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Die wechselseitige Rezeption zwischen Ortskirche und Universalkirche


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verpflichtenden Ethik zu verabschieden.

      Wenn ich persönlich meine Erfahrungen mit den Ereignissen der friedlichen Revolution von 1989/90 reflektiere, so muss ich sagen: Ich bin auch im Blick auf die seelsorglich-kirchliche Arbeit dankbar, dass die alte DDR aufhörte zu bestehen. In Kurzfassung: Wir leben jetzt auch kirchlich ehrlicher als früher. Anpassung und Leisetreterei sind in einem repressiven Staat nichts Unnormales, aber eben auch nichts Gutes. Was Kirchen und christlicher Glaube an geistiger Widerstandskraft gegen die alte Ideologie mobilisiert haben, muss sehr gewürdigt werden. Aber auch das Leben in einem geistigen Gefängnis macht „blind“. Zwar hat die DDR-Zeit viel zwischenmenschliche und kirchliche Grundsolidarität unter den Menschen erzeugt, aber die vom Staat gezielt herbeigeführte gesellschaftliche Isolierung der Kirche hat ihr nicht gutgetan. Es ist gut, wenn nun die Kirchen und jeder einzelne Christ positiv, und nicht nur durch Verweigerung, zeigen kann, was der christliche Glaube zur humanen Gestaltung eines Gemeinwesens beiträgt. Eine solche Einstellung kann sich mit Recht auf das Konzil berufen, das zu einem solchen „Welteinsatz“ ermunterte.

      Mein Blick in meine Dienstbiographie zeigt mir, dass wir im Osten letztlich noch zu zögerlich die Impulse des Konzils aufgegriffen haben. Wir waren zu wenig oder kaum ausgerichtet auf eine geistige und geistliche Präsenz, die angriffig ist, die anregen will, die auf andere abzielt, die mehr bewegen als bewahren will. Wir stellten zu wenig „das Licht auf den Leuchter“ (so ein pastorales Schwerpunktthema vor einigen Jahren im Bistum Erfurt)17. Damit meine ich nicht unser eigenes Licht, sondern das Licht eines Gottesglaubens, den auch wir geschenkt bekommen haben und der allen – Gläubige wie Ungläubige – gemeinsam Wegweisung geben will.

      Im Osten wird sich exemplarisch entscheiden, ob es eine neue Zuversicht, einen neuen Aufbruch in der Verkündigung des Evangeliums in ganz Deutschland geben wird oder nicht. Hier wird die Kirche zeigen müssen, wie das Evangelium auch in der Gesellschaft von morgen neuen Glanz gewinnen kann. Ob wir die Konzilstexte nicht doch noch einmal nachdenklich neu lesen sollten, etwa was in Gaudium et spes zum Atheismus und Agnostizismus so vieler Zeitgenossen gesagt ist (vgl. GS 19-21)?

      Dass es derzeit keine, zumindest keine schlüssigen „Pastoralrezepte“ gibt, macht mich weniger besorgt. Das ist ja ein Kennzeichen von Umbruchzeiten, in denen alte Horizonte versinken, aber die neuen noch nicht voll erkennbar sind. Was mich besorgt sein lässt, ist vielmehr die Ahnung der Möglichkeit, dass das religiöse Fragen überhaupt verstummt. Friedrich Nietzsche ist heute wohl aktueller als am Ende des vorigen Jahrhunderts, zumindest radikaler als der Marxismus, der letztlich noch eine Zukunftsvision hatte, freilich eine rein innerweltliche, eine Art „Christentum ohne Gott“. Nietzsche dagegen sah schon den „blinzelnden“ Menschen, der alles durchschaut – bis dieser am Ende überhaupt nichts mehr sieht. Er sah den Menschen, der sich seine Lebenswohnung so mit den Produkten seiner Hände und seines Geistes vollgestellt hat, dass er Gottes nicht mehr ansichtig wird.

      Darum ist die wahre Herausforderung unserer Kirche in der Tat die Gottesfrage. Wir sind gehalten, wieder das Evangelium völlig neu zu entdecken, an der Hand des Lehrers Jesus selbst, im Rückgriff auf die Ursprünge über alle kirchlichen Traditionen hinweg – die wir als Korrektive brauchen, die aber so nicht mehr Glaubensleben wecken können.

      Wenn ich das so formuliere, wird klar, dass es die von uns machbaren Chancen für die christliche Botschaft gar nicht gibt. Es gibt nur jenen kairos, jenen Gnadenzeitpunkt, den Gott jeder Zeit neu schenkt. Was wir tun können ist, noch redlicher die geistige Situation der Zeit wahrzunehmen, keinen Illusionen nachzujagen, uns zu konzentrieren auf das Wesentliche und Zentrale dessen, warum es Kirche überhaupt gibt. Das wollte das Konzil. Aber das Konzil bleibt toter Buchstabe, wenn es nicht Glaubende gibt, die heute das neu in ihr Leben übersetzen, was damals Johannes XXIII. wollte: dem Geist Gottes in ihrem je eigenen Leben und im Leben der Kirche neuen Raum und Einfluss zu verschaffen.

      Worauf ich immer wieder Hinweise: Ich spüre bei den Leuten speziell hier im Osten eine tiefe Sehnsucht nach gelingenden „Beziehungen“, nach menschlicher Nähe und nach „Angenommen-Sein“. Wenn es irgendwie gelingt, das erste Misstrauen gegenüber Kirche zu zerstreuen, wirklich absichtslose Nähe zum anderen glaubhaft zu machen, dann öffnen sich oftmals sehr bald die Herzen. Es gehört zu den schönsten Erfahrungen im Leben eines Priesters, wenn er bei einem Hausbesuch gesagt bekommt: „Das ist aber schön, Herr Pfarrer, dass die Kirche (!) einmal nach mir schaut!“ Übrigens sagen das manche auch zu einem aus dem Pfarrgemeinderat, der im Namen der Gemeinde einen Besuch macht.

      Die Chance kirchlich-pastoralen Wirkens besteht heute darin, in der zunehmenden Vereinzelung der Menschen Beziehungsnetze zu knüpfen. Ich gebe zu: Wir erfahren in diesem Bemühen auch Ablehnung, wir begegnen Vorbehalten und Misstrauen. Doch sehe ich auch, dass es in unserer Leistungsgesellschaft, vielleicht gerade wegen ihrer oft unerbittlichen Härte und Stressigkeit, Sehnsucht nach menschlicher Nähe und Annahme gibt. „Du bist angenommen!“ Diese Grundbotschaft des Evangeliums hat auch heute ihren kairos. Das Elisabethjahr 2007, die Feier von Elisabeths 800. Geburtstag, die weit über den kirchlichen Raum hinein in die Öffentlichkeit ausstrahlte, hat mir das eindrucksvoll gezeigt: Das Evangelium hat mehr Sympathisanten als wir meinen. Diese Botschaft, diese „Barmherzigkeits-Melodie“ soll durch uns das Herz der Menschen erreichen.

      Begleiten erfordert die Bereitschaft, die Buntheit und Unterschiedlichkeit menschlicher Biographien auszuhalten. Ich sage gern: Wir müssen lernen, auch mit den kirchlich nicht ganz „Stubenreinen“ umzugehen. Hier tun wir uns bekanntlich sehr schwer. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie in der Kirche „willkommen“ sind. Zeichen des Willkommen-Seins sind ja nicht nur die Sakramente. Der ganze Bereich der vorsakramentalen Seelsorge, in dem die Kirche an sich doch reiche Erfahrung hat, wird zunehmend Bedeutung erlangen. Ich denke an die vielen Nichtgläubigen und „Halbgläubigen“, die punktuell Berührung mit der Kirche suchen, etwa beim festlichen Weihnachtsgottesdienst, bei der Einschulung ihrer Kinder, bei der Beerdigung eines Angehörigen, in eigener Krankheit oder anderen Notsituationen usw. Die Kirche, das Pfarrhaus, die eine oder andere Gruppe von Gläubigen muss als Ort des Erbarmens, des Angenommen-Seins, der mitmenschlichen Nähe bekannt sein. Derzeit ist die Kirche mehr im Verdacht, die Menschen zu verschrecken und ihnen das Leben zu vermiesen, als sie für Gott und füreinander freizusetzen. Diesem Grundverdacht muss energisch entgegengewirkt werden. Dass aus einer echten Christusbeziehung dann auch Lebensumkehr erwächst, steht auf einem anderen Blatt. Umkehr erwächst freilich aus Annahme, nicht umgekehrt!

      Meine Erinnerung an eine vom Konzil inspirierte Pastoral ist unmerklich in die Betrachtung der Gegenwart eingetaucht. Aber so muss es wohl auch sein. Ich möchte noch einmal meine theologische und pastorale Grundeinstellung zum Ausdruck bringen, von der ich meine, dass ich sie nicht zuletzt dem Konzil verdanke. Die Kirche hat keinen Selbstzweck. Sie hat eine universelle Sendung. Sie soll und will Instrument des Heils für alle sein und so dem Plan Gottes dienen, allen Generationen das Angebot seiner Freundschaft, seiner Nähe zu machen. So darf die Kirche das Vertrauen haben, dass auch im Wandel der Zeiten der Herr mit ihr geht. Vermutlich ist sogar der uns so herausfordernde und pastoral bedrängende kulturelle Wandel eine Hilfe des Himmels, immer neu auf die Mitte des Evangeliums aufmerksam zu machen. So ist es auch gut, auch für unsere Kirche und ihr Leben, dass die politische „Wende“ gekommen ist. Ich ermuntere die Priester und Mitarbeiter in der Pastoral, die gewandelten Verhältnisse auch innerlich anzunehmen, auch wenn diese Verhältnisse uns mancherlei neue Probleme bescheren. Aber die Freiheit ist immer besser als Zwang, besser als der sublime Druck, mit dem uns das alte System früher „geholfen“ hat, die Gemeinden beisammenzuhalten. Eines ist freilich erforderlich: Wir müssen Profil zeigen. Wir müssen uns am Evangelium messen. Wir müssen uns auf unseren eigentlichen Auftrag besinnen. Und das ist vermutlich ganz im Sinne der Heilspläne Gottes.

       Kirche und Diaspora. Die Katholische Kirche in der DDR und das Zweite Vatikanische Konzil 18

       Josef Pilvousek

      Die Brisanz des zu behandelnden Themas scheint mir sowohl durch die politischen und kirchlichen Entwicklungen Ende der 50er bis Mitte der 60er Jahre als auch durch die doppelte Diasporasituation (konfessionelle und gesellschaftliche)