Manfred Gerspach

Verstehen, was der Fall ist


Скачать книгу

Mainz, zudem war sie ebenso leidenschaftliche Gruppenanalytikerin und als solche im Vorstand des Instituts für Gruppenanalyse Heidelberg e. V. (IGA) engagiert. Beide Institutionen veranstalteten ihr zum Gedenken am 16. November 2019 eine Tagung unter dem Titel »Gruppenanalyse und Psychoanalytische Pädagogik«. Trotz der aktiven Mitarbeit von Annelinde Eggert-Schmid Noerr in Frankfurt wie in Heidelberg hatte es vorher kaum Berührungspunkte gegeben, war dies die erste gemeinsame Veranstaltung. Mir selbst wurde die Ehre zuteil, einen Vortrag mit dem Titel »Zum Verständnis von Gruppe und institutioneller Abwehr in der Psychoanalytischen Pädagogik« zu halten. Alle Beiträge, einschließlich der bewegenden Worte zum Eingang von ihrem Ehemann Gunzelin Schmid Noerr sind in der Zeitschrift Gruppenanalyse nachzulesen (vgl. Gruppeanalyse 1. 2020).

      Zum Abschluss traf man sich in der Großgruppe. Und auf diese Begegnung möchte ich hinaus. Nicht allein ein verbindendes Trauern über den Verlust einer so wunderbaren Frau und Kollegin wie Annelinde Eggert-Schmid Noerr wurde sichtbar, sondern es wurde immer wieder der Wunsch einer vertiefteren Kooperation artikuliert. Beide Institutionen waren zu diesem Zeitpunkt von nicht unerheblichen Existenzsorgen geplagt – die Psychoanalyse ist ja schon länger sowohl in der pädagogischen Praxis wie dem psychotherapeutischen Feld eher zum Randphänomen geworden – und so stand dieses allgemeine Bekenntnis für ein, wenn man so will, engeres Zusammenrücken in schwierigen Zeiten.

      Und jetzt kommt meine Assoziation ins Spiel, die mir in diesem Moment einfiel. Der Gruppenanalytiker Wilfred Bion hat drei Grundannahmen einer Gruppe formuliert:

      • Abhängigkeit

      • Paarbildung

      • Kampf-Flucht (vgl. Bion 1991, S. 106 ff.).

      Mit diesen Grundannahmen verbinden sich Affekte von Angst, Furcht, Hass, Liebe usw., aber jeweils anders gefärbt. »Angst in der abhängigen Gruppe hat einen anderen Charakter als Angst in der Paarbildungsgruppe, und das gilt entsprechend für andere Gefühle« (vgl. ebd., S. 113).

      In der Phase der Abhängigkeit sehnt sich die Gruppe danach, von einem Führer betreut zu werden, der ihr Schutz und Nahrung schafft. So mögen Gruppenmitglieder dem Gedanken anhängen, sie seien zusammengekommen, um »irgendeine Behandlung zu empfangen« (vgl. S. 107). Hier scheint der Wunsch der Gruppe auf, »von einem Individuum, von dem sie abhängt, Sicherheit zu erlangen« (vgl. ebd., S. 48).

      In der Phase der Paarbildung entsteht die (durchaus sexualisierte) Phantasie, zwei Mitglieder würden einen neuen Führer zeugen. Bion stellt hier eine Verbindung zum Ausagieren der Urszene her, in der ein Kind die Eltern zum ersten Mal beim Koitus belauscht hat. Mit dieser Grundannahme der Paarbildung verknüpfen sich Gefühle von Hoffnung auf das Weiterleben der Gruppe, die aber nur dadurch aufrechtzuerhalten sind, dass der Führer noch ungeboren ist. »Es ist ein Mensch oder ein Gedanke, der die Gruppe eines Tages retten wird – und zwar vor den Hass-, Destruktivitäts- und Verzweiflungsgefühlen der eigenen oder einer anderen Gruppe« (vgl. ebd., S. 109 f.).

      Die dritte Grundannahme besagt, dass »die Gruppe sich zusammengefunden habe, um gegen etwas zu kämpfen oder davor zu fliehen«. Die werden dadurch massiv behindert, dass sich »emotionelle Unterstützung für Vorschläge mobilisieren lässt, die entweder Hass auf alle psychologischen Schwierigkeiten ausdrücken oder aber Mittel zu ihrer Umgehung darstellen« (vgl. ebd., S. 111 f.).

      Dass die wirkmächtigen Themen Abhängigkeit oder auch Kampf und Flucht zu einem bestimmten Zeitpunkt die Phasen eines Gruppenprozesses bestimmen, leuchtete mir immer ein. Allerdings neigte ich dazu, die Paarbildungs-Grundannahme Bions für mich eher als zu spekulativ zurückzuweisen. Bion hatte während des Zweiten Weltkriegs in einem Militärlazarett mit englischen Soldaten gruppenanalytisch gearbeitet. »Dort war die Annahme entweder, dass wir Soldaten fronttauglich machen wollten, oder aber, dass wir einem Haufen von Drückebergern helfen wollten, sich weiterhin zudrücken« (vgl. S. 47).

      Nicht nur war er selbst seit grässlichen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg kriegstraumatisiert, sondern es ging darum, dass die Soldaten mit Hilfe seiner psychotherapeutischen Gruppensitzungen wieder an die Front zurückkehren sollten. Ich dachte, dass die phantasierte Paarbildung dazu diene, das Überleben der Gruppe zu sichern, sie also von der realen Angst vor dem nahen Tod ausgelöst worden war. Das Festhalten an dieser kleinen Illusion entsprang dem Wunsch, die Gruppe – und damit ein Teil von einem selbst – möge durch die Paarbildung fortexistieren. Aber das war doch im Krieg gewesen…

      Jetzt aber in der Großgruppe Heidelberg hatte ich auf einmal das Gefühl, dass hier genau das Gleiche passierte, Bion mit seiner These also Recht hatte. Durch die Vereinigung beider Institutionen zu einem virtuellen Ganzen konnte das Überleben garantiert werden. Ich hatte diese gruppenanalytisch gerahmte Mutmaßung sogar geäußert, aber erstaunlicherweise keine Resonanz erhalten. Vielleicht war der Verlust für beide Kollektive noch zu frisch, und das Eingeständnis, sich alleingelassen zu fühlen, zu bedrohlich. Die Hoffnung war, so denke ich heute, durch die Vereinigung der beiden psychoanalytischen Matrices weiter bestehen und womöglich wirkungsreicher sein zu können.

      Psychoanalytisch gewendet ist jede bewusste erzieherische Handlungsabsicht – im Grunde das Primat des Handelns selbst – radikal in Frage zu stellen. Auf diese Weise wird die Trennung von Erzieher und Zögling in ein dialogisches Beziehungsmodell transformiert, das sich der Selbstreflexion des eigenen Parts verpflichtet zeigt. Die Betrachtung dieser Beziehungsdynamik verlangt danach, dass erst »zu verstehen sei, bevor zu handeln ist«, ja offenbart, dass »Verstehen zugleich Handeln« ist (vgl. Trescher, H.-G. 1985b, S. 185 f.). Leber u. a. formulieren pointiert, dass »Verstehen nicht nur Voraussetzung für sinnvolles pädagogisches Handeln ist, sondern selbst schon als solches begriffen werden kann« (vgl. Leber u. a. 1989, S. 31). Die pädagogische Zielstellung ist folglich nur zu retten, wenn die »jeweils aktuelle Problematik des Seelenlebens« der Zöglinge sorgsam berücksichtigt wird, sich »Lehrer und Erzieher aber auch um ihren eigenen psychischen Besitz kümmern« (vgl. Datler, W. 1983, S. 146 f.).

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.

      Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.

/9j/4RGhRXhpZgAATU0AKgAAAAgABwESAAMAAAABAAEAAAEaAAUAAAABAAAAYgEbAAUAAAABAAAA agEoAAMAAAABAAIAAAExAAIAAAAhAAAAcgEyAAIAAAAUAAAAk4dpAAQAAAABAAAAqAAAANQAD0JA AAAnEAAPQkAAACcQQWRvYmUgUGhvdG9zaG9wIDIyLjMgKE1hY2ludG9zaCkAMjAyMTowNDowNyAx MDoxMTo0NQAAAAOgAQADAAAAAQABAACgAgAEAAAAAQAACZKgAwAEAAAAAQAADlMAAAAAAAAABgED AAMAAAABAAYAAAEaAAUAAAABAAABIgEbAAUAAAABAAABKgEoAAMAAAABAAIAAAIBAAQAAAABAAAB MgICAAQAAAABAAAQZwAAAAAAAABIAAAAAQAAAEgAAAAB/9j/7QAMQWRvYmVfQ00AAf/uAA5BZG9i ZQBkgAAAAAH/2wCEAAwICAgJCAwJCQwRCwoLERUPDAwPFRgTExUTExgRDAwMDAwMEQwMDAwMDAwM DAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwBDQsLDQ4NEA4OEBQODg4UFA4ODg4UEQwMDAwMEREMDAwMDAwR DAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDAwMDP/AABEIAKAAawMBIgACEQEDEQH/3QAEAAf/xAE/ AAABBQEBAQEBAQAAAAAAAAADAAECBAUGBwgJCgsBAAEFAQEBAQEBAAAAAAAAAAEAAgMEBQYHCAkK CxAAAQQBAwIEAgUHBggFAwwzAQACEQMEIRIxBUFRYRMicYEyBhSRobFCIyQVUsFiMzRygtFDByWS U/Dh8WNzNRaisoMmRJNUZEXCo3Q2F9JV4mXys4TD03Xj80YnlKSFtJXE1OT0pbXF1eX1VmZ2hpam tsbW5vY3R1dnd4eXp7fH1+f3EQACAgECBAQDBAUGBwcGBTUBAAIRAyExEgRBUWFxIhMFMoGRFKGx QiPBUtHwMyRi4XKCkkNTFWNzNPElBhaisoMHJjXC0kSTVKMXZEVVNnRl4vKzhMPTdePzRpSkhbSV xNTk9KW1xdXl9VZmdoaWprbG1ub2JzdHV2d3h5ent8f/2gAMAwEAAhEDEQA/ADpJJLkHrFJJJJKU kkkkpSSSSSlJJJJKUkkkkpSSSSSn/9A6SSS5B6xSSSSSlJJJJKUkkkkpSSSSSlJJJJKUkkkkp//R Okmc5rGue4w1oLnHwAElQbkUPbubawtmJkDg+n+d/L9q5ERkRYBI2uur1ZkAaJF7pEkNmRjvZvbY 3brqSBxz9JJt9LuHae3UyB7wHMbud7d7mu+gjwT19J030Rxx09Q121SJKHrURPqsgyQd