Manfred Gerspach

Verstehen, was der Fall ist


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mit einem nahen Verwandten in Verbindung gebracht werden, den sie als Jugendliche öfter besuchte. Frau M. muss zur Toilette gehen und sich übergeben. Als begleitende körperliche Regungen des Traumas brechen Ekel, Abscheu und Widerwillen hervor (vgl.ebd., S. 941).

      Leuzinger-Bohleber betont den engen Zusammenhang zwischen Biologie und sozialer Erfahrung, der bis in die früheste Kindheit zurückzuverfolgen ist. Das auffallende Interaktionsverhalten der Patientin ist durch »embodied memories« ausgelöst worden, die »bisher nicht repräsentiertem seelischem Material« entsprechen und in ihren eigenen »›embodied‹ Gegenübertragungsreaktionen« aufscheinen. Die ersten Beziehungserfahrungen erhalten sich im Sinne sensomotorischer Koordinationen im Körper: »in den frühesten Beziehungen wird wie bei einer Stradivari der Klangkörper des seelischen Instruments gebaut, der in späteren Beziehungen zum Schwingen gebracht wird« (vgl. S. 925 ff.). Wenn wir also Gedächtnis als ein »Produkt komplexer, dynamischer, rekategorisierender und interaktiver Prozesse, die ›embodied‹ sind« (vgl. S. 928), verstehen, wird die Embodied Cognitive Science in meinem Sinne in Richtung Psychoanalyse ausgeweitet. Und gerade die letzte Aussage von Leuzinger-Bohleber ist doch dezidiert auch auf Vorgänge in Praxis und Forschung anzuwenden, was aber ohne Bezug zur Dimension von Leiblichkeit nicht aufzufinden sein wird.

      Der Aufbau der psychischen Struktur beginnt auf der sensomotorischen Ebene über die Empfindung, wie einfühlsam sich die Pflegperson in die Beziehung einbringt. In seinem impliziten Gedächtnis bewahrt das Kind auf, wie es getragen oder auf dem Arm gehalten wurde. Hier werden die aneinandergereihten frühen Interaktionserfahrungen in Form von Bildern oder Bildfragmenten abgelegt. Diese so entstehenden Prototypen affektiv getönter Interaktionsmuster sind der Sprache nicht zugänglich, beeinflussen unbewusste die spätere Beziehungsgestaltung (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 44 ff.; Sandler und Sandler 1985, S. 804).

      Allmählich werden dann die erlebten episodischen Sequenzen mit Bedeutung gefüllt. Die nichtsprachliche Interaktionsform enthält somit einen Namen und wird zur »symbolischen Interaktionsform« (vgl. Lorenzer 1977, S. 48). Wesentlich ist – und da nimmt Lorenzer einen modernen Diskurs vorweg –, dass sich an diesem Punkt ein enger Zusammenhang zwischen dem impliziten Gedächtnis und dem Unbewussten auftut. Das Unbewusste wird von »nicht-sprachlichen Praxiselementen« gebildet und ist mithin »ein Resultat sozialer Prozesse«. Damit wendet sich Lorenzer nicht nur gegen eine biologistische Gesellschaftsblindheit, sondern auch gegen eine kulturelle Verflachung von Persönlichkeitsentwicklung zur bloßen Milieuabhängigkeit (vgl. Lorenzer 1977, S. 42).

      Die hier anschließende, neuere Sicht auf die wechselseitigen Interaktionsprozesse wird von Daniel Stern im Begriff der Affektabstimmung (attunement) komprimiert, und sie stellt für ihn den »Sprung in die intersubjektive Bezogenheit« (vgl. Stern, D. 1992, S. 191) dar. Das Empfinden des Kindes, über ein subjektives Selbst zu verfügen, ist an die Erfahrung gebunden, dass seine inneren Zustände ein Echo auslösen und von seinem primären Objekt widergespiegelt werden. Die darauf einsetzende Affektabstimmung erfolgt »überwiegend unbewusst und beinahe automatisch« und verhilft dem Kind dazu, mit »seiner eigenen Affektivität und seinem Selbstempfinden besser vertraut zu werden« (vgl. ebd., S. 206 f.). Es entsteht ein gemeinsamer Affektzustand – eine »Inter-Affektivität« (vgl. ebd., S. 198) –, wobei das Teilen dieses Zustandes mit dem Anderen etwas ganz anderes darstellt, als würde eine Verhaltensäußerung bloß exakt imitiert: »Das Verhalten, mit dem wir unsere Reaktionen auf Affekte zum Ausdruck bringen, sähe dann lächerlich aus; vielleicht hätten wir dann Ähnlichkeit mit einem Roboter« (vgl. ebd., S. 203).

      Nach Auffassung von Arfelli Galli benutzt Stern den Terminus »affect attunement (Affektabstimmung)«, um deutlich zu machen, dass die Mutter ihre Aufmerksamkeit nicht primär auf das manifeste Verhalten des Kindes richtet, »sondern die Gefühle in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellt: einerseits die Gefühle des Kindes, so wie sie sie interpretiert, andererseits auch die in ihren Antworten in verschiedenen Modalitäten ausgedrückten Gefühle«. Wie aus Befragungen von Müttern hervorgeht, ist es ein Prozess »mit geringer oder ohne Beteiligung kognitiver Prozesse« (vgl. Arfelli Galli 2017, S. 58; Stern, Hofer, Haft & Dore, 1984).

      Beziehe ich diese fundamentalen Erkenntnisse auf die professionelle Begegnung mit Adressat/innen in Praxis und Forschung, so wird doch eines klar: Wir greifen alle unbewusst auf diese implizit bewahrten Muster zurück, um die Signale des/der Anderen zu dechiffrieren – und er/sie tut das Gleiche.

      Dem emotionalen Gedächtnis, in dem dieses frühe Wissen hinterlegt ist, kommt bei der Beurteilung einer aktuellen Situation eine außerordentliche Bedeutsamkeit zu. Weil in ihm alle Beziehungserfahrungen episodenhaft aufbewahrt sind, kann es als Kern unseres Erkennens angesehen werden. Ohne die Beteiligung der entsprechend aktivierten Gefühle wären »rationale Entscheidungen und lebenspraktische Denkvorgänge« unmöglich (vgl. Schmid Noerr 2003, S. 115). Zwar mangelt es dem emotionalen Gedächtnis an Kognitionen, dafür ist es eher sensomotorisch aufgebaut und besteht aus »prä-repräsentativen Verschlüsselungen relationaler Erfahrung«. Als Kern unseres Erkennens kommt ihm ein völlig eigenständiges Gewicht zu, ist es weit mehr als ein Vorläufer symbolischer Kognition (vgl. Orange 2004, S. 151 f.).

      Jede Beschränkung auf bewusst zu steuernde Anweisungen im methodischen Handeln muss zwangsläufig den tatsächlich ablaufenden Beziehungsablauf verfälschen. Vor allem wird das Moment der Leiblichkeit weit unterschätzt oder gar ganz aus den klassischen Konzeptionalisierungen eliminiert. Um sich gegen ein Wiederaufleben von schmerzlichen Erfahrungen – das Adjektiv schmerzlich verdeutlicht ja diese Nähe von körperlichen und psychischen Vorgängen – zu wappnen, werden psychische Abwehrmechanismen aktiviert, die dafür sorgen sollen, dass die Erinnerung verdrängt bleibt. Zudem kann es zu Aufspaltungen in gute und böse Objektanteile kommen, wobei die bösen Aspekte auf andere projiziert werden, um das eigene ›gute‹ Selbst zu schützen. Diese Abwehr versieht durchaus eine lebensnotwendige Bewältigungsfunktion, um uns vor einer Überflutung mit bedrohlichen Affektstürmen zu bewahren. Nur wenn sie eine übermäßig rigide Form annehmen, die unsere psychische Flexibilität über Gebühr einschränkt, neurotische und andere, etwa psychosomatische Symptomatiken hervorbringt und die Realitätswahrnehmung massiv eintrübt, müssen wir von einer pathologischen Krise sprechen.

      Innere, durch Angst ausgelöste Widerstände sorgen also dafür, dass die schmerzlichen Erinnerungen an frühe, in jeder Hinsicht unzureichende Beziehungserfahrungen nicht ins Bewusstsein aufgenommen oder aus diesem wieder ausgeschlossen werden. Allerdings bleiben diese Reminiszenzen unbewusst wirksam. In den Fällen, um die es mir hier geht, ist die Verfügungsgewalt über die früh erlebten Traumen verloren gegangen. Es existiert keine Sprache, um sich mitzuteilen oder zu erklären. Alles, was an Reaktionen geblieben ist, sind sprachlos agierte, oft exzessive Verhaltensweisen, ohne dass aber dem Betroffenen diese Zusammenhänge gegenwärtig wären. Im Rahmen einer neuen professionellen pädagogischen Beziehung, die nicht retraumatisierend wirkt, wird es jedoch möglich gemacht, die Erinnerungen wie die Widerstände erlebbar und damit einer nachträglichen Bearbeitung zugänglich machen, so dass sie in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln wieder berücksichtigt werden können. Damit dies gelingt, muss diese Beziehung von einer empathischen Haltung und einem darauf fußenden Verstehen der psychodynamischen und zum großen Teil unbewussten Prozesse getragen sein (vgl. Leber 1985, S. 152 f.).

      Indessen sei vor einem gewissen ideologischen verengten Elitarismus gewarnt, den Göppel wie folgt persifliert:

      »Ich glaube an Sigmund Freud, den genialen Schöpfer der Theorie und Praxis der Psychoanalyse, und an seine Tochter Anna Freud, sowie an seine eingeschworenen Schüler August Aichhorn, Siegfried Bernfeld und Hans Zulliger, die Begründer der Psychoanalytischen Pädagogik. (…) Ich glaube an die Macht des Triebes, die Wichtigkeit der Kindheit, Übertragung und Widerstand, Wiederkehr des Verdrängten, Kraft der Bewusstmachung und das unbewusste Seelenleben. Amen« (vgl. Göppel 2015, S. 59 f.).

      Mit Blick auf den bedrohten Status der Psychoanalytischen Pädagogik im Rahmen der erziehungswissenschaftlichen Forschung wie pädagogischen Praxis verlangen Zimmermann u. a. deshalb danach, die durchaus divergenten Forschungszugriffe und oft nur punktuellen Anknüpfungspunkte an die psychoanalytische Theoriebildung intern wertzuschätzen und dies entsprechend nach außen zu vertreten (vgl. Zimmermann u. a. 2019, S. 13). Die Psychoanalytische Pädagogik