20. Jahrhundert ein Geschenk des Geistes Gottes sei.13 Dieser Aussage stimmen wohl weithin alle Christen zu. Dass dies so ist, sollte uns Anlass zu immer neuem Dank gegenüber Gott sein.
Lange habe ich mich lokal und auch auf Bundesebene in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland eingebracht, von 1995 bis 2001 sogar als deren Vorsitzender. Ich hätte mir nicht vorstellen können, ohne eine vom Konzil her inspirierte Theologie diese Arbeit leisten zu können. Natürlich kamen dabei auch die kontroversen Gesichtspunkte zum Vorschein, insbesondere im Kirchenverständnis. Immer wieder musste ich manches vorschnelle Urteil richtigstellen: Es ist nicht zutreffend, wenn z. B. häufig die katholisch-evangelische Grunddifferenz mit der Formel festgemacht wird: Nach evangelischem Verständnis erfolge Rechtfertigung des Sünders vor Gott „in“ der Kirche, nach katholischem Verständnis „durch“ die Kirche. Genau bei solch gewichtigen Fragen half mir mein vom Konzil her geprägtes Kirchenbild, für die im Glauben getrennten Geschwister gesprächsfähig zu bleiben.
Kirche schiebt sich für Katholiken eben nicht zwischen Christus und den Menschen. Sie enthüllt mir vielmehr das Angesicht des Herrn, damit ich von ihm im Wort und Sakrament „erleuchtet“, österlich lebendig werden kann. Die Kirche ist mir Heilsraum, aber nicht Heilsursache. Darum gilt für mich: An ihrer Hand habe ich den gefunden, den „meine Seele liebt“ (Hld 3,1). Paulus gebraucht einmal das Bild, er wisse sich als „Brautwerber“ (2 Kor 11,2), der zu Christus führen will. Eben das ist für mich das Wesen der Kirche. Und so habe ich es auch als ein in der Diaspora aufgewachsener Katholik konkret in meiner Biographie erfahren. Aber das bestätigt mir nur biographisch, was ich, belehrt durch das Konzil, theologisch weiß.
Meine Erfahrung, besonders auch später im Bischofsamt, hat mir gezeigt: Es wird kein Voranschreiten in der Ökumene geben, wenn wir uns Christen nicht gegenseitig im Blick behalten. Damit meine ich nicht, dass es nicht auch Sachkritik am anderen geben könne. Wichtiger ist freilich, in welcher Gesinnung solche gegenseitige Kritik geschieht. In uns muss das konkrete Wissen wachsen und sich emotional verankern, dass der und die andere neben mir von Christus geliebt sind. Kinder hören zu streiten auf, wenn sie sich der gemeinsamen Liebe ihrer Eltern wieder sicher sind.
Gerade durch die ACK habe ich gelernt, meine eigene Kirche auch mit den Augen der ökumenischen Partner zu sehen. Das ist manchmal schmerzlich, weil ich dann auch eigenes Fehlverhalten und Versagen deutlicher erkenne. Aber alles in allem ist dies eben auch heilsam. Ich hatte einmal den Vorschlag gemacht, im jeweiligen sonntäglichen Gottesdienst einer Gemeinde regelmäßig (etwa in den Fürbitten) auch der anderen Christen am Ort zu gedenken. Hier und da erlebe ich, dass dies gemacht wird. Darüber kann man sich nur freuen. In einer solchen Gemeinde bleibt der „Geist des Konzils“ lebendig.
Aber auch in anderer Hinsicht brauchen wir die Ökumene – und das scheint kein Gegensatz zu dem soeben Gesagten. Wir sollten gemeinsam immer wieder auf Aufgaben schauen, die uns als Christen in Deutschland und angesichts einer zerrissenen Welt herausfordern. Freundschaft wächst und vertieft sich durch gemeinsame Bewährung, nicht durch fortwährendes gegenseitiges sich Fixieren und Bemessen. Wir brauchen eine ökumenische Grundeinstellung, die nicht als Motto ausgibt: „Mal sehen, was dem anderen zuzumuten ist“, sondern: „Gemeinsam schauen auf das, was diesem Land nottut, nämlich: neu nach Gott zu fragen“. Das führt mich zu einem weiteren, mir wichtigen Lernfeld, zu dem mich gerade auch das Konzil angeleitet hat. Ich meine damit die Aufgabe, mutig auf eine neue, missionarische Präsenz des Evangeliums in unserer Gesellschaft hinzuarbeiten.
3. Den Menschen das Evangelium anbieten
Für mich ist unter den Konzilsdokumenten die Pastoralkonstitution „Kirche in der Welt von heute“ (Gaudium et spes) wichtig geworden, besonders auch für meine Grundeinstellung zur Aufgabe der Kirche im damaligen Ideologiestaat DDR. Dieses Dokument hat mir geholfen, mit anderen zusammen die Mentalität der kirchlichen „Einigelung“, der „Überwinterung“ im Warten auf bessere Zeiten aufzubrechen. Eine erste Frucht dieses Bemühens waren manche neue Töne in den gemeinsamen Hirtenschreiben der Bischöfe im Osten, ferner das im Dresdener Katholikentreffen von 1987 sich zeigende neue Selbstbewusstsein der katholischen Christen im Osten und schließlich auch die Bereitschaft unserer Kirche, sich an den drei Ökumenischen Versammlungen unmittelbar vor der friedlichen Revolution von 1989/90 zu beteiligen, die bekanntlich einen wichtigen Beitrag leisteten für den gesellschaftlichen Neuanfang in den nachfolgenden Jahren.14
Dem Konzilsdokument „Kirche in der Welt von heute“ wurde manchmal eine gewisse theologische „Blauäugigkeit“ vorgeworfen. Aber damit tut man diesem, sicher in das Denken und Empfinden der damaligen Zeit eingebundenen Dokument unrecht. In dieser Pastoralkonstitution geht es um eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt. Es geht im Letzten um eine Absage an die herkömmliche Auffassung einer Dominanz der Kirche auch über die weltlichen Dinge und ihre Ordnungen. Zum ersten Mal wird hier in einem Konzilsdokument von einer (wenn auch durch Gott umfangenen) Autonomie der weltlichen Wirklichkeit gesprochen, die auch die Kirche zu respektieren hat und die von den Laienchristen bei ihrem Welteinsatz zu berücksichtigen ist. Daraus folgt unmittelbar die Einsicht, dass in manchen Fragen der Gesellschaft, die heute anstehen, die Kirche keine endgültigen und abschließenden Antworten geben kann. Das Konzilsdokument ruft vielmehr die Christen auf, im gemeinsamen Gespräch, auch mit Nichtchristen, nach den richtigen Wegweisungen für eine bessere Weltgestaltung zu suchen. Das Konzil gesteht freimütig, dass die Kirche selbst immer auch eine lernende Kirche ist.
Es ist schon erstaunlich, welcher Wandel der Selbsteinschätzung von Kirche in ihrem Verhältnis zur Welt in diesem Dokument zum Ausdruck kommt. Gaudium et spes ist sicherlich das Konzilsdokument, das am zutreffendsten die Vision von Papst Johannes XXIII. zum Ausdruck bringt, die Kirche möge zu ihrem Grundauftrag zurückfinden, nicht nur Wahrheiten „an sich“ zu verkünden, sondern sie den Menschen von heute so nahezubringen, dass die befreiende und heilende Wirkung des Evangeliums erkennbar werden kann.15 Aggiornamento, „Verheutigung“ im Sinne von Papst Johannes XXIII. meint ja nicht eine billige Anpassung oder gar Anbiederung der Kirche an die Welt von heute, sondern eine heilsame Zusammenführung des Evangeliums und des Menschen mit seinen Fragen, Ängsten und Sehnsüchten, die allein in Jesus Christus ihre letzte Beantwortung erhalten. Und das bedeutet für den Glaubenden immer auch schmerzliche Auseinandersetzung, ja die Bereitschaft zur Kreuzesnachfolge und ggf. auch zum Martyrium. Johannes Paul II. hat immer wieder darauf hingewiesen, dass gerade das letzte Jahrhundert für die Kirche ein Jahrhundert der Märtyrer gewesen ist.
Es stimmt nicht, wenn dem Konzilsdokument nachgesagt wird, es vernachlässige die Glaubenserfahrung, dass auch das Kreuz zur christlichen Existenz in dieser Welt gehört. Ohne Zweifel ist die Pastoralkonstitution von einem gewissen Optimismus erfüllt, der Chancen und Möglichkeiten der Verkündigung des Evangeliums auch an die Menschen von heute sieht. Aber zum einen weiß das Dokument auch um die Aufgabe jedes Gläubigen, „gegen das Böse durch viele Anfechtungen hindurch anzukämpfen und auch den Tod zu ertragen“ (GS 22), es weiß um das durch die Sünde verderbte menschliche Handeln und die Notwendigkeit, dass dieses „Elend“ „durch Christi Kreuz und Auferstehung gereinigt“ und „alles Tun des Menschen, das durch Stolz und ungeordnete Selbstliebe täglich gefährdet ist“, durch Christi Heilswerk „zur Vollendung gebracht werden muß“ (GS 37). Zum anderen betonen die Konzilsväter, dass sie mit der Pastoralkonstitution keine letztgültige Lehre über den Weltauftrag der Kirche verfasst haben. Das geht von der Sache her auch gar nicht, weil die Dinge dieser Welt immer in Entwicklung sind. Was sie intendierten war „die Schleifung der Bastionen“ (so der Titel einer wichtigen Streitschrift von Hans Urs von Balthasar aus dem Jahr 195216). Sie wollten die Bereitschaft der Kirche signalisieren, sich für das Gespräch mit der Welt zu öffnen und nicht in einer kirchlichen „Festungsmentalität“ zu verharren.
Es ist noch lange nicht ausgemacht, welche Früchte aus diesem Gesprächsangebot wachsen. Vermutlich wird die Öffnung der Kirche für die Welt von heute, die Gaudium et spes angestoßen hat, ihre Bedeutung erst voll im gerade angebrochenen Jahrhundert entfalten. Denn dieses Jahrhundert wird zeigen, ob die großen Weltreligionen und unter ihnen das Christentum einen entscheidenden Beitrag für die Sicherung einer humanen Zukunft