Manfred Gerspach

Verstehen, was der Fall ist


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in Psychoanalytische Pädagogik und Psychoanalytischer Sozialarbeit bringt aber nur vordergründig Unterschiede hervor, die wohl vor allem dem der tendenziellen Andersartigkeit der Arbeitsfelder geschuldet sind. Das ›Kerngeschäft‹ der Pädagogik sind noch immer primär Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen, und da ist selbstverständlich Nähe zur Psychoanalyse als einer Sozialisationstheorie einerseits und einem Therapieverfahren zur Behandlung des in diesem Kontext entstandenen seelischen Leidens andererseits quasi naturgegeben. Das Aufgabengebiet der Sozialarbeit ist viel heterogener beschaffen, und oftmals scheint der sozialisatorische Aspekt nur mittelbar durch. Vielleicht ist der Arbeitsauftrag der Psychoanalytischen Sozialarbeit sogar noch um einiges diffuser als jener der Psychoanalytischen Pädagogik. Perner jedenfalls sieht diese Schwierigkeit:

      »Wenn er [der psychoanalytische Sozialarbeiter; M.G.] sich auf die unaufdringliche, passive, abwartende und rezeptive Haltung des Analytikers beschränken würde, könnte er ewig warten und hätte nichts zu tun, weil seine Klienten dann gar nicht kämen oder nach wenigen Sitzungen wegbleiben würden. Er kann darum die Entwicklung einer positiven und tragfähigen Übertragung nicht ruhig und gelassen abwarten sondern muss aktiv für ihre Herstellung sorgen (…)« (vgl. Perner 2010, S. 68).

      Erziehung und Bildung auf der einen Seite weisen eine gewisse Verzahnung auf, verbunden mit einem eher klaren Auftrag zur allgemeinen Wissensvermittlung. Die Aufgabenzuteilung der Sozialen Arbeit auf der anderen Seite erfolgt in der Regel durch das Aktivwerden von Jugend- und Sozialämtern, wenn sich vor Ort überdeutlich Problemlagen artikulieren. Das bringt die Zielgruppen, die zumeist den randständigen Milieus angehören, auf doppelte Weise in eine defensive Position. Die Umgebung – nicht zuletzt die Schule – wird aufmerksam und verlangt nach staatlicher Intervention. Die Beschämung auf Seiten der Betroffenen wird somit potenziert und erschwert den Aufbau eines soliden Arbeits- und Entwicklungsbündnisses. Dass das professionelle Scheitern bei Sozialarbeiter/innen damit quasi vorprogrammiert ist – und also das Beschämungsstigma am Ende auf sie zurückfällt –, macht eine jüngst erschienene Publikation überdeutlich sichtbar. Sie zeigt aber auch auf, wie und unter welchen Bedingungen helfende Beziehungen erfolgreich und nachhaltige Wirkungen bei den »Fällen« generierend verlaufen können (vgl. Fischer u. a. 2019). Überdies ist einzuräumen, dass auf dem Feld der Pädagogik wie der Sozialarbeit der gern verwendete Begriff der »Beziehungsarbeit« von einem nicht unbedeutenden diffusen Anteil mitgeprägt wird (vgl. Pollak 2002, S. 81 f.).

      Spätestens über die auch auf dem Gebiet der Sozialarbeit virulent werdenden Prozesse von Übertragung und Gegenübertragung und die Einsatzmöglichkeiten des szenischen Verstehens, das ich sogleich noch eingehender behandeln will, wird die Unterschiedlichkeit also wieder vernachlässigbar. Von viel größerem Interesse sind die großen Gemeinsamkeiten, und es machen sich auch nur wenige inhaltliche oder methodische Divergenzen bemerkbar (vgl. Günter, Bruns 2010, S. 36 ff.).

      Zudem springt ins Auge, dass es eine Reihe von Schnittmengen zwischen den beiden Arbeitsfeldern gibt. So verwundert es nicht, dass gerade die Kinder und Jugendlichen, die mit den normativ-mittelständisch gewirkten Anforderungen der Regelschule nicht ohne weiteres zurechtkommen und in den Fokus besonderer pädagogischer Bemühungen geraten, mehrheitlich aus sozialen Randlagen stammen. Meist stoßen wir auf von massiven seelischen Erschütterungen bedrohte Lebenswelten der jeweiligen Adressat/innen, und dies verlangt zwingend nach einer gesellschaftlichen Verortung unseres Tuns, um der erlebten – aber nicht verstandenen – Entfremdung unserer Adressat/innen nicht noch eine weitere Unterwerfungsgeste zuzumuten.

      In beiden Professionen ist zudem Aufklärung zu leisten über ihre institutionelle Rahmung. Gesellschaftliche Institutionen neigen zur Idealisierung ihrer eigenen Vorstellungen und verteidigen sie gegen Angriffe (vgl. Ludin 2013, S. 127). Ein Wissen über diese im Innern wirkende Dynamik wird eher aus Gründen des Selbstschutzes massiv abgewehrt. Die Institution und ihre Repräsentant/innen fürchten um Prestige- und Machverlust, die Mitarbeiter/innen fürchten die ihren Narzissmus kränkende Gewissheit, in ihrer untergeordneten Rolle depotenziert zu sein. Hier kommt der Latenzschutz zum Tragen. Zum ersten gibt es den »Strukturschutz durch Latenz«: Institutionen schützen ihre Strukturen und damit ihre Stabilität, indem sie alles, was diese Strukturen unkontrolliert verändern könnte, latent zu halten suchen. Zum zweiten den »Schutz der Latenz« selber: Institutionen versuchen zu verhindern, dass die Latenz als solche überhaupt aufgedeckt und zur Sprache gebracht wird (vgl. Haubl 2011, S. 202; Gerspach 2020a, S. 31).

      Ähnliches gilt für Vorgänge in sozialen Gruppen. Dem Sog der Gemeinschaft, sich auf eine Idee zu verpflichten, haftet ein regressives Element an, welches das Reflexionsvermögen infiltriert. Die Individuen sehen sich genötigt, ihren Wunsch nach autonomem Denken und Handeln einzuschränken oder ganz aufzugeben. So unterwerfen sie sich der allgemein geteilten Ideologie aus Angst, Liebe und Schutz der Gemeinschaft zu verlieren, oder sie tun es gar freiwillig, ganz im Dienste der »Identifikation mit dem Aggressor« (Freud, A. 1980, S. 298). Diese Vorgänge verhindern die (Selbst-)Aufklärung. Eggert-Schmid Noerr hat aufgezeigt, dass Reflexion am geeignetsten auf der Basis psychoanalytischer Theorie erfolgt (vgl. Eggert-Schmid Noerr 2010, S. 27). Dabei gilt: »Keine psychoanalytische Zeitdiagnose kommt ohne Gesellschaftstheorie aus; die Annahme, das bräuchte man nicht, ist im Übrigen auch eine Gesellschaftstheorie, wenn auch keine elaborierte.« Die »Deutungsangebote«, die sie parat hält, weisen der Realität einen bestimmten Sinn zu, sind daher nur reflexiv zugänglich und zwangsläufig von einer gewissen Befangenheit begleitet (vgl. Kirchhoff 2019, S. 31; Brede 1997, S. 876).

      Vielleicht kommt hier ein gewisser Neid ins Spiel. Gewinnen die Gefühle von Kränkung und Ohnmacht die Oberhand, weil man weiß oder mutmaßt, im Vergleich mit anderen etwas nicht zu können, wird die Phantasie vom grandiosen Selbst beschädigt. Dann entstehen lähmende Gemütsregungen von Scham und Zorn, und man empfindet Neid auf die anderen, die es scheinbar viel besser können. Zudem steht Neid mit dem vitalen Bedürfnis nach narzisstischem Wohlbefinden in enger Beziehung, nicht zuletzt dann, wenn man sich zurückgesetzt zu fühlen beginnt.

      Ich meine konkret den Neid auf die Psychoanalytischen Pädagog/innen. Auf der manifesten Ebene zeigt sich bei ihnen eine eifersüchtig belauerte Fähigkeit, Belastungen eher auszuhalten und mit »Problemkindern« besser umgehen zu können. Auf der latenten Ebene kennen sie offenbar keine Angst davor, mit dem, was sie »Unbewusstes« nennen, in Berührung zu kommen. Wenn dagegen Angst und Neid vor sich und anderen nicht eingestanden werden dürfen, werden sie in einem Akt der Gegenbesetzung erbittert diskreditiert.

      Seit dem Abgesang auf die ›großen Erzählungen‹ – humanistische, strukturalistische, marxistische usw. Weltformeln –, die als Hilfs-Ich dienten, ist die Flucht in eine sichere Theorie obsolet geworden ist (vgl. Lyotard 2012). Aber die Folgen sind doch unterschiedlich. In Verbindung mit dem Untergang des sowjetischen Imperiums führte dieser akademische Kollaps vor allem für die politisch dogmatischen Strömungen innerhalb der Wissenschaftsgemeinde zu einer enormen emotionalen Labilisierung. Diejenigen, denen dadurch ihr stärkendes externalisiertes Über-Ich verloren ging, fanden so einen Grund, auf alle neidisch zu sein, die ihre – von Skepsis und Ambiguitätstoleranz, Spannungen auszuhalten, gleichermaßen getragene – Sicherheit aus dem Mut schöpften, nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch und zuallererst das Eigene in Frage zu stellen. Fortan wurde deren Gedankengebäude umso schärfer zuerst ignoriert, und wenn das nichts mehr half, attackiert. Wollte man ihnen vielleicht etwas wegnehmen, was man selbst nicht besaß? Bei aller Ehrfurcht vor dem hohen Gut akademischer Diskurse müssen solche Fragen an den unbewussten psychodynamischen Kern erlaubt sein, der solche Diskurse anstößt und trägt. Aber ich will nicht selbstgerecht sein.

      Im Alten Testament steht zu lesen, dass Jakob seinen Sohn Joseph mehr als seine anderen elf Söhne liebt und ihm ein schönes, buntes Kleid schenkt. Daraufhin ziehen sie ihm in einem unbeobachteten Moment das Kleid aus und werfen ihn in einen trockenen Brunnen. Diepold macht darauf aufmerksam, dass Joseph sich sehr wohl seiner Bevorzugung durch den Vater und des Neids seiner Geschwister bewusst war, er narzisstische Züge entwickelte und »seine Überlegenheit bei allen möglichen Gelegenheiten« demonstrierte (vgl. Diepold 1990, S. 275). Joseph ist also nicht nur Erleider, sondern auch Verursacher von Neidgefühlen. Der Neid gilt deshalb auch als moralisch verwerflich, weil wir Angst vor dem Neid der anderen haben und zugleich Lust, sie neidisch zu machen