Die Büchse der Libertas – Freiheitliches Denken als Prüfstein für die Politik Karen Horn «Freiheit? Ein schönes Wort, wer’s recht verstände! Was wollen sie für Freiheit? Was ist des Freiesten Freiheit?» Aus: «Egmont» von Johann Wolfgang von Goethe Der Liberalismus ist heute Allgemeingut. Wer wollte schon von sich behaupten, die Freiheit sei ihm politisch nicht wichtig? Und wer glaubte gar, er könne in unseren Breiten mit einem ausdrücklichen Illiberalismus Wahlen gewinnen? Die Freiheit ist in der Schweiz nicht nur dem Freisinn lieb, sondern sehr wohl auch der Sozialdemokratischen Partei und der Schweizerischen Volkspartei. Im Ausland bekennt man sich von rechts aussen bis links aussen im gesamten politischen Spektrum so verbal wie verbos zur Freiheit, von der niederländischen Partij voor de Vrijheid bis hin zu Jean-Luc Mélenchons France Insoumise. Dass trotzdem alles andere als politische Einigkeit herrscht, liegt daran, dass fast jeder etwas anderes unter Freiheit versteht oder einen anderen Aspekt des Grundwerts in den Vordergrund rückt. Es passt eine Menge in die grosse Büchse der Libertas. Der Begriff ist dermassen breit, dass man ihn in der Tat an den verschiedensten Zipfeln packen, in alle Richtungen an ihm zerren und sich lange um ihn zanken kann. Und der Streit wird häufig umso heftiger, als das Freiheitsverständnis nun einmal im Zentrum allen politischen Denkens steht und für viele Menschen auf eine emotional bedeutsame Weise zu dem gehört, was sie selbst im Inneren ausmacht. Wer vorgehalten bekommt, er sei ja mit einem völlig falschen Freiheitsverständnis unterwegs, der dürfte sich deshalb nicht nur auf einer abstrakten, fernen, intellektuellen Ebene kritisiert, sondern höchst konkret getroffen fühlen in einer tiefen, identitätsstiftenden, persönlichen Überzeugung – mit der Folge, dass er umso hartnäckiger an der Brille festhält, die er sich nun einmal auf die eigene Nase bugsiert hat. Hierin liegt eine der vielleicht am häufigsten übersehenen Gefahren des Liberalismus: dass auch er in Radikalisierung und Engstirnigkeit münden kann, und dass auch in seinem Fall eine Nibelungentreue zu gedanklich auf die Spitze getriebenen Prinzipien praktische Vernunft und kluge Abwägung zu überlagern vermag. Dabei ist der Liberalismus, wie auch immer man ihn im Einzelnen fassen will, nichts anderes als bloss ein Ausgangspunkt. Mit einem Grundsatzbekenntnis zur Freiheit ist noch lange nicht alles geklärt; die Probleme beginnen danach erst. Der Liberalismus liefert für das politische Handeln nur ein normativ gut begründetes Kriterium, das seinerseits aber Konflikte und Spannungen produziert. Freiheitsliebe entbindet nicht vom Klugheitsgebot und der Notwendigkeit informierten Gewichtens und Abwägens. Welche Freiheit? Um die Frage, welcher Freiheitsbegriff für die Politik relevant ist, kommt man freilich auch dann nicht herum, wenn man sich nicht anmassen will, im Konzeptionellen abschliessend über richtig und falsch zu entscheiden. Die Politische Philosophie hält zur Beantwortung dieser vorab zu beantwortenden Frage einen bunten Strauss überlappender Differenzierungen bereit. Zwei dieser wichtigen Unterscheidungen sollten helfen, das weite Feld ein wenig zu sortieren. Es wird nun zunächst etwas abstrakt. Erstens kann man Freiheit positiv («Freiheit zu etwas») oder negativ («Freiheit von etwas») denken, nach einer berühmten, aber oft trivialisierten Gegenüberstellung von Isaiah Berlin.1 Negative Freiheit ist negativ nur im Sinne eines Abwehrrechts: Sie bedeutet Abwesenheit von Zwang. Positive Freiheit bezieht sich auf das Humboldt’sche Ideal der (und, nach dessen Vorstellung, der Pflicht zur) Selbstverwirklichung;2 in der liberalen Diskussion wird sie manchmal, weil dort die Kritik am umfassend umverteilenden Wohlfahrtsstaat üblich ist, ideengeschichtlich falsch auf den Aspekt der finanziellen Autonomie verkürzt. Negative und positive Freiheit sind verschieden und dennoch in der konkreten Betrachtung nicht wirklich voneinander zu trennen. Sie beziehen sich vielmehr aufeinander.3 Schliesslich bedarf es der «Freiheit von» als Voraussetzung für die wie auch immer mit Inhalt gefüllte «Freiheit zu».4 Zweitens hat die Freiheit, ob man sie nun negativ oder positiv denkt, sowohl eine interne (innere) als auch eine externe (äussere) Facette. Die interne Facette ist jene, die von einem selbst ausgeht; hier handelt es sich zumeist um eine Einstellung. Die externe Facette ist auf der Mittelebene angesiedelt; sie hängt nicht von einem selbst, sondern von anderen ab. Was einem Menschen im günstigen Fall ermöglicht, sich zu entfalten und selbst zu verwirklichen (also seine positive Freiheit zu realisieren), kann das vorhandene Geld sein, das eine entsprechende Erziehung ermöglicht (externe Facette), aber auch sein Naturell (Einstellung). Die innere Einstellung, die einen im ungünstigen Fall daran hindern mag, sich zu entfalten, lässt sich gleichzeitig als ein innerer Zwang begreifen, als ein Fehlen von negativer Freiheit, was insofern eines aktiv zwingenden Dritten gar nicht bedarf (siehe Schaubild). Natürlich lässt sich auch hier oft im konkreten Einzelfall zwischen den beiden Facetten und Vorzeichen der Freiheit eine Verbindung finden; nichts im Leben ist voraussetzungslos, auch innere Einstellungen sind es nicht. Fokus auf das Politische In der Politik ist relevant, was politisch ist – also nicht so sehr, was den Einzelnen im stillen Kämmerlein bewegt, sondern was er mit anderen in der politisch verfassten Gemeinschaft zu verhandeln hat. Wobei es zu den elementaren Einsichten des Liberalismus gehört, dass es zwischen diesen beiden Sphären einer sauberen Trennung bedarf. Das Hochgefühl der Freiheit hingegen, das zum Beispiel den Seemann auf seiner Barke erfasst, den Skifahrer im Abfahrtsrausch, den Wanderer am Gipfelkreuz, das jauchzende Kind auf der hoch hinaufschwingenden Schaukel und den jungen Menschen, der zum ersten Mal eine eigene Wohnung bezieht – es ist beglückend, aber es gehört analytisch schlicht nicht hierher oder allenfalls nur insofern, als sich die Frage stellt, was denn die Politik dafür zu tun und vor allem zu unterlassen hat. Und dennoch ist für den politischen Kontext das Hochgefühl der Freiheit darin bedeutsam, dass es in Erinnerung ruft, wie stark in der menschlichen Natur die Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit ausgeprägt ist, aber auch allgemein nach Möglichkeiten, nach Selbstbestimmung. Im Politischen geht es um die Freiheit in ihrer externen Facette; die Varianten A und C im Schaubild sind hier mithin nicht unmittelbar relevant. Es geht insbesondere um die «grosse Freiheit» in Variante D, die auf das «Verhältnis von Individuum und Staat hin entworfen ist», wie es der Zeithistoriker Paul Nolte einmal formuliert hat.5 Wobei diese Definition durchaus nicht ausschliesst, sondern einschliesst und sogar erfordert, sich mit dem zu befassen, was zwischen Individuum und Staat liegt, der Bürgergesellschaft. Im Politischen jedoch geht es um den Menschen in der Gemeinschaft, um das Individuum im Kollektiv, im selbst gewählten wie im schicksalhaften, auf allen Ebenen der Staatlichkeit und auch der auf dieser Grundlage eingegangenen supranationalen Bindungen und Verbindungen. Es geht um alle Interaktionen von Menschen, die dazu führen, dass der Aktionsradius des einen den des anderen begrenzt – und mithin auch nicht nur im wirtschaftlichen Bereich. Die gängige Unterteilung des Freiheitsbegriffs in «politische Freiheit» und «wirtschaftliche Freiheit» suggeriert fälschlich, dass sich die Freiheit departementalisieren lässt. Die Freiheit ist unteilbar. Derartige Adjektive ergeben nur Sinn, wenn spezifisch die Freiheit in einer bestimmten Sphäre wie der
Positive Freiheit
Negative Freiheit
Interne Facette (Einstellung)
A: Ich bin innerlich fähig, mich zu entfalten und zu werden, wer ich bin.
C: Ich werde nicht von meinen eigenen inneren Zwängen und Hemmungen davon abgehalten zu tun, was ich möchte.
Externe Facette (Mittel)
B: Andere Menschen befähigen mich, mich zu entfalten und zu werden, wer ich bin.
D: Ich werde nicht mit Zwang durch andere Menschen davon abgehalten zu tun, was ich möchte.