreiben beispielsweise Heilmittel oder Reinigungsverfahren. Wissenschaftliche Theorien und Methoden indes werden nicht erläutert. Dennoch wird immer wieder betont, man befinde sich im «naturwissenschaftlichen Zeitalter». So lautete auch der Titel einer Rede, die der Erfinder und Industrielle Werner Siemens 1886 an der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin hielt – und «welche via ‹Alpenhorn› auch im Emmental zu vernehmen war, wo sie ‹jedem Leser zu ernstem Nachdenken› empfohlen wurde».15 Der angestrebte Wissenstransfer funktionierte jedoch nicht wunschgemäss. Die populären Medien liessen sich nicht kontrollieren und instrumentalisieren, so wie es den Akademikern vorschwebte, sondern entwickelten eine primär den Absatz im Auge behaltende Autonomie, und die ausserakademische Medizin mit ihren zivilisationskritischen Idealen der Harmonie und Naturheilkraft verschaffte sich immer wieder Gehör. Wiederholt wurde auch Kritik an den Ärzten und der neuen Wissenschaft der Hygiene laut. Ein «volkstümliches Echo auf diese Art des Wissenstransfers gab der bekannte Reim, welcher die ‹Moderne Wissenschaft› als Haarspalterei und akademisches Gezänk persiflierte und 1890 im aufgeschlossenen ‹Familien-Wochenblatt› aus Zürich abgedruckt wurde», so Mathieu: «‹Der Erste hat das Haar gespalten, Und einen Vortrag darüber gehalten; Der Zweite fügt es neu zusammen, Und muss die Ansicht des Ersten verdammen; Im Buche des Dritten kann man lesen, Es sei nicht das richtige Haar gewesen.›»16
Ein wichtiges Argument für die Popularisierung wissenschaftlichen Wissens war der Hinweis auf die öffentliche Bedeutung der Wissenschaften. Die akademische Medizin, so wurde immer wieder erklärt, leiste einen erheblichen Beitrag zum Wohlstand, zur Wehrkraft, zur Bildung und Sittlichkeit von Volk und Nation sowie zur Lösung der sozialen Frage und Versöhnung der politischen Gegensätze. Doch die Realität sah anders aus: Oft trug die Wissenschaftspopularisierung nicht weiter zur «Entzauberung der Welt» bei, wie es der Soziologe Max Weber formuliert hat, sondern im Gegenteil zu ihrer Wiederverzauberung. Die Popularisierer verpackten naturwissenschaftliche Erkenntnisse publikumsgerecht und reicherten sie mit Spiritismus, Anthropomorphismus und Kosmologischem an – keine Spur von Atheismus und nüchternem Naturverständnis. Die Popularisierung vereinigte im Verständnis der Zeit das fachliche wie künstlerische Talent ihres Autors, strebte bei der Materialauswahl keine fachliche Vollständigkeit an, explizierte weder Methode noch Erkenntnisgang, setzte auf Anschaulichkeit, bevorzugte das Medium Sprache – Bilder fanden kaum Verwendung –, gestaltete diese dichterisch und vermied Fachtermini.
Nicht zu vernachlässigen ist der politisierte Kontext. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte Zensur, die von der Kirche mitgetragen wurde. Diese beäugte den Darwinismus argwöhnisch. Darwinisten und Antidarwinisten bekämpften sich. Die Faszination für die Naturwissenschaften stiess bei Staat und Kirche auf Vorbehalte. Diese verteidigten den neuhumanistischen Bildungsbegriff. Schliesslich emanzipierten sich die bürgerlichen Milieus, in denen die popularisierten Wissenschaften kursierten: Sie befreiten sich von der obrigkeitlichen Bevormundung. Nicht zuletzt dieser politisierte Kontext gab der Wissenschaftspopularisierung gesellschaftliche Relevanz, auch wenn deren Ausrichtung letztlich eine das Publikum versichernde Note aufwies: Die ästhetisierenden und emotionalen Berichte über das Naturganze ermöglichten die gefahrlose Identifikation mit den Naturwissenschaften. Die Popularisierer griffen Themen auf, die das bürgerliche Publikum bewegten, aber nicht beunruhigten.
Dies belegen die zahlreichen Vereine. Sie boten nicht nur Vortragenden einen Rahmen, sondern praktizierten eine frühe Form von «Citizen Science», von bürgergestützter Wissenschaft. Hier kamen die an den Wissenschaften interessierten Bürger, die besonders in Kleinstädten, die keine Universität oder Akademie besassen und eine wichtige Rolle bei der Verbreitung wissenschaftlichen Wissens spielten, in Kontakt mit Botanikern und Zoologen. Für die Deutschschweiz hat der Historiker Tobias Scheidegger gezeigt, wie die Kleinstädter, in der Regel unterstützt von der im Hintergrund wirkenden Gattin, dem Naturmuseum vorstanden, die naturschützenden und die Natur erforschenden Vereine präsidierten und als Biologielehrer an der Kantonsschule wirkten.17 Ihre Wissenschaft war so materialreich wie theoriefern, und das wussten sie: In Selbstbescheidung nannte einer sein Tun «petite science». Die Männer standen nicht bloss mit den professoralen Grössen an den Hochschulen in Kontakt und waren untereinander verbunden, sondern auch mit den Dorfschullehrern in den Gemeinden. Diese unterstützten sie beim Sammeln und lauschten an den Jahresversammlungen ihren Ausführungen. Man tauschte Käfer, informierte über Fundorte, schickte einander Zeitschriften zu, ging auf Exkursion. An diesem Wissensmilieu partizipierten viele Laien. Das naturkundliche Dispositiv mit seinen Diskursen und Institutionen, seiner Architektur und Moral brach nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander.
Die Wissenschaftspopularisierung war zunächst ein bürgerliches Phänomen. Ab der Jahrhundertwende entstand parallel dazu eine proletarische Wissenschaftspopularisierung, ebenfalls in Vereinen und via Zeitschriften. In Wien und Berlin wurden Arbeiterbildungsvereine gegründet, allen voran die Berliner Gesellschaft Urania. Der Nationalökonom Otto Neurath, Austromarxist und Mitglied des Wiener Kreises, entwickelte für die Arbeiterinnen und Arbeiter eine Darstellungslehre für die verständliche Präsentation komplexer Sachverhalte in statistischen Bildern.18 Selbst Analphabeten sollten nach dem Besuch der Kurse