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Lebendige Seelsorge 4/2017


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der Zeit. Vor allem aber sieht sie im Einbezug der Raumdimension ein großes Potenzial für eine angewandte und dabei durchaus gesellschaftskritische Forschung.

      Vor ein paar Jahren in die Diskussion gebracht (vgl. Feeser-Lichterfeld/Krockauer), möchte das Projektstichwort „Pastoralgeographie“ nicht eine weitere praktisch-theologische Spezialdisziplin wie die Pastoralpsychologie oder Pastoralsoziologie anmahnen (wobei ein solcher Bedarf sich nach intensivem Meinungsaustausch selbstverständlich herauskristallisieren könnte), sondern die verschiedensten bereits jetzt vorliegenden, mehr oder weniger explizit orts- und raumbezogenen Diskursbeiträge innerhalb der Pastoraltheologie zusammen- und im Gespräch mit Geographinnen und Geographen weiterführen. Kurzum: „Pastoralgeographie“ steht dafür, dass der „spatial turn“ auch Relevanz für Pastoral und Pastoral-theologie hat und dort verstärkt verfolgt wird. Wenn das Selbstverständnis einer Raumwissenschaft treffend darin beschrieben werden kann, dass sie die unwiederholbare Einzigartigkeit des Räumlichen sowie die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Formen gesellschaftlicher Organisation und Strukturierung analysiert, dann dürfte auch die Pastoral-theologie rauminteressiert sein (vgl. ebd., 16). Dies umso mehr, wo die Raumwissenschaften eine Optionalität vertreten, die dem pastoral-theologischen Erkenntnis- und Handlungsinteresse sehr nahekommt, nämlich den Raum als Ort der Vielfalt, der Differenz und der Koexistenz der Subjekte verteidigen zu wollen gegen die Kolonisierung der Lebenswelten der „Anderen“.

      Aber nicht nur die Anderen, sondern auch das Anderswo ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Jemand ist anderswo, an einem Fremdort, dort, wo er nicht hingehört oder zumindest nicht zu denen passt, die vor Ort sind. Oder er ist nicht nur fremd im Sinne von fehl am Platz, sondern ortlos in dem weiteren Sinne von abwegig, seltsam, wunderlich. Indem jemand zugleich hier ist und anderswo hingehört, er selbst ist und zugleich ein Anderer, ereignen sich irritierende Ortsverschiebungen (vgl. Waldenfels), die von hoher pastoraler Bedeutung sein dürften.

      Wo Pastoral und Pastoraltheologie ihr Rauminteresse entdecken, werden sie dieses nicht auf zentrale Plätze und markante Sehenswürdigkeiten, auf repräsentative Eigenheime und idyllische Flecken, auf Kirchtürme und Pfarrsäle beschränken können. In der Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für den Anderen, den Benachteiligten und Marginalisierten allzumal, wird der pastorale und pastoraltheologische Blick dem Anderen hinter die Kulissen folgen, in die Grauzonen und Hinterhöfe. Eine solche Perspektive übersieht die wachsenden sozialräumlichen Polarisierungen nicht. Sie interessiert sich für transkulturelle und transnationale Räume ebenso wie für das Generationengefüge vor Ort. Pastoral und Pastoraltheologie haben Räume der Verlierer zu registrieren und können ihnen nicht ausweichen.

       WOZU PASTORALGEOGRAPHIE?

      Pastoralgeographie macht Sinn, weil Raum- und Ortsfragen seit mindestens 10-20 Jahren die Pastoraldiskurse beherrschen und die Sprachspiele kirchlicher Praxis und pastoraler Theorie von geographischen Begriffen und Metaphern geprägt sind, ohne dass die Art und Weise des Raum- und Orts-Fragens schon hinreichend diskutiert, geschweige denn geklärt wurde. Pastoralgeographie kann helfen, der Innen-Außen-Dialektik von Pastoral konstruktiv zu begegnen und die Relevanz von „Kirche“ für „Welt“ mit Kultur, Geschichte, Identität, Lebensqualität etc. vor Ort aufzeigen zu können.

      So wie es Bucher für das Zusammenspiel theologischer und psychologischer Kompetenz in der Pastoralpsychologie auf den Punkt gebracht hat, so darf auch von der Pastoralgeographie erhofft werden, dass sie wie „Geschwister in der Entdeckung menschlicher Existenz“ kooperieren, „wie sie unter der Perspektive des Gottes Jesu sein könnte“ (10). Und nicht zuletzt: Wo Pastoralplanung und -ordnung ohne Raum- und Ortskompetenz geschieht, d. h. ohne kritisch-analytische Kompetenz in der Wahrnehmung, Beschreibung und Gestaltung von Grenzen, Räumen, Schwellen und vielen weiteren Orten menschlichen Lebens und Handelns, dürfte dies fatale Folgen haben und sicher nicht das Attribut „pastoral“ verdienen.

      Dagegen ist der Perspektivwechsel von einer raumergreifenden oder raumbindenden hin zu einer raumgebenden Pastoral, nicht nur theologisch konsequent, sondern bietet auch dringend gesuchtes ekklesiogenetisches Potenzial: „Eine Kirche, die Platz macht, ist eine, die nicht mehr den umgebenden Raum auf sich bezieht, sondern sich auf den Raum. Hierdurch gewinnt sie neue Relevanz, neue Ausdrucks- und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch neue Wachstumsmöglichkeiten“ (Sellmann, 77).

      Kirche praktiziert auf diese Weise das, was Kardinal Bergoglio vor seiner Wahl zum Papst Franziskus einforderte: „Aus sich selber heraus und an die Peripherien zu gehen, nicht nur an die geographischen, sondern auch an die existentiellen Peripherien“, auf diese Weise eine „selbstreferentielle Kirche“ zu überwinden und die „Momente [zu erfassen], in denen Jesus von innen klopft, damit wir ihn hinausgehen lassen“.

       LITERATUR

      Bauer, Christian, Pastorale Andersorte? Eine kleine theologische Sprachkritik, in: Lebendige Seelsorge 66 (2015) 136-141.

      Baumgartner, Isidor, Pastoral an den Orten der Armen und Bedrängten, in: Först, Johannes/Schöttler, Heinz-Günther (Hg.), Einführung in die Theologie der Pastoral. Ein Lehrbuch für Studierende, Lehrer und kirchliche Mitarbeiter, Berlin 2012, 213-219.

      Bucher, Rainer, Kontrast, nicht Konkurrenz! Zur kirchlichen Bedeutung der Pastoralpsychologie, in: Quart 2 (2006) 8-10.

      Feeser-Lichterfeld, Ulrich/Krockauer, Rainer, Orte, Räume, Schwellen … – braucht es eine „Pastoralgeographie“?, in: εὐangel – Magazin für missionarische Pastoral 2 (2011) H. 4, 13-19.

      Feiter, Reinhard, Einführung in die Pastoraltheologie, in: Sajak, Clauß Peter, Praktische Theologie, Paderborn 2012, 15-63.

      Gebhardt, Hans et al. (Hg.), Geographie. Physische Geographie und Humangeographie, Heidelberg 22011.

      Karrer, Leo, Kirche: ein kreatives Tätigkeitswort. Gaudium et spes: Impulse für eine dynamische Kirche, in: Anzeiger für die Seelsorge 124 (2015) H. 12, 5-9.

      Sander, Hans-Joachim, Die Texterstellung von Gaudium et spes. Eine Geschichte der katholischen Selbstrelativierung, in: Anzeiger für die Seelsorge 124 (2015) H. 12, 15-18.

      Sellmann, Matthias, „Für eine Kirche, die Platz macht!“ Notizen zum Programm einer raumgebenden Pastoral, in: Diakonia 48 (2017) 74-82.

      Waldenfels, Bernhard, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen.

      Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt/M. 2009.

       Religion in räumlichen Bezügen denken?

      Kann und soll Religion vom Raum her sinnvoll gedacht werden? Der Beitrag hat das Ziel, einige grundlegende Facetten des Verhältnisses von Raum und Religion aus den Perspektiven der Religionsgeographie oder geographischen Religionsforschung zu beleuchten. Dies geschieht auch vor dem Hintergrund des seit etwa fünfzehn Jahren wieder erwachten Interesses der Sozial- und Kulturwissenschaften an „Raumfragen“, wie sie mit dem Begriff des Spatial Turn markiert wurden. Thomas Schmitt

      Wissenschaftliche Debatten und Disziplinen verlangen die Klärung des Verständnisses grundlegender Begriffe – häufig in der Erkenntnis, dass eine solche Klärung nie abschließend, sondern nur vorläufig und dialogisch erfolgen kann. Gerade „Religion“ entzieht sich einer Definition, welche kultur- und epocheübergreifend Plausibilität beanspruchen kann.

      In Anlehnung an bekannte religionssoziologische Zugänge von Charles Glock sollen im Folgenden fünf Dimensionen von Religion unterschieden werden, nämlich

      (1.) die Frage persönlicher Glaubensüberzeugungen einschließlich damit verbundener persönlicher Moral,

      (2.) kollektiv entwickelte Weltanschauungen im Sinne der Etablierung von Theologien oder philosophischer Systeme, einschließlich damit verbundener kollektiver Moralvorstellungen bzw. Ethiken,

      (3.) die individuelle und kollektive Glaubenspraxis,