Manfred Gerspach

Verstehen, was der Fall ist


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von Psychoanalyse und Pädagogik, bleibt indessen ihre Daueraufgabe (vgl. Hierdeis 2016, S. 110).

      Vor allem muss in diesem Zusammengang die psychoanalytische Grundregel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit bedacht werden. Diesem Prinzip folgend soll auf die eigene Zensur verzichtet und keine vorab wertende Auswahl wahrgenommener Eindrücke vorgenommen werden, und so lässt sich auch und gerade in der Pädagogik ein »durch Routine eingespielter Horizont« transzendieren (vgl. Hirblinger 2011, S. 51).

      Das Zuhören- und ein Gespräch-führen-Können gewinnen durch die psychoanalytische Grundregel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit an Gewicht. Diese eher unkonventionelle Haltung dem Anderen gegenüber, ohne vorschnell ein Gespräch strukturieren zu müssen, bietet den Vorteil, sich vor der Anstrengung einer fokussierenden Aufmerksamkeit zu schützen, »die man doch nicht durch viele Stunden täglich festhalten könnte«. Man sollte die eigene unbewusste Aktivität so frei wie möglich funktionieren lassen und dem »gebenden Unbewussten« des Gegenübers »sein eigenes Unbewusstes als empfangendes Organ zuwenden« (vgl. Freud, S. 1912e, 376 ff.). An anderer Stelle heißt es: »(…) jeder Mensch besitzt in seinem eigenen Unbewussten ein Instrument, mit dem er die Äußerungen des Unbewussten beim Anderen zu deuten vermag« (vgl. Freud, S. 1913i, S. 445). Reik sprach diesbezüglich vom »Hören mit dem dritten Ohr«: »Es stimmt nicht, dass man schreien muss, um verstanden zu werden. Wenn man gehört werden will, dann flüstert man« (vgl. Reik 1990, S. 165). Ohne die Beachtung der eigenen Gegenübertragungsreaktionen kann dieses Instrument aber kaum sinnvoll genutzt werden. Ich werde später auf Forschungssituationen bezogen noch einige Erwägungen zur gleichschwebenden Aufmerksamkeit aufnehmen (image Kap. 3.1).

      Wir sollten jetzt sogar noch einen Schritt weiter gehen. Seit geraumer Zeit richtet sich das Interesse an der entwicklungsbestimmenden Kraft von Objektbeziehungen bereits auf die pränatale Zeit. Vorgeburtliche Erfahrungen hinterlassen nämlich Spuren, wie zahlreiche Übersichtarbeiten zeigen. Die Wechselseitigkeit einer gegenseitigen Abstimmung (attunement) entwickelt sich bereits in der Fetalzeit, lange bevor dieser Prozess bewusst wahrgenommen werden kann. Die Maxima der fetalen Bewegung wechseln sich zum Beispiel mit Traumphasen der Mutter in einem rhythmischen Muster ab (vgl. von Lüpke 2007, S. 118 ff.). Darüber hinaus befindet von Lüpke: »Wird pränatale Entwicklung unter dem Aspekt der Beziehung gesehen, so ist das Kind immer schon ein Gegenüber, ein anderer Mensch, der seinen Anteil am Zusammenspiel und damit an Chancen oder Risiken für die weitere Entwicklung beisteuert«. Es gibt also eine Kontinuität über die Geburt hinaus (vgl. von Lüpke 2003, S. 134 ff.). Vor allem wird auf diese Weise in unseren Vorstellungen das Repertoire von Kommunikationskanälen und -formen auf ganzheitlich-amodale, rhythmische sowie nichtsprachlich-mimische Dimensionen hin ausgeweitet (vgl. von Lüpke 2018, S. 34 f.).

      Kratz und Ruth bezeichnen das Es, »das sich im Wechselspiel zwischen Embryo und Mutter ausformt«, als die Grundstruktur der Persönlichkeit (vgl. Kratz, Ruth 2016, S. 245). Der ›späte‹ Lorenzer wird noch deutlicher, wenn er sagt:

      »Das Fundament der Persönlichkeit bilden soziale Erfahrungen, die in einem quasi anthropoiden, nämlich intrauterinen vorsprachlichen Status erworben werden. Vorsprachlich, ja nichtsprachlich insofern, als diese Erfahrungen ein eigenes, von späteren sprachorientierten Phasen abweichendes Sinnsystem bilden. Unbewusst im buchstäblichen Sinn, d. h.: vor jeder bewussten Erinnerung gebildet. Dennoch aber als soziale Erfahrung gewonnen und in bewussten Lebensentwürfen wirksam« (vgl. Lorenzer 2006, S. 142).

      Die implizite Kommunikation – jetzt sehr real genommen – beginnt im eingeschlossenen Raum der Bauchhöhle als Beziehung von austragender Mutter und Fötus, also im »Beziehungsraum Mutterleib« (vgl. Vonholdt 2017). Hüther und Krens weisen darauf hin, dass der Fötus über die Nabelschnur »auch an das emotionale Erleben der Mutter angeschlossen« ist (vgl. Hüther, Krens 2010, S. 111). Wir beginnen also zu einem ausgesprochen frühen Zeitpunkt damit, unsere Wahrnehmungs- und Interaktionsfähigkeiten differenziert auszubauen. Dieser Erfahrungsschatz fließt in alle späteren Beziehungen ein, ganz gleich ob sie privater oder professioneller Natur sind. Ja schon bevor eine solche Beziehung zustande kommt, werden bestimmte Erwartungshaltungen, die aus diesem Fundus stammen, aktiviert. Die Art und Weise dieser Disposition ist von der impliziten frühen Erinnerung eingefärbt, was bedeutet, dass wir mit Offenheit oder mit Misstrauen gegenüber anderen Menschen auftreten, je nachdem wie diese ersten Interaktionen beschaffen waren. Ich möchte beileibe keinem Determinismus das Wort reden, aber nur über eine eingehende Selbstreflexion können wir einer möglicherweise unzureichenden Eintrübung aktueller Beziehungen, die auf einer verfälschten Wahrnehmung aufruht, vorbeugen.

      Das Subjekt der Psychoanalyse ist eben nicht bis ins letzte bestimmbar, »da das Unbewusste etwas ist, was man wirklich nicht weiß« (vgl. Langnickel, Link 2018, S. 126). Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es – gerade in der Begegnung mit neuen Patienten – vor allem darum geht, das »›Nicht-Wissen‹ auszuhalten« und ihm mit einer Grundhaltung von Anfängergeist und Expertengeist zu begegnen (vgl. Leuzinger-Bohleber 2007, S. 968). »Im Verstehen, Halten, auch Containen wird die Bedingung geschaffen, die es dem Analysanden ermöglicht, sein dynamisches Unbewusstes zu lösen und zu entfalten«.

      Dabei führt die interpersonale, »tief unbewusst verbundene zweite Psyche« jene Differenzen ein, die den Patienten nötigen, »Unbekanntes zu entdecken und Bekanntes als Unbekanntes erneut zu denken« (vgl. Nissen 2009, S. 373). Immer wieder bin ich erstaunt über die große Nähe der beiden Disziplinen Psychoanalyse und Pädagogik, die genau an diesem Punkt einer professionellen, dialogisch begriffenen Beziehung aufscheint. Hier hat man sich – ungewollt und vielleicht noch unverstanden – aufeinander zubewegt.

      Vor allem begegnen mir hier Formulierungen über das Unbekannte und Nicht-Gewusste, die mittlerweile geradezu irritierend ›unwissenschaftlich‹ klingen und die sich bruchlos in ein psychoanalytisch-pädagogisches Konzept einpassen lassen

      »Was heute fast ausschließlich zählt, sind harte Daten, durch möglichst wenig theoretische Komplikationen verstellte Befunde (…) Übersehen wird dabei allerdings leicht, dass die evidenzbasierte Forschung häufig Komplexitätsreduktionen vornimmt, die von einem erheblichen Mut zur Vergröberung zeugen« (vgl. Ahrbeck 2007, S. 38 f.; Gerspach 2009, S. 58 f.).

      Diese Haltung des vorsichtigen Herantastens an das noch Unverstandene liefert auch und gerade der Pädagogik eine ausgezeichnete Basis für ein beziehungsgestütztes Arbeitsbündnis. Alle darauf aufruhenden Forschungsaktivitäten und Theoriedebatten haben die Psychoanalytische Pädagogik in den letzten Jahren und Jahrzehnten entscheidend vorangebracht und stabilisiert.

      Vor allem Siegfried Bernfelds weitreichende Erkenntnis vom »sozialen Ort«, der gänzlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Entwicklung von Neurose und Verwahrlosdung nimmt, muss hier mitgedacht werden. Das seelische Geschehen ist gerahmt von den gesellschaftlichen Lebensbedingungen, und die »Triebe selbst mitsamt ihren Eigenschaften und Zielen sind der Niederschlag« dieses historischen Geschehens. Deshalb gilt: »Die ›Schwere‹ einer Erkrankung ist oft geradezu von ihrem sozialen Ort abhängig« (vgl. Bernfeld 1970, S. 198 f.).

      Jüngst haben Brunner u. a. diese Perspektive noch einmal aufgegriffen. Sie betonen, dass es nur eine eingehende »Reflexion auf die klassen- und milieuspezifische Lage der Individuen« ermöglicht, sowohl das Hervorbringen innerpsychischer Konflikte als auch die Reduktion oder Kanalisation spezifischer Konfliktlösungsstrategien zu verstehen und damit unterscheiden zu können, ob »ein Verhalten als ›pathologisch‹ eingeschätzt oder eine Sublimierung als ›gelungen‹ wahrgenommen wird« (vgl. Brunner u. a. 2012, S. 23). Ob unbewusste Wünsche und Phantasien innerpsychische Konflikte hervorbringen, ist davon abhängig, »was innerhalb des sozialen Ortes als verpönt« gilt. Damit ist auch apodiktisch festgelegt, dass Forscher/innen den sozialen Ort ihrer Forschungssubjekte zur Kenntnis nehmen und reflektieren müssen (vgl. Thoen-McGeehan 2020, S. 44).

      Bernfeld war also sehr weitsichtig. Mit einem sozusagen professionstheoretischen Blick auf fundamentale Unterschiede lautet seine Conclusio, der Psychoanalytiker sei imstande, dem sozialen Ort gegenüber neutral zu sein, »der Pädagoge kann diese grundsätzliche Toleranz