persönliches Problem im Kleinen – und das der Psychoanalytischen Pädagogik im Großen – sind jetzt, dass durch die Aufdeckung solcher möglichen Motive im Dienste einer inneren Abwehr der Widerstand womöglich nur noch größer wird. Dabei muss ich aufpassen, dass meine Gedanken nicht als schnöde Beschimpfung oder aus reiner Kränkung geboren daher kommen. Mir geht es primär darum zu verstehen, warum die Psychoanalyse beinahe vollständig aus der Pädagogik verschwunden ist und dass ich umgekehrt weiß und sichtbar machen möchte, dass durch ein Bearbeiten der eigenen Widerstände ein Mehr an Erkenntnis erreicht wird. Das betrifft sowohl die Theoriedebatte, die zu lebende Praxis und die erfolgreich zu gestaltende Forschung. Es gilt, ganz neu für die Psychoanalytische Pädagogik zu entflammen.
1.3 Die »Matrix« der Psychoanalytischen Pädagogik
Ich komme jetzt auf die allgemeine Bedeutung von pädagogischen Gruppenprozessen zu sprechen, die gerne aus dem Auge verloren wird. Angelehnt an Foulkes verweist Naumann auf das Gewicht der Gruppenmatrix, die er noch einmal unterteilt. Die Grundlagenmatrix ist jenes »übergeordnete gesellschaftliche Netzwerk, in dem jede Gruppe mit ihrer dynamischen Matrix stattfindet und in dem die Menschen miteinander vernetzte Knotenpunkte bilden« (vgl. Naumann 2014a, S. 53 f.). In der dynamischen Matrix wiederum wirken die verinnerlichten Beziehungen, die Beziehungen innerhalb der Gruppe und der Beziehungen, in die ihre Mitglieder außerhalb eingebunden sind, zusammen. »In der Gruppe wird die innere Matrix wiederbelebt, die Einzelnen bevölkern die Gruppe gleichsam mit ihren inneren Beziehungsobjekten (…)« (vgl. ebd., S. 60).
In das Konzept des szenischen Verstehens sollte unbedingt eine gruppenanalytische Perspektive integriert werden, so wie es Naumann tut, um die Bedeutung der Gruppe für die Entwicklung der Einzelnen – wie auch die Bedeutung der pädagogischen Institution für die Gruppe angemessen zu würdigen. Unter günstigen Ausgangsbedingungen, wenn die Gruppengrenzen genügend gut geschützt sind, kann etwa eine Kindergruppe zum »Übergangsraum für Selbstbildungsprozess, in dem spielerisch auch ernste Themen, etwa im Hinblick auf Familie, Geschlecht und Kultur«, Aufnahme finden. Zudem erhält hier jedes Kind Antworten von der Gruppe (vgl. ebd., S. 112 ff.). Das folgende Beispiel von Brandes mag dies veranschaulichen:
Der vierjährige Franz erscheint eines Morgens in seinem Kindergarten mit einem Xylophon. Auf der Frage seiner Erzieherin, ob er ein Konzert geben möchte, stimmt er freudig zu. Die Eltern von Franz sind professionelle Orchestermusiker, indessen ihrem Kind gegenüber sehr einfühlsam und überfordern es nicht.
Die anderen Kinder sind von dieser Idee begeistert und setzen sich kreisförmig um Franz und sein Xylophon herum. Franz beginnt aber nicht zu spielen, sondern kratzt sich nur mit den Schlägern am Kopf. Die anderen beginnen miteinander zu reden oder begutachten neugierig das Instrument mitsamt den Buchstaben auf den Metallplättchen. Buchstaben können sie schon unterscheiden und die Erzieherin erklärt, dass es die »Noten« sind, damit der Musiker weiß, worauf er schlagen muss. Nun ist die Aufmerksamkeit wieder ganz bei Franz. Alle erwarten den Beginn seines Konzertes, aber wieder spielt er nicht, sondern schaut sich nur um. Diese unklare Wartesituation wird schließlich von der Erzieherin unterbrochen, indem sie fragt, ob er jetzt anfangen wolle. Franz schüttelt den Kopf. Einige Kinder stehen auf, um ein noch fehlendes Kind zu holen, das aber nicht will.
Nun soll es endlich losgehen und alle sind erwartungsvoll, aber Franz beginnt immer noch nicht, sondern schaut etwas unsicher um sich. Die Erzieherin versucht, die lähmende Pause zu überbrücken, indem sie die Kinder zum Beifall-Klatschen auffordert, das bräuchten Musiker am Anfang. Immer begeisterter beginnen die Kinder zu klatschen. Franz lächelt zwar, aber beginnt trotzdem nicht. So geht es noch eine ganze Zeit weiter. Die Kinder werden unruhiger, beschäftigen sich untereinander oder gehen in den Nebenraum. Das Konzert droht zu scheitern.
Dann steht Peter, der Freund von Franz, auf, fragt, ob er etwas pfeifen dürfe, und beginnt »Alle meine Entchen« zu intonieren. Die Erzieherin nimmt den Vorschlag auf und sagt: »Wunderbar, jetzt haben wir ein Pfeifkonzert.« Sie schickt Peter los, um die verloren Gegangenen zu holen, und einige von ihnen kommen mit ihm zurück. Es beginnt ein Pfeifkonzert, an dem nicht nur Peter beteiligt ist, sondern in das immer mehr Kinder einfallen. Selbst ein weinendes Mädchen, das sich im Nebenraum gestoßen hatte, wird einbezogen und kann getröstet werden. Franz steht jetzt nicht mehr so im Mittelpunkt, so dass er seine Zurückhaltung aufzugeben und sich in das jetzt gemeinschaftliche Konzert immer wieder durch kurze Schläge auf sein Xylophon einzubringen vermag.
In seiner Interpretation geht Brandes von der Reinszenierung eines zentralen Identitätsdilemmas von Franz aus. Er möchte gerne ein Konzertmusiker wie seine Eltern sein, indessen kann er noch gar nicht richtig Xylophon spielen. In ähnlichen Situationen behilft er sich dadurch, auf später, wenn er ›groß‹ ist, zu verweisen, und dann Cello zu spielen. In diesem Moment aber inszeniert er seine ganze Ambivalenz und strapaziert damit die Geduld der Erzieherin und der anderen Kinder. Allerdings wird in der Kindergruppe die »Umarbeitung eines solchen inszenierten Selbstbildproblems« geleistet. Peter ist der Initiator, das ursprüngliche ›Solokonzert‹ in eine kollektive musikalische Darbietung zu verwandeln. Das stellt für Franz offensichtlich eine akzeptable Lösung dar: Jedenfalls zeigt er sich in einer späteren Szene des Tages mit seinem Xylophon unterm Arm »entspannt und zufrieden« (vgl. Brandes 2008, S. 9 f.).
Es ist aber auch möglich, dass ganz andere Themen einer Gruppe durch einzelne zur Sprache gebracht werden. So mag ein spezifischer Moment in der Dynamik des Gruppengeschehens, der eine belastende Erinnerung an seine frühe Lebenszeit wachzurufen droht, für ein bestimmtes Kind zum Auslösereiz werden, höchst auffällig zu reagieren. Das wäre sein persönlicher Anteil an der Eskalation. Aber dieses Verhalten repräsentiert unter Umständen auch einen gruppentypischen Aspekt. Dann brächte dieses Kind einen latent schwelenden Konflikt zum Ausdruck – es ›erledigt‹ etwas für die Gruppe, was anders nicht zur Sprache käme. So ließe sich die nach einer Vielzahl von Zurückweisungen abrupt ausbrechende Aggression eines Jungen als der Ärger aller Jungen der Gruppe verstehen, dass die Mädchen von den Erzieherinnen wegen ihres angepassten weiblichen Verhaltens bevorzugt werden (vgl. Finger-Trescher 2012, S. 25 f.). Gehen wir noch eine Stufe ›höher‹, so erkennen wir ein deutliches Wechselspiel von Psychostruktur und Institution (vgl. Schallehn-Melchert 1998, S. 57). Die Institution ist die »Bühne, auf der die Dramen der Kindheit reinszeniert werden« (vgl. Hilleke 1998, S. 26). So sind alle Mitglieder einer Institution in eine »dynamische Matrix wechselseitiger Bemächtigungsversuche eingebunden«, die sich insgesamt zu einer Pyramide von Machtverhältnissen aufschichten. Die Rekonstruktion dieser »Macht-Matrix« landet am Ende beim Individuum, das zwar für sich existiert, aber durch die erlebten Interaktionen mit anderen Individuen vorgezeichnet ist: »Seine individuelle Psyche ist die individualisierte (mentale) Matrix dieser Beziehungen« (vgl. Haubl 2005, S. 55 ff.).
Abschließend sei daher noch einmal Wert gelegt auf die Betonung der institutionellen Rahmung einer entwicklungsunterstützenden Psychoanalytischen Pädagogik, ohne die das Ziel, Pädagogik jenseits normativ gewirkter Übergriffe im Sinne einer leeren Anpassungs- und Erziehungstechnologie zu gestalten, kaum gelingen wird. Dabei sind mehrere Variablen zu beachten: die durchaus sehr unterschiedlichen Klient/innen, das vom Pädagogen/von der Pädagogin zu sichernde Setting, die Person des Pädagogen/der Pädagogin selbst sowie die je spezifischen Arbeitsziele innerhalb der Institution. Hansjörg Becker hat es so auf den Punkt gebracht: »Das Objekt der Übertragung ist die Organisation« (vgl. Becker, H. 1998, S. 94, Gerspach 2018, S. 199 ff.; Gerspach 2020a).
Auch Regina Clos veranschaulicht den Nutzen eines gruppenbezogenen psychoanalytischen Verstehens (vgl. Clos 1991, S. 62 ff.).
In ihrer neuen Klasse einer stationären Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen (zum damaligen Zeitpunkt noch Lernbehindertenschule genannt) sind Kinder im Alter zwischen 8 und 10 Jahren versammelt, die allesamt erhebliche Probleme aufweisen. Sie versucht, mit den Kindern affektiv »mitzuschwingen« und sich in das einzufühlen, was gerade »los« ist. Aber all diese Versuche werden von ihnen anfangs komplett torpediert. Die Kinder sind noch nicht soweit, ihren subjektiven Schutz aufgeben zu können, veranstalten nur ein unbeschreibliches Chaos. In solchen Fällen scheitert selbst der stupideste Unterricht »an der Vehemenz ihrer Aggressionen«. Zwar spüren sie, dass es sich um eine einfühlsame Lehrerin