diese Hoffnung wappnen muss, weil er aus Erfahrung weiß, dass der Schmerz, wenn es diese Hoffnung wieder aufgeben muss, unerträglich ist (vgl. Clos 1991, S. 61; Winnicott 1984, S. 269 ff.; Winnicott 2009, S. 100 ff.).
Dass und wie sich dieser tote Punkt überwinden lässt und ein Dialog einsetzen kann, wird im Fortgang der Geschichte erzählt. Auf dem Schulgelände befand sich ein kleiner Teich, der auf die Kinder eine magische Anziehungskraft ausübte. In jeder Pause trafen sich die Kinder ihrer Klasse dort, turnten im Winter auf dem Eis herum und holten sich trotz Eis und Kälte immer wieder nasse Füße. Zahlreiche Verbote und Ermahnungen vermochten all das nicht zu verhindern.
Nun siedelten sich im Frühjahr dort einige Stockenten an. Natürlich wollten die Kinder sie haben, da sie sich aber nicht fangen ließen, warfen sie in einem unbeobachteten Moment mit Stöcken nach ihnen und trafen eine der Enten, die sich stark blutend ins nahe Gestrüpp rettete. Sie berichteten ihrer Lehrerin davon, und auch die aufsichtführenden Kolleg/innen hatten den Vorfall inzwischen mitbekommen. Entsetzt nahmen sie alle zur Kenntnis, dass die Kinder nicht in der Lage waren, artgerecht mit diesen Tieren umzugehen. Dass man sie nicht wie einen Hund streicheln und auf den Arm nehmen konnte, machte sie so wütend, dass sie sie mit Stöcken bewarfen. Alle eindringlichen und moralischen Appelle stießen bei den Kindern auf taube Ohren. Sie hatten nur sehr geringe oder gar Hemmungen, einem Lebewesen wehzutun.
»Den Kindern fehlte das, was Winnicott die ›Fähigkeit zur Besorgnis‹ nennt, eine schon im ersten Lebensjahr entstehende Basis für die Entwicklung von Vor- und Rücksicht, von der Fähigkeit, Bedenken zu haben, strukturierte Schuldgefühle zu entwickeln oder einen Schaden wieder gut zu machen, kurz, für das eigene Handeln Verantwortung zu übernehmen« (vgl. Clos 1991, S. 63).
Zunächst brachte Clos ihnen Materialien über Stockenten und ihre Lebensweise mit, aber vergebens. Offenbar hatten sie so mächtige archaische Schuldgefühle ausgebildet, dass die Konfrontation mit der Untat ihr Selbstgefühl zu stark bedroht hätte. Trotzdem fragten sie in den folgenden Tagen immer wieder nach, wo denn die verletzte Ente nun sei, ob man sie gefunden und zum Tierarzt gebracht hätte oder ob sie gar gestorben sei. Zum ersten Mal hatte ihre Lehrerin den Eindruck, dass sie über die Folgen ihres Handelns wirklich erschrocken waren. »Die Gruppe schien an einem wichtigen Entwicklungsschritt angelangt. Die Kinder begannen, ihre Umgebung und die Folgen ihres Handelns als solche wahrzunehmen«. Clos versuchte, das so gewachsene Interesse für Tiere wachzuhalten, wobei sie die Verbindung zu ihren massiven Neid- und Rivalitätsgefühlen sowie Versorgungswünschen sicherstellen wollte. »Sie selbst waren noch nicht aus ihrer ›Eischale‹ herausgeschlüpft. Sie erlebten sich noch als Mittelpunkt der Welt und glaubten, über alles und jeden gemäß ihrer spontanen Wünsche auf magische Weise verfügen zu können« (vgl. S. 64). Die Kehrseite dieser Größenphantasie ist die Erfahrung von absoluter Ohnmacht, Hilflosigkeit, unbändiger Wut und unvorstellbarere Angst, und diese Erfahrung erklärt ihren massiven und lang anhaltenden Widerstand, sich auf die Angebote der Lehrerin einzulassen. Wieder mit Blick auf Winnicott befindet Clos, dass die gezeigte Destruktivität ein Zeichen von Hoffnung ist, etwas wiederzufinden, das ihnen verloren gegangen ist – »die Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit ihrer Umwelt« (vgl. Clos 1991, S. 66; Winnicott 1990, S. 269 ff.).
Kurze Zeit später erzählt Thomas, einer der Jungen aus der Klasse, dass sein Freund und er Vogelnester ausgenommen hätten. Mit halb entsetztem, halb lustvollen Gesichtsausdruck berichtet er, der Freund habe die Küken mit dem Fuß gekickt, bis sie tot gewesen seien. Auch die andern lauschten fasziniert dem Bericht. Vor kurzem hatten sie dasselbe angerichtet, aber was ein anderer tut, ist mit weniger archaischen Schuldgefühlen belastet. In den nächsten Tagen brachte die Lehrerin Bilder, Filme und Bücher über Vögel mit, holte Vogelnester und ausgestopfte Vögel aus der Lehrmittelsammlung und stelle Material zum eigenständigen Bearbeiten zur Verfügung. Mit den entsprechenden Verhaltensmaßregeln versehen beobachtete sie zusammen mit der Klasse Amseln, Spatzen und Krähen auf dem Schulhof. Die Kinder begannen von Nestern zu berichten, die sie nachmittags entdeckt hatten und verfolgten interessiert das Brüten, Füttern und schließlich das Flüggewerden der Jungen. In der Schule bastelten sie Papiervögel, die ihren Schnabel auf- und zusperren konnten, wenn man an einem verborgenen Faden zog. Clos fütterte sie immer wieder mit Schokoladentalern, worüber die Kinder begeistert waren.
»In unserem Spiel mit den Papiervögelchen konnten sie sich wechselweise mit den Jungen und mit den Vogeleltern identifizieren. Sie waren nun in der Lage, das im Spiel auszudrücken, was sie offenbar sehr beschäftigte – das Füttern, das Bemuttern, das Schützern, das Bedrohtsein, das Kleinsein und Großwerden« (vgl. Clos 1991, S, 70).
Viel Zeit verbrachten die Kinder damit, mit ihren Vögelchen zu spielen und sie sich gegenseitig hacken und beißen zu lassen. Und obwohl die Papierfiguren ziemlich instabil waren, hielten sie eine ganze Weile. Auf einer unbewussten Ebene, so Clos, spiegelten die zu fütternden Jungen ihren eigenen Entwicklungsstand. Dabei war bedeutsam, dass die Kinder ihre Gier, ihren Neid und ihre Versorgungswünsche nicht in ständigen Prügeleien, sondern zum ersten Mal im Spiel ausdrückten, und ihre Aggressionen waren deutlicher geringer geworden.
»Sie selbst waren auf der sinnbildlichen Ebene noch sehr verletzliche, gerade aus dem Ei geschlüpfte Wesen. Vielleicht waren sie auch von ihren Eltern so brutal aus dem Nest geworfen worden und getreten worden, wie es Thomas’ Freund mit den kleinen Vögelchen getan hatte« (vgl. ebd., S. 70).
Hinter ihrer Brutalität und Gefühllosigkeit im Umgang mit Mitschüler/innen, Lehrer/innen und Tieren hatten sie ihre Verletzlichkeit und ihre Wut über die ständigen Enttäuschungen ihrer geheimen Sehnsüchte zu verstecken gesucht. Über das Verstehen ihrer Befindlichkeit fand die Lehrerin einen Weg zu ihnen – und dies handelnd und nicht deutend. Sie bastelte ihnen kleine Vögel, die sie (stellvertretend) fütterte. Moralisches Zureden hatte nichts gebracht, die Enten konnten so nicht geschützt werden.
Erst als der eigentliche Grund der Aggressionen der Kinder durch ein spielerisches Angebot zum Gegenstand des Unterrichts gemacht wurde, kam bei ihnen eine reifere Entwicklung in Gang. Voraussetzung dafür war, dass die Verschiebung ihres psychischen Dilemmas auf ein harmloseres Terrain das Maß an Bedrohlichkeit entscheidend verringerte. Bis dahin waren ihre Wünsche nach »bedingungsloser Liebe, Versorgung, Schutz und Sicherheit« hinter einer »Fassade der antisozialen Abwehr« verschüttet gewesen. Nun entstand auf einer sinnlich-symbolischen Ebene ein Dialog, der ihre Wünsche und das Verständnis der Lehrerin darstellbar machte. Selbstverständlich ließen sich ihr narzisstischer Hunger und die dazu gehörigen Omnipotenzphantasien, alles zu vermögen, nicht real befriedigen, aber er konnte – über die Vögel-Metapher – zum Thema gemacht werden, so dass sie sich damit versöhnen konnten, »dass die Allmacht eben eine Illusion ist« (vgl. ebd., S. 71).
Clos stellte fast alle anderen Unterrichtsvorhaben zurück und konzentrierte sich auf das begonnene Thema. So behandelte sie das Leben der Mäuse, die Art ihres Nestbaus, die Aufzucht ihrer Jungen und ihre Vorratshaltung. Die Kinder entwickelten eine ungeahnte Ausdauer und ein Interesse, das sie zuvor nicht hatte beobachten können. Um den Kindern ein »greifbares Symbol« zu geben, nähte sie mit den Kindern aus Filz kleine graue Mäuse, die mit Reis gefüllt wurden. Auch hier blitzten ein bis dato unbekannter Eifer und eine Ausdauer auf. Ein Körbchen wurde bereitgestellt, das zum Mäusenest wurde, und auch zwei Elternmäuse wurden gebastelt. Jeden Morgen stürzten sich die Kinder auf das Nest, um möglichst viele der kleinen Mäuse zu ergattern und stritten sich darum. Zwar herrschte also kein Frieden in der Klasse und die Kinder drückten ihre gegenseitige Rivalität im Kampf um die Mäuse aus. »Aber insgesamt wurde es friedlicher, weniger anstrengend und konstruktiver.« Am Ende des Schultages wurde genau gezählt, das kein Mäuschen fehlte, sie wanderten zurück ins Körbchen, und die Elternmäuse wurden darüber gesetzt, damit sie nicht frieren mussten. »Ganz fürsorglich kümmerten sich die Kinder um diese Mäusefamilie.« Clos unterstreicht noch einmal, dass es nicht das Angebot des »richtigen« Spielzeugs an sich war, das die Wünsche der Kinder kommunizierbar machte, »sondern sie konnten dies nur nützen, weil und wenn sie sich verstanden und aufgehoben fühlten (…) Aber nun hatte in dieser Gruppe eine gemeinsame Zeit begonnen« (vgl. ebd., S. 73 ff.).
Was in diesem Beispiel als methodische Herangehensweise sichtbar wird, lässt sich mit dem bereits mehrfach angeführten Terminus des