Manfred Gerspach

Verstehen, was der Fall ist


Скачать книгу

ich verschiedentlich zurückkommen werde (vgl. Datler, W. 2019, S. 66 f.; Marseille 2013, S. 307).

      Zu verstehen, was der Fall ist, führt dann zu einer entspannenden Veränderung der Situation, wenn darin die Hinwendung zu den unbewussten Motiven eines als störend empfundenen Verhaltens aufbewahrt wird. Hier erleben wir einen recht simplen und doch so erfolgreichen Zusammenhang zwischen dem Zeigen eines auffälligen Gebarens und schließlich dem Verzicht auf eben jenes, nachdem sich ein Kind verstanden fühlt. Diese Episode ist schon vor 90 Jahren niedergeschrieben worden. Wir müssen also eingehender darüber nachdenken, welcher innere Widerstand – und welche irrationale Angst vor der Begegnung mit dem (eigenen) Unbewussten – dazu führen, sie geflissentlich nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

      Die gleiche Aufgabe stellt sich, wenn wir uns dem Gebiet der pädagogischen Forschung zuwenden. Auch hier treffen wir auf Selbstmitteilungen, die zunächst unzusammenhängend und verstörend erscheinen mögen, und dennoch folgen sie einer inneren Logik. Was machen wir mit dem Material und vor allem: was macht das Material mit uns? Indessen sei einschränkend vorweggeschickt, dass, anders als in der Praxis, die unmittelbare Einflussnahme auf das Gegenüber in einem hoch durchstrukturierten Forschungssetting beinahe vollständig suspendiert ist, schließlich gibt es keinen direkten Arbeitszusammenhang, in dem sich Dinge verändern ließen. Aber der Forschungsdialog lebt auch von affektiven Abstimmungen zwischen den daran Beteiligten, selbst wenn dies auf den ersten Blick nicht sogleich sichtbar werden will. Auch hier geht es darum, dass bzw. ob sich der/die Beforschte vom Forscher/von der Forscherin verstanden fühlt, damit überhaupt aussagekräftige Ergebnisse zustande kommen. Es geht also hier um keine direkte, sondern um eine mittelbare Einflussnahme, die durchaus – als Aufforderung und Einladung zum weiteren Nachdenken über sich selbst – wirksam zu werden vermag.

      Im Gegensatz zu den in sich geschlossenen und vorgeblich widerspruchsfrei konzipierten Wissenschaftstheorien basiert das psychoanalytische Vorgehen »nicht ausschließlich auf logischen Schlussfolgerungen, auf Deskriptionen und Ergebnissen empirischer Untersuchungen« (vgl. Leber 1977, S. 83) und ist daher mit deren reduzierten Dechiffrierungsmöglichkeiten auch gar nicht zu fassen. Es mag zunächst verwirrend erscheinen, dass die Psychoanalyse ihre Aussagen nicht an Ereignissen festmachen kann. Indem sie sich ausschließlich im Bereich subjektiver Erlebensfiguren bewegt, liefert sie keine kausalanalytischen Beweise (vgl. Lorenzer 1974, S. 196).

      Dieser Einwand wird dadurch entkräftet, dass der qualitative Sprung vom äußerlich bleibenden Erklären ins Verstehen niemals über objektive Datenoperationen hinter dem Rücken der Subjekte führen kann. Ohne die Reflexion dieses Subjektiven ist Erkenntnis nichts wert (vgl. Lorenzer 1974, S. 58). Lorenzer schlussfolgert: »Als Hermeneutik ist Psychoanalyse allenfalls ein hermeneutisches Verfahren zum Zweck der Entfaltung von Selbstreflexion. Geschichte bleibt ihr äußerlich« (ebd., S. 79). Gleichwohl betont er, dass die Erfahrung der strukturellen Beschädigung einer unpolitischen Form von Selbstreflexion entzogen bleibt, sofern sie auf die Frage nach deren objektiven Ursachen fragt. Die seelische Deformation ist als objektiv verursachte zu denken, die in die subjektiven Strukturen einfließt (ebd., S. 198 ff.).

      Eine tiefenhermeneutische Systematik gilt es zu entwickeln, die sich hinsichtlich des angestrebten Erkenntnisgewinns als verlässliches Instrument erweist. Indessen müssen auch die bereits angedeuteten elementaren Unterschiede zwischen Fallarbeit und Forschung ausbuchstabiert werden. Im Handlungsfeld gilt es zunächst, Nähe herzustellen, um dann im Interesse der Adressat/innen über Reflexion wieder Distanz zu gewinnen. Das Verstehen wirkt ins Feld des dialogischen Arbeitens zurück. Das Forschungssetting will solches nicht immer mit gleicher Gründlichkeit zulassen, schließlich wird das Untersuchungsfeld nicht in den Prozess der Resultatgewinnung miteinbezogen. Diese Divergenz in der methodischen Systematik gilt es zu benennen und eingehend zu reflektieren, um die Aussagekraft einer psychoanalytisch-pädagogischen Perspektive nicht zu halbieren oder gar von vornherein zu diskeditieren. Denn die Basis des Verstehens bleibt gleich: Es ist die Annäherung an das unbewusst motivierte Fremde (im Eigenen).

      Dieses Dilemma von Erkenntnis und Wirkung gilt übrigens, wenngleich kaum eingestanden, für jede Form von Praxis und Forschung, es wird aber gemeinhin nicht problematisier Mit Hilfe der psychoanalytisch-pädagogischen Methode lassen sich indessen die qua Verstehen gebildeten vorläufigen Annahmen mit Aussicht auf Erfolg probeweise einsetzen. Die Praxis spiegelt zurück, ob sie zutreffend sind. Im Forschungssetting ist dies kaum oder nur bedingt möglich. Aber über das Mitdenken der Tiefendimension des Erlebens wird der Erkenntnisgewinn reicher. Und eben über diese vorsichtige und nicht auf Erklärungswissen beharrende Vorgehensweise lässt sich die Analogie von Fall und Forschung legitimieren – was sich nicht zuletzt am Umgang mit den Tabuthemen Sexualität und geistige Behinderung sowie einem psychodynamisch begriffenen Autismus bewahrheitet, die abschließend zur Debatte stehen.

      1.2 Die fruchtbare Verbindung von Psychoanalyse und Pädagogik

      Ein triftiger Grund für das Entstehen der großen Ideenvielfalt in der Psychoanalyse mag sein, dass sich das Unbewusste grundsätzlich der unmittelbaren Beobachtung entzieht und nur indirekt erschließbar ist. Damit auch ist eine eindeutige wissenschaftliche Festlegung erschwert, und es bedarf also mehrerer »theoretischer Sprachen«, um sich ihm anzunähern. So »kann der psychoanalytische Blick auf das Unbewusste gerade in seiner Heterogenität als ein fortgesetzter Versuch verstanden werden, dieses flüchtigen Gegenstandes habhaft zu werden« (vgl. Rohde-Dachser 2019, S. 2). Bion etwa geht gar nicht von einem prinzipiell immer schon existierenden Unterschied von Bewusstem und Unbewusstem aus, sondern er erachtet deren Trennung als Ergebnis des ständigen Austauschs zwischen Mutter und Kind (vgl. Bion 1995, S. 231).

      Dieses Bild taucht in jüngeren Konzepten der klinischen Psychoanalyse wieder auf – als ein intersubjektives Wechselspiel zwischen »zwei Subjektivitäten« – denen von Analytiker/in und Patient/in (vgl. Orange u. a. 1997, S. 11). Vertreter/innen verschiedener psychoanalytischer Schulen heben hervor, dass ein Analytiker/eine Analytikerin seine/ihre eigenen emotionalen Reaktionen auf seinen Patienten/ihre Patientin niemals restlos zugunsten einer ›objektiven‹ dynamischen und genetischen Erklärung auszuschalten vermag. Erst seine/ihre aktive Reaktion auf dessen/deren freien Assoziationen »setzt den therapeutischen Dialog in Gang« (vgl. Ornstein, Ornstein 2001, S. 14 f.). Das empathische Verständnis schließt eine Antwort unbedingt ein.»Patienten beschweren sich zu Recht, dass wir sie nicht verstehen, wenn wir nicht empathisch antworten«. Andersherum erwächst aus dem Verstehen eine intersubjektive psychoanalytische Verständigung (vgl. Orange 2004, S. 39 f.). Daher steht in der relationalen Psychoanalyse das »Konzept des Anderen« im Mittelpunkt der Überlegungen, wird das Unbewusste zur »Präsenz der Interaktion« (vgl. Buchholz 2005, S. 633 f.). Nach dieser Lesart »greifen reale Erfahrungen und deren phantasmatische Ausarbeitung ineinander, beeinflussen sich gegenseitig und führen zu immer neuen Konstellationen der Relationalität« (vgl. Potthoff 2019, S. 16). Demzufolge bildet sich in der Begegnung mit dem realen Anderen – also in einem wechselseitigen Austausch von subjektivem Erleben – das »implizite Beziehungswissen« heraus (vgl. The Boston Change Process Study Group 2004. S. 936; Rohde-Dachser 2019, S. 3 ff.). Ich werde später darauf zurückkommen.

      Die Psychoanalyse ist vor allem auf Grund ihrer klinischen Erfolge bei der Behandlung neurotischer Störungen allgemein längst anerkannt, auch wenn etwa bei uns hinsichtlich der Richtlinienpolitik im Rahmen der Krankenversicherung Kritik zu äußern ist (vgl. Pollak 2020, S. 403). Ihr Markenkennzeichen ist, sich auf naturalistischem Wege dem einzelnen Subjekt anzunehmen, um präzise verstehen zu lernen, worunter und vor allem warum es zu leiden hat. Diese Logik liegt ein wenig quer zu einer empirisch bedingten Aufsummierung von großen Kohorten, die quasi zu einem Prototyp verdampft werden. Hinter dem allgemeinen Maßstab droht das singuläre Individuum zu verschwinden. Langer bringt es auf den Punkt:

      »Der vermeintliche Goldstandard experimentell-quantitative angelegter Studien unter kontrollierbaren Laborbedingungen kann die Komplexität diffuser, historisch und kulturell bestimmter Konfliktdynamiken in the real world out there nicht systematisch erfassen, sodass diese aus dem Bereich des sinnvoll Erforschbaren ausgeklammert werden müssen« (vgl. Langer 2019, S. 81).

      Übrigens spricht auch genau dieser Umstand gegen eine allgemein greifende Neurosen-Prophylaxe, weil ihr Instrumentarium