(5.) die Erfahrungsebene von Religion.
Für viele religiös Praktizierende mag sie die wesentliche Ebene des Religiösen sein; aufgrund ihres subjektiven Charakters ist sie jedoch den Sozial- und Kulturwissenschaften nur mittelbar, etwa über die literarische Verarbeitung entsprechender Erfahrungen zugänglich. Ihr „Wahrheitsgehalt“ muss ebenso wie derjenige theologischer Lehrsätze von den Religionswissenschaften eingeklammert werden.
Für die Humangeographie ließen sich im direkten Anschluss an diese Operationalisierung von Religion sinnvolle Forschungsfragen generieren (siehe dazu die Ausführungen unten und Tab. 1). Ich möchte jedoch dem Gedankengang der Überschrift folgend einen Einblick in die neuere sozialwissenschaftliche Debatte zum Begriff und zur Relevanz des „Raumes“ bzw. von „Räumlichkeit“ vermitteln. Dies geschicht angesichts des hier zur Verfügung stehenden Platzes lediglich in Grundzügen; die Literaturangaben ermöglichen eine eigene Vertiefung. Ich versuche dabei, anhand von kurzen Beispielen die potentielle Relevanz entsprechender Debatten für Religionswissenschaftler, Theologen und für pastorale Praktiker anzudeuten.
Thomas Schmitt
Dr. phil., Privatdozent am Institut für Geographie der Universität Erlangen-Nürnberg; Co-Sprecher des Arbeitskreises Religionsgeographie in der Deutschen Gesellschaft für Geographie; Veröffentlichungen u.a. zu Moscheekonflikten (Schmitt 2003) und zu neueren spirituellen Zentren (2017); als junger Erwachsener u. a. als Diözesanleiter der Kath. Jungen Gemeinde (KJG) im Bistum Trier ehrenamtlich tätig.
Außenstehende würden vielleicht erwarten, dass Geograph/innen auf den Spatial turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften mit uneingeschränkter Freude über die Anerkennung jener Fragen reagieren, die das eigene Fach konstitutiv umtreiben. In der Realität mischte sich bei manchen Fachkollegen zu dieser Freude auch eine gewisse Skepsis, ob einzelne Protagonisten des Spatial Turn nicht Raumverständnisse vermittelten, die die eigene Fachdiskussion auf Grund der sozialwissenschaftlichen Selbstaufklärung gerade erst ad acta gelegt hatte (vgl. hierzu pointiert-polemisch Hard).
In den letzten 30 Jahren erlebte die Humangeographie insofern einen Modernisierungsschub, als sie lernte, sich nicht mehr als „Raumwissenschaft“, sondern uneingeschränkt und zuerst als Sozial- bzw. Kulturwissenschaft zu verstehen, spezifisch als eine raumbezogene Sozial- und Kulturwissenschaft. Die Beschäftigung mit Räumlichem ist zwar weiterhin fachkonstitutives Element, letztlich erweisen sich aber nur weich gedachte Abgrenzungen zu anderen Sozial- und Kulturwissenschaften als sinnvoll. Im Wechsel von der substantivischen („Raum“) zur adjektivischen Sprachform („raumbezogen“ oder „räumlich“) drückt sich die (unter Schmerzen geborene) Erkenntnis aus, dass die verdinglichende Redeweise über „Raum“ gesellschaftliche Sachverhalte und ihre Vermittlungsbeziehungen eher vernebelt denn erklärt.
Dieser bewusst-reflexiven „Abrüstung“ räumlicher Referenzen ausgerechnet bei Geographen stand als Gegenbewegung die komplementäre Wiederentdeckung räumlicher Bezüge bei benachbarten Sozial- und Kulturwissenschaften gegenüber, welche zuvor häufig als „raumvergessen“ oder „raumblind“ charakterisiert wurde. So treffen sich nun Humangeographie und die anderen Sozial- und Kulturwissenschaften im Ringen um die auch raumbezogen adäquate Analyse sozialer Gegenstände sozusagen auf Augenhöhe. Denn dass Gesellschaften (und auch spezielle soziale Phänomene wie die des religiösen Bereiches) nur mit Referenzen auf räumliche und physisch-materielle Kategorien sinnvoll beschreibbar und analysierbar sind, ist wohl in allen Sozialwissenschaften evident. Ausnahmen mögen puristische Anhänger der Luhmann’schen Systemtheorie oder solche Mikroökonomen bilden, die nur in idealisierten, unräumlichen Modellwelten denken.
Als Wegbereiterin des sozial- und kulturwissenschaftlichen Spatial Turn avant la lettre lässt sich die breit rezipierte Strukturations-theorie des englischen Soziologen Anthony Giddens (1988, orig. 1984) erkennen. Sie hat den Anspruch, eine sozialwissenschaftliche Basistheorie darzustellen; ihre Kerneinsicht ist die Dualität von Handeln (engl. agency) und Strukturen; zu Letzteren zählt Giddens sowohl soziale Institutionen als auch materiell-räumliche Gegebenheiten (wie Entfernungen und Lagebeziehungen, aber auch Sach- oder Finanzmittel).
Gemäß dieser Dialektik ermöglichen solche Strukturen erst soziales Handeln, gleichzeitig schränken sie es ein: Die universitäre Institution „Seminar“ beispielsweise ermöglicht das gemeinsame Lernen von Studierenden und greift dazu auf geläufige materiell-räumliche Arrangements (einen abgeschlossenen Raum mit Stühlen und Tischen, eine Tafel, einen Beamer) zurück (vgl. Treibel). Die Giddens’sche Dualität von Handeln und Struktur wird vollständig, wenn man erkennt, dass soziale Strukturen (wie das Seminar) erst durch menschliches Handeln (re-)produziert werden – etwa durch das Zusammenkommen von Dozenten und Studierenden im Seminarraum, ferner durch die untersützenden Tätigkeiten der Hausmeister und Reinigungsmitarbeiter/ innen – und im Übrigen in dieser Reproduktion auch eine Veränderung erfahren können (Seminare des Jahres 2017 unterscheiden sich merklich von denen der 1950er Jahre).
Dass soziale Strukturen ohne Aufrechterhaltung der Handlungsreproduktion in sich zusammenfallen, hatten im politischen Raum bereits die Protagonisten des gewaltfreien Widerstands bzw. des zivilen Ungehorsams erkannt („Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“).
Teilweise sind Strukturen menschlichen Gesellschaften vorgegeben, etwa über die unterschiedliche Ressourcenausstattung an verschiedenen Orten, doch Menschen können diese im Rahmen gewisser Grenzen aktiv verändern. Auch eine abstrakte, scheinbar unveränderliche Eigenschaft wie die Entfernung zwischen zwei Orten lässt sich in ihrer sozialen Bedeutung dadurch relativieren, dass zum Beispiel neue Verkehrsmittel eingeführt werden (mit möglichen Nebenwirkungen für die Betroffenen und die Umwelt).
Der Mensch ist nicht nur ein geistiges oder ein soziales, sondern auch ein körperliches Wesen, und so erhalten materiell-räumliche Sachverhalte für den einzelnen wie für Gesellschaften unmittelbare Relevanz.
Im Unterschied beispielsweise zur Systemtheorie Niklas Luhmanns gelang es Giddens, materiell-körperliche bzw. räumliche Phänomene in seiner sozialwissenschaftlichen Basistheorie systematisch mit einzubeziehen. Vermittelt durch die handlungstheoretische Sozialgeographie Benno Werlens (1987) wurde die Giddens’sche Strukturationstheorie in der deutschsprachigen Humangeographie breit rezipiert. Die später formulierte „Raumsoziologie“ Martina Löws (2001) folgt, bei allen Differenzen im Detail, grundsätzlich der von Werlen eingeschlagenen handlungstheoretischen Orientierung.
Mittels des Giddens’schen Ansatzes lassen sich sehr gut materiell-räumliche Phänomene in ihrer Bedeutung für soziales Handeln sowie für gesellschaftliche Strukturen erfassen, aber auch die diskursiven Bedeutungen von Räumen, Orten und materiellen Gegenständen diskutieren. Was den Ansätzen von Giddens wie Werlen offenkundig fehlt, ist eine Antenne für die sinnlich-ästhetischen oder auch atmosphärischen Qualitäten von Räumen, Orten oder materiellen Artefakten – also für jene Qualitäten, von denen gerade sakrale Räume für den spirituell gestimmten Betrachter leben. Entsprechende Phänomene nahm im deutschsprachigen Raum, etwa mit dem Fokus auf die Atmosphären von Städten oder kirchlichen Räumen, der Philosoph Gernot Böhme feinsinnig in den Blick (vgl. Böhme; Karstein/Schmidt-Lux).
Der in den Sozial- und Kulturwissenschaften prominente Begriff des Spatial Turn geht auf den US-amerikanischen Geographen Edward Soja (1930-2015) zurück, der im verändernden Rückgriff auf den französischen marxistischen Soziologen Henri Lefebvre (1901-1991) eine gleichzeitige Betrachtung von Gesellschaft in ihren zeitlichen wie räumlichen Dimensionen anregte (z. B. Soja). Lefebvre wiederum prägte den Begriff der gesellschaftlichen Produktion des Raumes. Damit ist gemeint, dass sich in den Formen unserer Städte und Kulturlandschaften gesellschaftliche Kräfte wirksam zeigen und in ihnen Normen eingeschrieben werden, die sich zwischen verschiedenen Gesellschaftsformen (etwa zwischen liberal-kapitalistischen und wohlfahrtsstaatlichen) erheblich unterscheiden und ihren Bewohnern oftmals als natürlich und vorgegeben erscheinen.
Die „spätfordistische“ Stadt des US-amerikanischen Industriekapitalismus setzte beispielsweise mit ihren großflächigen, nur durch das private Automobil sinnvoll erschließbaren Einfamilienhaussiedlungen und ihren