Ohne das Zweite Vatikanische Konzil und das auf ihm grundlegend erneuerte Pastoralverständnis der katholischen Kirche macht der Begriff „Pastoralgeographie“ keinen Sinn. Schlimmer noch: Im Sinne eines vorkonziliaren, kolonialen Macht- und Missionsanspruchs würden unter diesem Stichwort möglicherweise christentümliche Expansion und Vereinnahmung legitimiert und organisiert. Das Konzil rüstet ein solches militantes Pastoral- und Missionsverständnis konsequent ab und lässt die Kirche in der dialektischen Spannung der beiden Pole „Innen“ und „Außen“ demütig und solidarisch buchstäblich zur Welt kommen (vgl. Karrer, 7f.).
Leitend ist seither (wenn auch nach 50 Jahren noch immer nicht überall etabliert) ein Verständnis von Pastoral, das sich weder exklusiv auf bestimmte Akteursgruppen bezieht, noch mit Angebots- und Versorgungslogiken hinreichend beschreibbar ist – und vor allem: das sich nicht auf die „inneren Angelegenheiten“ der Kirche begrenzen lässt (vgl. Feiter). Weil Kirche die Botschaft „Christus ist das Licht der Völker“ verkündet und von daher „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1) ist, gewinnt Pastoral von dem her Profil, was Kirche nicht bzw. von dem sie nur ein Teil ist: die Welt. Als „Kirche in der Welt von heute“ ist sie als „Gemeinschaft von Menschen“ mit dieser Welt und ihren Menschen „wirklich engstens verbunden“ (GS 1). Im Sinne einer Pastoralgemeinschaft ist die Kirche ein ohnmächtiger, weil von Gottes Gnade abhängiger Ort der Realisation des Evangeliums, die das „Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“ (GS 45).
PHÄNOMEN MENSCH
Wenn Papst Paul VI. zum Abschluss des Konzils betont, dass die Kirche „vielleicht noch nie wie bei dieser Gelegenheit […] das Verlangen verspürt [hat], die sie umgebende Gesellschaft kennen zu lernen, sich ihr zu nähern, sie zu verstehen, zu durchdringen, ihr zu dienen, ihr die Botschaft des Evangeliums zu verkünden und sie aufzunehmen, gleichsam um ihr nachzugehen in ihrer raschen und fortwährenden Wandlung“, dann bilanziert er keine erledigte, sondern beschreibt eine fortwährende Aufgabe: die mit Aufmerksamkeit und Sympathie zu erfolgende Beschäftigung mit dem „Phänomen Mensch“.
Ulrich Feeser-Lichterfeld
Dr. theol. und Dipl.-Psych., seit 2016 Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Praxisbegleitung, Praxisforschung und Pastoralpsychologie an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Paderborn.
Im und durch das Zweite Vatikanische Konzil, so bringt es Sander auf den Punkt, „relativiert die Kirche sich selbst zu Gunsten der heutigen Menschen. […] Das geschieht konkret an Orten, an denen sichtbar wird, was im Argen liegt und Not tut, aber auch an Orten, an denen etwas geschieht, was alle Menschen weiterbringt“ (Sander, 18). Hier sind die gegenwärtig viel diskutierten Anders-Orte bzw. Heterotopien im sozialen Miteinander angesprochen, welche – so Michel Foucault – „als Gegenplatzierungen oder Widerlager“ (zit. nach Bauer und seiner „kleinen theologischen Sprachkritik“ an der zuweilen inflationären und missverständlichen Verwendung dieses Begriffs) etablierte und für allzu selbstverständlich gehaltene Ordnungen in Frage zu stellen, zu irritieren und zu transformieren vermögen.
Dieser Dezentrierung von Kirche und Pastoral von der religionsgemeinschaftlichen Institution hin zum „Phänomen Mensch“ und einer pastoralgemeinschaftlichen Solidarität vor allem mit den vielgestaltigen Ohnmachtserfahrungen des Menschen hat sich die Pastoral-theologie mit besonderer Leidenschaft verschrieben (vgl. beispielsweise Baumgartner). Für ihre Beobachtungen, Reflexionen und Interpretationen nutzt sie seit vielen Jahrzehnten diverse inter-, intra- und transdisziplinäre Vernetzungen mit den Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften (seltener den Naturwissenschaften) in ihren vielfältigen Spielarten. „Welche konkreten Methoden und Ansätze eine derartige Forschung aber auch wählen mag“, so Feiter (36) im Hinblick auf eine dann häufig empirisch arbeitende Pastoraltheologie, „[… ] ihre Begründung liegt in einem letztlich sehr einfachen Umstand: Die Pastoraltheologie muss sich die Lebenswirklichkeit und - praxis von Menschen sagen lassen.“
Die Geographie steht bislang noch selten auf der Liste praktisch-theologischer Referenzdisziplinen. Dabei kann sie mit ihrer Vielfalt der Perspektiven im Schnittfeld von Natur- und Gesellschaftswissenschaften helfen, die Welt des und der Menschen auf den verschiedensten Maßstabsebenen von global zu lokal, von Kontinenten und Klimazonen bis zu Regionen und Sozialräumen besser verstehen zu lernen. Eigenes steht Fremdem gegenüber, öffentlicher Raum und Privatsphären interagieren, Reelles und Virtuelles sind immer häufiger kaum zu unterscheiden. Hier Orientierung und Struktur zu finden, ist eine dringlichere Aufgabe denn je: Die „Welt“ wird zugleich weiter und komplexer, als auch kleiner und nahräumiger. Sie will neu entdeckt und immer wieder gestaltet werden, was nach geographischen Kompetenzen verlangt. „Geographischen ‚Analphabetismus‘“, so die Herausgeber eines aktuellen Standardlehrbuchs für das Geographiestudium, „kann sich die Welt des 21. Jahrhunderts nicht leisten“ (Gebhardt et al., V).
GEOGRAPHISCHE POTENZIALE
Geographie sorgt sich – wenn das der geographische Laie richtig einschätzt – um einen umfassenden und immer wieder zu aktualisierenden Blick auf die Welt, in der wir leben.
Insbesondere die Human- und Sozialgeographie thematisiert dabei das vielschichtige Verhältnis von Gesellschaft bzw. Individuum einerseits und Raum andererseits. Wenn sie sich mit der räumlichen Organisation menschlichen Handelns befasst, dann werden Räume und ihre Anordnungsverhältnisse nicht allein im Sinne einer strukturellen Ordnungsmatrix verstanden. Geographinnen und Geographen interessieren sich darüber hinaus für deren symbolische Bedeutungen, deuten sie als ein Medium sozialer Kommunikation und sehen in ihnen Bausteine gesellschaftlicher Strukturierung und Identität.
Im Blick auf solche Raumbezogenheit menschlichen Handelns wird deutlich, dass Orte, Räume, Regionen oder Grenzen nicht einfach „natürlich“ vorgegeben und als solche aufzufinden und zu registrieren sind, sondern dass Individuen, Gruppen und Gesellschaften diese definieren und sich dabei konstruierend um Orientierung mühen. Dieses „Raum-Machen“ ist – dies wird im Zuge der Analysen jener Geographien, welche die Menschen als soziale Akteure mittels ihrer Tätigkeiten schaffen, deutlich – kontextuell bedingt, wandel- und verhandelbar sowie mit Risiko- und Konfliktpotenzial behaftet. Wo es gelingt, sie zu entschlüsseln, konstituiert sich so etwas wie eine „Geographie der Subjekte“.
Mittels Multiperspektivität und Methodenmix vermag die Geographie im Schnittfeld von Natur- und Kulturwissenschaften ganz unterschiedliche Handlungsebenen und Themencluster zu fokussieren, die auch für Theologie und Kirche von hoher Relevanz sind: Als Wissenschaft der „ganzen“ Welt differenziert sie beispielsweise das Stichwort „Globalisierung“ hinsichtlich der für sie typischen Vernetzung wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Beziehungen und zugleich Abgrenzungen u. a. gegen Migrationsbewegungen oder in Form neuer Nationalismen. Auf der Mesoebene werden in der Landschafts- und Länderkunde markante Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen bestimmten Regionen dieser Welt identifiziert. Stehen Sozial- und Lebensräume im Mittelpunkt der Betrachtung, dann wird u. a. gefragt: Was zeichnet diese aus? Wer interagiert hier wie und wozu? Wem gehört der Raum? Welche Spielregeln der Inklusion und Exklusion existieren und werden eingehalten oder gebrochen? Die hierbei gewonnenen Einsichten können beispielsweise im Rahmen von Projekten zur Quartiersentwicklung oder zur Förderung eines ländlichen Raums genutzt werden.
Auf der Mikroebene werden qualitative und/ oder quantitative Daten zur Situierung des Einzelnen im jeweiligen räumlichen Kontext z. B. hinsichtlich der von bzw. gegen ihn betriebenen, mehr oder weniger subtilen Grenzziehungen gesammelt und beispielsweise im Interesse konsequenter Barrierefreiheit im Alltag ausgewertet.
PASTORAL UND PASTORALTHEOLOGIE IM SPATIAL TURN
Dass auch Disziplinen außerhalb der Geographie Interesse an Raum und Raumbedeutung gefunden haben, bezeichnet spätestens seit den 1990er-Jahren der Ausdruck „spatial turn“. Nach der Aufklärung bzw. in der Moderne konzentrierte sich die gesellschaftswissenschaftliche Diskussion bekanntlich auf die zeitlichen und sozialen Rahmenbedingungen des menschlichen Lebens. Die