ist sie Teil eines Ganzen. Im Nachdenken über die Freiheit dabei stets beim einzelnen Menschen anzusetzen, bedeutet im Übrigen keineswegs, wie Liberalen gelegentlich unterstellt wird, einer Individualisierung der Gesellschaft das Wort zu reden. Im Gegenteil: Nur mit einer solchen konzeptionellen Vorgehensweise kann man sich logisch darum bemühen, dass niemand im abstrakten Kollektiv unter die Räder kommt.
Viele Liberale bringen gegen das Konzept der positiven Freiheit im Politischen vor, dass dieses beinahe jede Form von materieller Umverteilung zu rechtfertigen vermag – und damit fast jeden Eingriff in das Eigentum und damit in die Freiheit anderer. Auch wenn das Argument stichhaltig ist, stellt dieser materielle Fokus einen Irrtum dar. Das eigentliche Problem liegt auf einer anderen Ebene: in der Einmischung anderer in die Definition dessen, «wer ich bin» und werden soll (Variante B im Schaubild). Isaiah Berlin sprach in diesem Zusammenhang von einer «monstrous impersonation».6 Aus liberaler Sicht problematisch ist hier erstens schon die zugrundeliegende Unterscheidung zwischen einem geringeren, vorläufigen Ich und einem höheren, wirklichen Ich; zweitens der implizite Imperativ, dass es sich vom einen zum anderen zu bewegen gelte; drittens die Möglichkeit, dass das Erkennen meines Potenzials und die Entscheidung über den Grad, zu dem ich es verwirkliche, nicht mir selbst obliegt. Aus dieser Problematik ergibt sich gerade im Politischen ein Vorzug für die negative Freiheit, also für einen nicht invasiven Freiheitsbegriff, aus dessen Perspektive jeder Person ihre Selbstverortung, Selbstbestimmung und Selbstentfaltung zu überlassen ist. Es bleibt mithin nur Variante D im Schaubild: «A free man is he that […] is not hindered to do what he has a will to do», wie schon Thomas Hobbes schrieb.7
Für die Politik bedeutet das, dass jede kollektive Entscheidung und jede staatliche Massnahme unter dem Kriterium zu betrachten sind, ob Bürger mittels Zwang davon abgehalten werden zu tun, was sie möchten. Über den Begriff des Zwangs wiederum kann man sich auch lange streiten: Was ist überhaupt Zwang, und unter welchen Bedingungen ist er zulässig? Friedrich August von Hayeks nicht maximal scharfe, aber abgewogene Herangehensweise erscheint plausibel und praktikabel. Sie bindet die Ausübung von Zwang durch den Staat strikt an das Kant’sche Willkürverbot, toleriert ihn also allenfalls unter der Herrschaft des Rechts und dem Diskriminierungsverbot, und unterwirft ihn auf dieser Grundlage noch dem «harm principle» sowie dem Gebot der Verhältnismässigkeit.8 Gemäss dem «harm principle» nach John Stuart Mill gilt, dass «der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten».9
Die Freiheit nimmt dabei eine besondere Stellung gegenüber anderen Werten und Zielen ein, die in der Politik verfolgt werden können: der Gerechtigkeit, der Gleichheit, dem Frieden, der Sicherheit, und was einem sonst noch so einfällt.10 Auf der Ebene der individuellen Tugenden ist sie eine vorgelagerte, universelle Voraussetzung: Erst wo Menschen in Freiheit leben, ergibt es Sinn, an sie die Aufforderung zu richten, sie mögen sich gerecht verhalten. Ein im Nachhinein vom Ergebnis her als gerecht oder ungerecht beurteiltes Handeln verdient diese Bezeichnung nicht, wenn der handelnde Mensch unfrei war und deshalb nicht über die Möglichkeit der Entscheidung verfügte. Auf der gesellschaftlichen Ebene gilt dasselbe, soweit es um die grundsätzliche Legitimation von staatlicher Ordnung und kollektivem Handeln geht: Gleich, ob man über Freiheit oder Gleichheit oder Gerechtigkeit nachdenkt, man bedarf dafür derselben individualistischen Prämissen, desselben Ausgangspunkts in der Würde des einzelnen Menschen und, zumindest in einer kontraktualistischen Herangehensweise, derselben Unterwerfung unter den Vorbehalt der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit.
Unterhalb dieser Metaebene jedoch verändert sich das Verhältnis zwischen der Freiheit und anderen Werten wie der Gerechtigkeit und der Gleichheit; hier kommt es durchaus regelmässig zu einer Konkurrenz. Ein Zuviel an Gleichheit, zum Beispiel, sofern sie nicht konzeptionell allein auf die rechtliche Gleichheit beschränkt ist, bedroht die Freiheit. Freiheit ohne Berücksichtigung der Gerechtigkeit ist auch keine Option. In der Politik besteht die Kunst dann darin, eine Balance zu finden und die Konkurrenz der beiden Ziele in eine Komplementarität zu überführen. Die Welt der Werte und der politischen Ziele ist plural. «Human goals are many, not all of them commensurable», befand Berlin:11 Nicht immer lassen sich diese Ziele ohne Weiteres harmonisch aufeinander ausrichten, manchmal widersprechen sie einander. Deshalb gilt es wohlinformiert und klug abzuwägen, fair zu verhandeln und bewusst nach Einigungen zu suchen, sich in Respekt und Toleranz zu üben, Spannungen auszuhalten und sich mit nicht maximalen Zielerreichungsgraden abzufinden.
Ein wenig Ökonomie
Sich jeweils gründlich in die zu verhandelnde Materie zu vertiefen, um nicht an der klischeehaften Oberfläche der Dinge zu verharren, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Das bedeutet zum Beispiel, dass sich jemand, der aus Gründen der Gerechtigkeit für einen Mindestlohn ficht, Klarheit über die nicht nur kurzfristig erwartbaren Folgen verschafft und diese bewertet – unter dem Gesichtspunkt, ob die Massnahme in einer relevanten Frist mit Blick auf die eigene Absicht überhaupt zielführend ist. Ist dies der Fall, dann bleibt zu fragen, wie sie sich zu den Nebenwirkungen verhält. Als ordnungspolitisch relevante Nebenwirkung steht bei diesem Beispiel im Vordergrund, dass das Verfügungsrecht von Unternehmern beschnitten und dass die an der Knappheit orientierte (und zu ihrer Behebung beitragende) Koordination auf dem Arbeitsmarkt über Preissignale verzerrt wird.
Um das Gesamtbild zu bewerten, bedarf es nun nicht nur, aber auch ein wenig sperriger Ökonomie. Die preistheoretisch logisch unabweisbare Folge des Mindestlohns zum Beispiel ist, sofern die Nachfrage nach Arbeitskräften «elastisch», also preisempfindlich ist, eine geringere Zahl von angebotenen Stellen. Aber zunächst wäre empirisch zu klären, ob die Nachfrage denn elastisch ist oder nicht, beispielsweise weil das Umstellen auf Roboter in der Gastwirtschaft keine Option ist. Ist sie elastisch, ist ein Mindestlohn keine gute Idee – weder aus Gründen der Gerechtigkeit noch der unternehmerischen Freiheit. Ist sie nicht sonderlich elastisch, dann gilt es, die voraussehbare Reaktion der Arbeitgeber zu ermitteln: Können sie die zusätzlichen Kosten auf ihre Kunden überwälzen? Ist das dann gerecht? Entspricht das der ursprünglichen Absicht? Und welche ökonomischen Folgen zeitigt das? Bildlich gesprochen, tritt das volle Ausmass der unbeabsichtigten Nebenwirkungen einer Massnahme erst zutage, wenn alle Ringe gezählt sind, die sich um den ins Wasser geworfenen Stein ziehen.
Freilich lässt sich nicht alles abschliessend wissenschaftlich beurteilen, und die Ökonomie ist gewiss nicht die einzige dafür relevante Disziplin. Aber die ökonomische Theorie und ihre empirische Evidenz können zumindest helfen, eine Entscheidung auf eine halbwegs solide sachliche Basis zu stellen. Gleichzeitig sei vor einem «Ökonomismus» gewarnt: So manche politische Entscheidungen mögen wirtschaftlich gut begründet und sinnvoll sein, doch wenn man nicht bedenkt oder kein Gespür dafür besitzt, welche sozialpsychologischen Prozesse und politischen Dynamiken sie in Gang zu setzen vermögen, dann nützt das alles wenig – ein drastisches aktuelles Beispiel ist die ökonomisch gar nicht so unsinnige geplante Ökosteuer auf Benzin und Diesel in Frankreich, die wesentlich die Bewegung der «Gilets jaunes» hervorgerufen hat. Liberal inspirierte Politik kann nicht nur ökonomisch informiert sein; sie bedarf des Blicks und der Kompetenz in alle Richtungen. So oder so ist von allen, die sich auf die Freiheit berufen, Bereitschaft zum produktiven Selbstzweifel angezeigt, des ständigen demütigen Zweifels «daran, ob die gefundene Antwort wirklich die richtige ist, gegen alle Gewissheiten der Logik wie der geschichtlichen Entwicklung», 12 wie Peter Graf Kielmansegg schreibt. Liberalismus ohne Anerkennung des Pluralismus, ohne Skepsis gegenüber absoluten Wahrheitsansprüchen, ohne Selbstzweifel und ohne Toleranz wäre dogmatisch, lebensfern und schlichtweg inhuman.
Ein konzeptionelles Zwischenfazit
Dies ist es vielleicht, was an dieser Stelle als konzeptionelles Zwischenfazit festzuhalten wäre: erstens, dass der philosophische Liberalismus der praktischen Politik mit dem Konzept der negativen Freiheit eine durchaus alltagstaugliche Messlatte an die Hand gegeben hat; dass nämlich jede kollektive Entscheidung und jede staatliche Massnahme unter dem Kriterium zu betrachten sind, ob die Bürger mit Zwang davon abgehalten werden zu tun, was sie möchten, oder ob sie im Gegenteil einen Zuwachs an Handlungsspielraum erhalten. Zweitens, dass noch so starke liberale