Manfred Gerspach

Verstehen, was der Fall ist


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das menschliche Subjekte »gleich und zugleich verschieden sind« (vgl. Crain 2005, S. 196).

      Ein weiteres kommt hinzu, was die Vorbehalte gegenüber der Anwendbarkeit der Psychoanalyse auf dem Gebiet der Pädagogik anbelangt. Die Klärung des Verhältnisses von psychoanalytischer Therapie und Psychoanalytischer Pädagogik nahm nämlich viel Zeit in Anspruch, und bis heute haben sich zuweilen gewisse Zweifel erhalten, ob dieser Schritt inzwischen hinreichend vollzogen wurde. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass mitunter von externer psychoanalytischer Seite, ohne die im erziehungswissenschaftlichen Kontext nötigen Modifikation der psychoanalytischen Technik vorzunehmen, eher »unerbetene Deutungen« für bestimmte Situationen angeboten wurden, nicht aber eine interne Anreicherung der genuin pädagogischen Handlungsvollzüge mit psychoanalytischen Verstehens erfolgte (vgl. Reiser 2006, S. 20; Bittner 1985, S. 38).

      In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandten sich alle Spielarten der Humanwissenschaften verstärkt der positivistischen Wissenschaftstheorie zu. Mit deren Verheißung, über exakte empirische Verfahren zu verfügen, schien die Hoffnung auf, in den Adelsstand einer echten Naturwissenschaft erhoben zu werden. Nur das Positive, also unzweifelhaft beobacht- und beschreibbare Existente, war fortan noch kreditwürdig, und damit schien man dem spekulativen Sinnieren über etwas so Unfassbares wie die Seele entkommen zu können. Mehrheitlich entschied man sich für eine technologische Ausrichtung, die auf Kontrolle und Überprüfbarkeit setzt, und der selbstverständlich die Psychoanalyse als erstes zum Opfer fiel. Zudem machte diese wissenschaftstheoretische Rolle rückwärts beileibe nicht Halt vor den Psychoanalytiker/innen selbst. Einige unter ihnen schlossen sich dem positivistischen Denken an, weil sie die Psychoanalyse für unwissenschaftlich hielten. Offensichtlich hatten sie den besonderen Charakter des intersubjektiven Feldes ihrer eigenen Profession gründlich missverstanden.

      Winnicott ist der Überzeugung, dass manche Menschen »so tief in der objektiv wahrnehmbaren Realität verwurzelt sind, dass sie (…) den Kontakt zur subjektiven Welt und die kreative Haltung gegenüber den Dingen verloren haben« (vgl. Winnicott 1993, S. 79 f.). Umgekehrt gibt es natürlich auch solche, die die äußere Realität »nur aus ihrer inneren Perspektive wahrzunehmen vermögen« (vgl. Crain 2005, S. 113). Bei Orange heißt es: »Selbst die besten Fallstudien können nur andeutungsweise versuchen, die Atmosphäre, die ein spezifisches intersubjektives Feld erzeugt, (…) zu erfassen« (vgl. Orange u. a. 2001, S. 13).

      Die theoretische und konzeptionelle Verengung hat es lange Zeit schwer gemacht, Psychoanalyse für den nichtklinischen Bereich zu reklamieren, und die Frage, welche methodischen Änderungen damit verknüpft sein müssten, harrte lange einer zufriedenstellenden Beantwortung. Mit seiner klaren Aussage, Psychoanalytische Pädagogik in Theorie und Praxis als »Teil der Psychoanalyse« zu begreifen, hat Hans-Georg Trescher diesbezüglich eine wichtige Diskussion angestoßen (vgl. Trescher, H.-G. 1985a, S. 65). Vor nicht allzu langer Zeit hat Perner eine ähnliche Definition eingebracht: »Die psychoanalytische Sozialarbeit ist eine spezifische Form der Psychoanalyse (…)« (vgl. Perner 2010, S. 62).

      Nach psychoanalytischer Auffassung hinterlässt das, was ein Kind in seinen frühen Interaktionen erlebt hat, einen Niederschlag, der in seine psychische Struktur und in seinen Körper eingeschrieben wird (vgl. Quindeau 2008, S. 17). Da dem Körper der Charakter von etwas Unverfügbarem innewohnt und er sich folglich nicht auf die »Eigenschaft einer objektivierbaren raum-zeitlichen, physikalischen Größe« reduzieren lässt, erscheint es geboten, eher von Leib und Leiblichkeit zu sprechen. »Der Leib erscheint uns in einer doppelten Weise gegeben: in einem präreflexiven Zugang zur Welt und in einer materialen Beschaffenheit als potentielle Begrenzung der gelebten Selbstverständlichkeit« (vgl. Mattner 1987, S. 36 ff.). Die beseelte Leiblichkeit entspringt dem Körper.

      In diesem Sinne lässt Lorenzers Analyse beschädigter individueller Struktur die begrenzten Möglichkeiten von beobachtungswissenschaftlich-erklärenden Erkenntnisfiguren hinter sich. In seinem Topos von der »Hermeneutik des Leibes« werden die beiden Antipoden – der »homo cultura« und der »homo natura« – dergestalt miteinander verbunden, dass der »›Leib‹ als ›Sinnzusammenhang‹« aufscheint: »Damit deutet sich ein Verhältnis zwischen Psyche und Körper an, das nicht der alten Trennung in sinn-lose Natur einerseits und sinn-stiftendes Bewusstsein andererseits entspricht (…)«. Dieses nichtsprachlich einsozialisierte Sinnsystem bildet die »›Grammatik‹ des Körpers« (vgl. Lorenzer 1988b, S. 842 ff.).

      Der Körper ist das vorgängige, bereits sozial hergestellte Reservoir jeglicher Symbolbildung. In Regina Kleins Auseinandersetzung mit der Position Lorenzers stellt der Körper »als subversives Elementarteilchen im Gefüge der symbolischen Ordnung« ein eigenständiges, unbewusst wirkendes Gegensystem zum bestehenden Diskurs dar (vgl. Klein, R. 2004, S. 633). Denn schon bei Lorenzer ist »eine restlose Verknüpfung aller lnteraktionsformen mit Sprachzeichen (…) prinzipiell nicht möglich« (vgl. Lorenzer 1984a, S. 93). Insofern erscheint es konsequent, eine nach zwei Seiten hin relativierende Position einzunehmen: Zum einen wird die Biologie auf ihre soziale Einbettung verwiesen, zum andern die Hermeneutik wiederum an ihre Verstehensgrenze durch das biologisch-organische Fundament des Erlebens und Verstehens erinnert (vgl. Görlich 2003, S. 31). Der Körper ist also Ausgangs- und Bezugspunkt jeglicher Symbolbildung – im wirklichen Leben und in der wissenschaftlichen Forschung (vgl. Klein, R. 2004, S. 633).

      Setzt noch die klassische psychoanalytische Methodik an einer sprachregulierten Konfliktfähigkeit an, so werden hier die vorsprachlichen Interaktionsformen aufgewertet. In Ergänzung seines ursprünglichen Konzepts spricht Lorenzer von einer symbolbildenden, unmittelbaren Sinnlichkeit, die »unabhängig von der Einführung von Sprache« existiert. Die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen, wie sie uns z. B. in der Musik begegnen, bezeichnet er als erste Schritte menschlicher Subjektivität (vgl. Lorenzer 1983, S. 106; Lorenzer 1984a, S. 31 ff.). Jenseits der Sprache existiert eine »präsentative Symbolik«, die Erlebnisse zum Ausdruck bringt, welche der diskursiven Sprache unzugänglich sind, in der aber eine größere Nähe zu den Affekten deutlich wird (vgl. Lorenzer 1973, S. 110). In die präsentativen Symbole fließen noch sehr viel körper- und erlebensnähere Empfindungen ein. Sie entsprechen jenen affektgetragenen Beziehungsformen, die vor der Einführung von Sprache handlungsleitend sind. Zwar wird der sprachlich organisierten Interaktion eine entscheidende Bedeutung eingeräumt. Gleichzeitig gilt es aber zu akzeptieren, dass neben der sprachlichen Kommunikation eine dieser entwicklungspsychologisch gesehen gleichgestellte existiert. Klein hat es so gefasst: »Leibsymbolische lnteraktionsformen stehen für das körperlich verankerte und mit dem Bewusstsein nicht zu erreichende Andere im Menschen selbst« (vgl. Klein, R. 2004, S. 625).

      Für die Psychoanalyse bleibt die dialektische Falle zurück, dass eine Verklammerung an ungeschichtlich-triebtheoretische Vorstellungen das Subjekt von seinen gesellschaftlich einsozialisierten Persönlichkeitsstrukturen abspaltet, aber umgekehrt durch eine Öffnung hin zum Sozialen und damit Abkehr vom Triebbegriff »das je spezifische Libido-Schicksal (historisch und individuell)« nicht mehr fassbar wird (vgl. Kleinspehn 1991, S. 409).

      Was viele human- und sozialwissenschaftliche Konzepte vermissen lassen: Es gibt eine enge Verknüpfung von körperlich/leiblichen sowie seelischen Vorgängen, und kein vom Körper losgelöstes Empfinden oder Denken. In diesem Sinne sind alle seelischen und geistigen Prozesse »embodied«, also verleiblicht (vgl. Leuzinger-Bohleber 2009, S. 165). Wobei ich kurz einschieben möchte, dass das Konzept des Embodiment aus der Kognitionspsychologie herrührt, was einen gewissen Erklärungsbedarf erzeugt. Leuzinger-Bohleber beschreibt die Eingangsszene einer psychoanalytischen Behandlung:

      »Bevor ich die Tür richtig öffnen kann, stürmt Frau M. in den Flur. Sie greift stürmisch nach meiner Hand, nimmt sie in einer merkwürdig sexuell stimulierenden Weise zwischen ihre eigenen Hände und tritt mir dabei sehr nahe, meine normale Intimdistanz überschreitend: ›Hallöchen … Ich bin froh, dass ich mit Ihnen sprechen kann.‹ Ich trete intuitiv zwei Schritte zurück und beobachte sogleich eine intensive negative emotionale Reaktion, verbunden mit aversiven Körperreaktionen: Was für eine überwältigende Frau! Das ist mir zu viel. Sie rückt mir zu sehr auf die Pelle … Warum habe ich Ihr einen Termin angeboten? Werde ich sie je wieder wegschicken können? Sie scheint mir so bedürftig …« (vgl. Leuzinger-Bohleber 2014, S. 925).

      Erst nach drei