Min Li Marti

Freiheit


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selbstverständlich sie uns scheint, so sehr ist Freiheit heute also ein Grundwert, der an manchen Brennpunkten in Bedrängnis geraten ist. Es ist die Absicht des vorliegenden Bandes, zu fragen, was aus diesem Befund folgt. Wie lässt sich Freiheit vermehren, sichern und gestalten in einer Welt, deren Grenzen dichter werden, deren Ressourcen zur Neige gehen und deren Klima einer menschengemachten Veränderung unterliegt, die den elementaren materiellen Grundlagen von Freiheit überhaupt den Boden zu entziehen droht? Welchen – und nicht zuletzt wie viel – Staat braucht die Freiheit heute? Welche Wirtschaftsordnung kann wahrhaft der Freiheit dienen? Wer gewährleistet, dass Bildung und Wissen als Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung von Freiheitsspielräumen allgemein zugänglich bleiben beziehungsweise noch vermehrt zugänglich werden? Wie retten wir die Demokratie, die politische Freiheit für alle erst möglich macht, vor den Auflösungserscheinungen, welche populistische und nationalistische antiliberale Strömungen – auch als Reaktion auf wirtschaftliche Freiheitsexzesse unserer Zeit – in Gang gesetzt haben? Und nicht zuletzt: Wie bleibt die Freiheit erhalten in der digitalisierten Welt von morgen?

      Wir haben einige profilierte Stimmen der (Schweizer) Debatte angefragt, sich dieser Brennpunkte anzunehmen, an denen sich die Freiheit und unser Einsatz für sie heute besonders zu bewähren haben. Dies in einer Form, die es erlaubt, die Vielschichtigkeit, die Ambivalenz und das Mitreissende der Freiheit hinreichend zum Ausdruck zu bringen. Dabei steht nicht in erster Linie die philosophische, ökonomische oder ideengeschichtliche Einbettung des Freiheitsdenkens zur Debatte. Hierzu existiert genügend Literatur, was nur verdeutlicht, welch zentraler Rang dem Wert der Freiheit auch im Denken, das unsere Gesellschaft fundiert, zukommt. Die aufgeworfenen Fragen interessieren uns in diesem Band allem voran als politische Fragen, denn sie stehen für drängende Aufgaben, an denen sich die Zukunft der Freiheit entscheiden könnte. Entsprechend versteht sich dieses Buch dezidiert als Beitrag zu einer dringlichen politischen Debatte, und war von Anfang an mit dem Anspruch verknüpft, Stimmen aus der Zivilgesellschaft, dem politischen Journalismus, der Wissenschaft und der aktiven Politik zusammenzubringen, die sich nicht ein- und demselben politischen Milieu zuordnen lassen.

      Die neun Hauptbeiträge werden unterbrochen von «Zwischenrufen», die spielerische und ganz persönliche Überlegungen der jeweiligen Autorinnen und Autoren zu einigen wichtigen Themenfeldern rund um den Freiheitsbegriff beinhalten. Für die «Zwischenrufe» genossen die Autorinnen und Autoren im Sinne einer «Carte Blanche» vollumfängliche Freiheit bezüglich Fokus, Gestalt und Form ihres Textes. Alle Beiträge in diesem Buch eint die Faszination für die Freiheit, dieses wundersame Tier, und das kritische Interesse am liberalen Versprechen, dessen Einlösung in vielerlei Hinsicht noch immer in weiter Ferne scheint. Die grosse Bereitschaft aller angefragten Persönlichkeiten, in Form eines Haupttextes oder eines «Zwischenrufs» zu diesem Band beizutragen, hat uns erlaubt, einen breit gefächerten Blick auf aktuelle Fragen rund um die Freiheit zu werfen und, so hoffen wir, blinde Flecken, wie sie die politische Inanspruchnahme des Freiheitsbegriffs oft kennzeichnen, zu vermeiden.

      Uns bleibt der Dank an alle, die zum Gelingen dieses Vorhabens beigetragen haben. Dieser geht allem voran natürlich an alle Autorinnen und Autoren, die uns ihre Zeit, ihre Gedanken und ihre in fast allen Fällen originalen Texte zur Verfügung gestellt haben. Bei ihnen allen bedanken wir uns herzlichst für das fast blinde Vertrauen in unser Vorhaben, das wir bewusst nur minimal kuratiert haben und das bei allen Beteiligten den Willen vorausgesetzt hat, die Freiheit, welche wir in inhaltlicher und formaler Hinsicht gewährt haben, im Interesse dieses gemeinsamen Projekts zu nutzen. Zu danken für Vertrauen und Freiheit haben wir ebenfalls dem Verlag Hier und Jetzt, namentlich Denise Schmid, Rachel Camina und Bruno Meier.

      «Was meinst du eigentlich mit Freiheit?», fragt Vreni ihren Fritz im Dialog von Laura de Weck, der diesen Band eröffnet. Uns bleibt zu hoffen, dass wir mit dem vorliegenden Buch nicht nur zur vermehrten Debatte über die Freiheit, diesen in Bedrängnis geratenen Grundwert, anregen, sondern dass es Lust macht darauf, uns gerade diese Frage immer wieder zu stellen: «Was meinst du eigentlich mit Freiheit?» Vor allem aber auch: «Was brauchst Du, um wirklich frei zu sein?»

      Zwischenruf Dina Pomeranz

      Fast nichts hilft einem so sehr, die Wirkung von langsamen, graduellen Veränderungen wahrzunehmen, als wenn man längere Zeit weg ist. Als ich 2016, nach 18 Jahren in der Westschweiz und in den USA, wieder zurück nach Zürich kam, fielen mir sehr viele positive Veränderungen auf, die sich in der Zwischenzeit entwickelt hatten. Im Gegensatz zu meinen alten Freundinnen und Freunden, die diese Veränderungen graduell miterlebt hatten, und sie deshalb für selbstverständlich hielten, erschienen mir die neuen Realitäten als überraschend und beeindruckend. An jeder Ecke begegneten mir Erinnerungen aus meiner Kinder- und Jugendzeit, und der Kontrast zu heute sprang deshalb ins Auge.

      Vieles hat sich verändert, aber wenn ich meinen Eindruck in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen: «Mehr Freiheit, sich selbst zu sein.» Zum einen zeigt sich das für mich in der stark gewachsenen Diversität unserer Gesellschaft. Im Vergleich war in der Schweiz meiner Kindheit viel klarer definiert, was ein «normaler» Lebensstil sei und wie man sich zu verhalten habe. Wenn man in diesen Stil gut hineinpasste, mochte das sehr angenehm sein. Für viele Menschen bedeutete es jedoch eine ständige Anpassungsleistung und ein Gefühl, so wie man war, irgendwie nicht ganz dazuzugehören. «Wow, Du bist ja laut für eine Frau!», «Was, Ihr feiert keine Weihnachten zu Hause?», «Peinlich, hast Du gehört, er soll schwul sein.» Solche Sätze fielen oft und schienen normal. Selbstverständlich hören wir auch heute noch solche Stimmen in der Schweiz. Aber die Bandbreite der sichtbar gelebten Lebensformen ist viel grösser geworden. Wir sehen in unserem Alltag Hausfrauen und Firmenchefinnen; verheiratete, unverheiratete und vermehrt auch homosexuelle Eltern; Menschen mit christlicher, jüdischer, muslimischer, buddhistischer oder keiner Religion; Eingewanderte, Urschweizerinnen, Doppel- und Tripelbürger; Politikerinnen und Politiker, von strohblond bis dunkelhäutig. Ich stelle mir vor, dass es heutzutage für junge Menschen ein viel breiteres Spektrum an Vorbildern gibt. Dadurch entsteht eine grössere Freiheit der denkbaren und erträumbaren Zukunft. Mehr Freiheit, uns selbst akzeptiert und zugehörig zu fühlen, so wie wir sind, mit all unseren vielfältigen Facetten.

      Den gesellschaftlichen Unterschied zwischen heute und der Zeit, als ich hier aufgewachsen bin, sehe ich in vielen Bereichen. Als Kind war ich als jüdisches Mädchen in der Schule eines von ganz wenigen Kindern einer nicht christlichen religiösen Minderheit. Heute leben in der Stadt Zürich 36 Prozent religionslose, 6 Prozent muslimische und 1 Prozent jüdische Menschen sowie 9 Prozent Menschen anderen Glaubens. Auch in der Geschlechterfrage hat sich vieles getan: Als ich zehn Jahre alt war betrug der Anteil Frauen im Nationalrat nur gerade 11 Prozent. Heute ist diese Zahl auf 31 Prozent gestiegen (obwohl sie im Ständerat wieder auf 13% gesunken ist). Die Diversität und die Freiheit der Lebensgestaltung haben in vielen Dimensionen zugenommen. In meinem Wohnhaus leben Menschen mit mindestens zehn verschiedenen Nationalitäten und in ganz verschiedenen Lebensformen: Familien, Wohngemeinschaften, Singles, Konkubinatspaare. Dieser letztere Begriff ist ja inzwischen fast ausgestorben. Es ist heute schwer vorstellbar, dass das unverheiratete Zusammenwohnen in Zürich noch bis 1972 von Gesetzes wegen verboten war.

      Die Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten eine enorme Entwicklung durchgemacht. Ein gesellschaftlich relativ starres, homogenes und hierarchisches Land hat sich gewandelt zu einer viel diverseren, freiheitlicheren, kreativeren und weltoffeneren Gemeinschaft. Darauf dürfen wir stolz sein! Wir haben Institutionen entwickelt, die es der neu zugewanderten Bevölkerung erlauben, sich hier relativ schnell und erfolgreich zu integrieren und konstruktiv zum Erfolg der Schweiz beizutragen. Wir tragen gesellschaftliche und politische Konflikte durch unsere direkte Demokratie offen und häufig aus und vermeiden dadurch langsam schwelende Frustrationen und eine Resignation grosser Bevölkerungsteile. Wir verbinden die alten Traditionen der Schweiz – den Föderalismus, die Integration von regionalen und sprachlichen Minderheiten, die direkte Demokratie – produktiv mit den neuen Herausforderungen unserer Zeit.

      Diese neue, alte Schweiz, mit ihren tollen alten Institutionen und ihrer neuen Offenheit für verschiedene Identitäten und Lebenswege, war ein wichtiger Grund dafür, dass ich mich nach Jahren in den USA wieder zur Rückkehr in meine alte Heimat entschieden habe.