bestimmten, wenngleich sehr offenen Regeln. Das erscheint im ersten Moment verwirrend und widersprüchlich. Gerade aber, wenn wir die Einmaligkeit des Falles und der ihm innewohnenden Strukturen anerkennen, können wir auf monokausal verkürzte Interventionstechniken verzichten, die uns in Gefahr bringen, dieses Einmalige zu einem »Fall von« zu machen (vgl. Müller 1994, S. 14). Was würde geschehen: Der Dialog bräche ab und führte zum »Schweigen des Subjekts« (vgl. Weber. J. 1988, S. 122). Wir verspielten den Zugang zum Erleben und den ungelösten Konflikten unseres Gegenübers. Wer innere und äußere Bilder verwechselt, ist zu einer »Methodologie des Zuhörens und Sprechens« nicht mehr in der Lage. Kulturelle Phänomene und innersubjektive Zustände treten uns dann wie »Phänomene der äußeren Natur« entgegen, und nicht mehr als solche der menschlichen Geschichte und ihrer Widersprüche (vgl. Warsitz 1997, S. 123 ff.).
Es ist ein wenig wie im Höhlengleichnis von Platon. Darin ist von Gefangenen die Rede, die an Hals und Füßen gefesselt sind und immer nur an die Wand starren können. Hinter ihren Köpfen brennt ein Feuer, das Licht spendet. An der Wand sind nur Schatten von Gegenständen zu sehen, die draußen von schweigenden Gauklern vorbeigetragen werden. »Endlich wird deutlich, dass sie nichts anderes für wahr halten können als eben jene Bilder an der Wand, d. h. die Schatten der Gegenstände, die die Künstler vorbeitragen«. Diese Schatten besitzen den niedrigsten Erkenntniswert, weil sie nicht überprüfbar sind und schlichtweg für die Wahrheit gehalten werden müssen (vgl. Banki 1986, S. 12 f.). Wir sollten also aufpassen, auf sehr konkretistische Weise etwas für bare Münze zu nehmen, was womöglich viel komplizierter und vielschichtiger ist. Mit hyperaktivem Verhalten kann z. B. genauso eine ängstigende depressive Grundstimmung in Schach zu halten gesucht werden, wie es als Notwendigkeit erkannt und verinnerlicht wurde, eine tief traurig, in sich gekehrte Mutter überhaupt auf sich aufmerksam zu machen.
Verhalten und Motiv sind eben nicht identisch. Die Beobachtung eines solchen Verhaltens ist ein Schritt zum Verstehen, aber nicht dieses selbst. Die Bekämpfung des Symptoms befreit nicht vom Anlass. Das Verstehen des Anlasses aber befreit vom Symptom. Dieses Verstehen steht für einen hochkomplexen Vorgang, der aus ganz unterschiedlichen Facetten besteht, die am Ende in einer Art Gesamtschau zusammengefügt werden müssen. Beteiligt sind Empathie, Intuition, urtümliche Affekte und reflektierte Emotionen, Identifikation und Befremdung, Assoziieren, kognitives Begreifen, Wissen und Nicht-Wissen, am Ende Versprachlichung.
Im Folgenden geht es um eine besondere Verstehensmethodik, mit der sich Tiefendimensionen auf eine Weise ausloten lassen, wie es sonst nicht möglich ist. Dazu muss ich jetzt etwas ausholen. Zunächst einmal gehört die Hermeneutik, um deren eine prägnante Form es hier geht, zu den zentralen geisteswissenschaftlichen Konzepten des Verstehens, und ihre Anfänge reichen weit in die griechische Antike zurück. Als die Kunst des Auslegens entstand sie zu einer Zeit, da die Gabe der Weissagungen allseits verehrt wurde. Das Orakel von Delphi gab keine konkreten Anleitungen, verbarg aber den Sinn seiner Antworten auch nicht vollständig. Es begnügte sich damit, »Andeutungen« zu machen. Die Enträtselung oblag den Sterblichen (vgl. Schreiter 1998, S. 411). Der bedachte Umgang mit dem Vagen zeichnet die Hermeneutik noch immer aus. Mit den ihr eigenen Mitteln von Nacherleben und Deutungen wird versucht, sich den im ersten Moment undurchschaubaren Phänomenen der Lebenswirklichkeit anzunähern.
Die Hermeneutik kann nicht mit »genau definierten Zeichen, die in genau definierten Beziehungen stehen« arbeiten, sondern ist genötigt, Unterschiede, Veränderungen und Widersprüche in ihren Erkenntnisvorgang aufzunehmen.
»Eine Theorie dieser Art steht vor dem Problem, alles Mögliche, zugleich aber auch jedes Einzelne erfassen zu müssen. Das verlangt, vom Einzelfall abzusehen und umgekehrt jeden Einzelfall auf die ihm gebührende Weise zu behandeln. Theorien dieser Art pendeln daher zwischen Generalisierung und Konkretisierung (…)« (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 188 f.).
Ursprünglich war sie, wie angeführt, tatsächlich allein als Textauslegung gedacht. Zur Erläuterung sei vor allem auf die folgende Systematik des Entschlüsselns verwiesen: Der Sinn eines ganzen Satzes setzt sich aus der Bedeutung der einzelnen verwendeten Wörter zusammen, die Bedeutung der einzelnen Wörter aber ist nur im Lichte des Gesamtzusammenhangs dieses einen Satzes zu verstehen. Vor allem, wenn Wörtern mehrere, gänzlich unterschiedliche Bedeutungen beigegeben sind, wird der Anspruch an diese Aufgabe nachvollziehbar. Der wechselseitige Bezug des Ganzen zum Einzelnen und des Einzelnen zum Ganzen ist auch als hermeneutischer Zirkel bekannt, wiewohl das Vorverständnis, das hier aufscheint, vorurteilsbehaftet erscheint und deshalb kein Wahrheitsanspruch einzulösen ist. »Eine philosophische Reflexion wird sich dabei nicht an einer falschen, hermeneutischen Wahrheitsvorstellung orientieren dürfen (…)« (vgl. Grondin 1982, S. 123). Postmoderne Philosophen wiederum ziehen dieses ganze Theoriengebäude in Zweifel, weil Bedeutungssysteme niemals abgeschlossene Systeme seien und es mithin keine eindeutige Signifikanz geben könne (vgl. Wæver 1996, S. 171). Habermas wiederum verteidigt den hermeneutischen Zirkel, weil er nicht auf »Bestandteile einer reinen, durch metasprachliche Konstitutionsregeln vollständig definierten Sprache zurückzuführen« sei – sofern er die eigentümliche Integration von Sprache und praktischem gesellschaftlichem Lebensbezug berücksichtige (vgl. Habermas 1973, S. 217 f.).
Noch präziser geht Lorenzer in seiner Verteidigung des hermeneutischen Zirkels vor. Er nimmt die Szene aus einer psychoanalytischen Behandlung her, in der ein Patient seinem Psychoanalytiker erzählt, er habe am Vorabend einen Streit mit seiner Frau gehabt. Im Laufe der Stunde wird klar, wodurch der Streit entstanden war. Der Patient erwähnt nämlich, dass seine Frau ihm zuvor mitgeteilt hatte, dass sie ihre Menstruation bekommen habe. Der Psychoanalytiker deutet dem Patienten, dass er böse geworden sei, und zwar aus Enttäuschung, dass seine Frau wieder nicht schwanger geworden war. Diese Interpretation beruht auf einem Schluss des Analytikers, der einen gewissen Wahrheitsanspruch erhebt. »Es ist nicht eine Mitteilung des Patienten, deren Stichhaltigkeit zu prüfen wäre (…)« (vgl. Lorenzer 1977, S. 111 f.).
Allerdings dreht es sich nicht um willkürliche Verknüpfungen oder Unterstellungen oder »Aussagen über allgemeine menschliche Verhaltensgesetzlichkeiten«, die im Beweis zu sichern gesucht werden. Das Verhalten wird »vielmehr in seiner lebensgeschichtlich-individuellen Eigenart (und davon ausgehend in seiner gruppentypischen bis epochenübergreifenden typischen Eigenart) identifiziert (…) Die Bedeutung der Einzelszenen verdeutlicht sich zugleich mit der Erfassung des Sinnganzen dieses Individuums« (vgl. Lorenzer 1977, S. 113). Vor allem tut sich mit der Berücksichtigung auch nicht-sprachlicher Manifestationen ein fundamentaler Unterschied zur klassischen Hermeneutik auf (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 195).
Damit will ich es bewenden lassen, um nicht zu weit abzuschweifen. Aber es wird zumindest jetzt schon deutlich, dass seit geraumer Zeit alle erkenntnistheoretischen Versuche, die Welt und sich selbst darin zu begreifen, auf dem Prüfstand stehen.
Besonders die Psychoanalyse als die Referenztheorie der hier behandelten Lesart von Pädagogik geriet ins Fadenkreuz einer harschen Kritik. Sie gilt als antiquiert, heißt es, an normativ gesetzten, um nicht zu sagen patriarchalischen Konstrukten orientiert und liefere für eine evidenzbasierte praktische Intervention ebenso wenig handfeste Grundlagen wie ihre Forschungsperspektive mit der naturalistischen Fokussierung des Einzelfalls ohne Aussagekraft und ihr am Unbewussten ausgerichtetes Verhältnis zum Forschungsgegenstand spekulativ, unsauber und also nicht zu gebrauchen sei.
Auf der Grundlage eines äußerst restringierten Wissenschaftsverständnisses wird die evidenzbasierte Forschung auf ein rein technisches und utilitaristisches Instrumentarium zurückgeschnitten. Die Kenntnis über das »What works« zielt allein noch auf überschaubare lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, was ausschließlich über experimentelle Forschungsdesigns sichergestellt werden soll. Buchholz bemängelt, dass das empirische Paradigma nur ein Teil wissenschaftlicher Bemühungen sei, sich »aber manchmal zur Illusion aufschwinge, über alles letzte Schiedsinstanz zu sein. Es steht jedoch nicht über, sondern neben anderen Paradigmen« (vgl. Buchholz 2006, S. 427).
Bei Lanwerd ist die Kritik so formuliert: Die englische Wendung »evidence-based zeigt den Wunsch nach der Vermessung des Beweisbaren«, während das Lateinische die Qualität dessen benennt, »was sich im Gegensatz zum logischen Beweis an das Unbeweisbare hält (…)« (vgl. Lanwerd 2019, S. 122). Damit fällt eine mit diesem Ansatz nicht