Sebastian Holzbrecher

Der Aktionskreis Halle


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einer gezielten Geschichtsbildung erkennen zu können. Die staatlichen Quellen sind quellenkritisch mindestens ebenso differenziert zu betrachten. Interne Einschätzungen und Berichte staatlicher und vor allem geheimpolizeilicher Organe verfolgten nicht nur eine Informationsabsicht. Innerhalb des diktatorischen Systems wird man stets mit zusätzlichen Interessen und Aussageabsichten zu rechnen haben, die den Inhalt einer Quelle überlagern und verzerren können. Der Aussagewert und die Verlässlichkeit dieser Sekundärquellen sind deshalb je eigens zu überprüfen. Dies ist im besonderen Maße dort geboten, wo es sich um Informationen und Berichte von inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit handelt.

      5.Abgrenzung der Thematik

      Die vorliegende Studie zum Aktionskreis Halle will die Geschichte dieser Gruppe in der spezifischen Situation der katholischen Kirche in der DDR darstellen und untersuchen. Aufgabe einer wissenschaftlichen Untersuchung des AKH kann es nicht sein, persönliche Eindrücke und Verletzungen zu thematisieren. Der Versuch, eine umfassende Geschichte des Aktionskreises zu verfassen und dabei allen unterschiedlichen Wahrnehmungen nachzugehen, sie zu beschreiben und ihnen gerecht werden zu wollen, ist allein schon aufgrund der Vielzahl von Personen im AKH zum Scheitern verurteilt. Die biographischen Annäherungen an einige Protagonisten des Aktionskreises konzentrieren sich vorwiegend auf ihr Wirken in der Gruppe selbst und beanspruchen keine Vollständigkeit. Aufgrund der zu behandelnden kurzen Zeitspanne von knapp 20 Jahren, der Fülle der zu erörternden Themen und des ungeheuren Quellenmaterials und nicht zuletzt, weil der AKH in die zentralen Themen, die Kirche in der DDR betreffend, vernetzt war, könnte der Eindruck entstehen, dass eine Gesamtgeschichte für die 70er und 80er Jahre abgeliefert wird. Diese ist allerdings weder intendiert noch kann sie im Rahmen einer Dissertation geleistet werden. Die Geschichte des Hallenser Aktionskreises ist und bleibt ein Teilaspekt einer noch zu verfassenden „ostdeutschen Kirchengeschichte“. Das Fehlen verschiedener Bischofsbiographien kann durch die in dieser Arbeit unternommenen Sekundärzugänge nicht aufgewogen werden und präsentiert sich in bestimmten Fragen als limitierender Faktor. Im Rahmen dieser Dissertationsschrift kann auch keine abschließende biographische oder theologische Beschreibung und Einordnung der verschiedenen ost- und westdeutschen Bischöfe erfolgen. Dieses Feld bleibt weiteren Forschungen vorbehalten. Weiterer Forschungsbedarf besteht zudem bei anderen innerkirchlichen Gruppierungen in der DDR. Welche Rolle spielten die regionalen Akademikerkreise, das Leipziger Oratorium, die Vielzahl der Priestergruppen, die - auch im Geheimen – existierten, tatsächlich und wie waren sie untereinander vernetzt?

       I.DER AKTIONSKREIS HALLE (AKH)

      Die Geschichte und Entwicklung des Aktionskreises Halle werden im Folgenden chronologisch dargestellt. Ausgehend von verschiedenen postkonziliaren Krisen und Konflikten stellt der Bischofswechsel im Kommissariat Magdeburg 1969/70 das auslösende Moment für die Gründung der Gruppe im Jahr 1970 dar. Dass es hierbei tatsächlich zu einer Wahl des neuen Bischofs kam, ist als Sonderfall zu charakterisieren und im Licht der Konzilsrezeption zu interpretieren. Die hierbei entstandenen Konflikte sollten die Bewertung des Aktionskreises nachhaltig prägen und werden daher detailliert erörtert. Schließlich wird in einem dritten Punkt der Aktionskreis als Gruppe eingehend dargestellt und analysiert: welche Ziele verfolgte er, wer gehörte zu dem Kreis und wie war die Gruppe vernetzt? Welche kirchlichen und gesellschaftlichen Themen hat die Gruppe bearbeitet und wie wurde der Aktionskreis Halle durch den ostdeutschen Katholizismus eingeordnet und bewertet? Am Gründungsauslöser, der Struktur und Zielsetzung sowie an der thematischen Arbeit des AKH lässt sich die basiskirchlichen Konzilsrezeption ablesen und hinsichtlich der Ausgangsthese analysieren.

      1.Krisen, Konflikte und Potentiale am Vorabend der Gründung

      Das II. Vatikanum stellte in vielerlei Hinsicht einen Antwortversuch auf innerkirchliche Verschiebungen und Krisen dar. Dass die nachkonziliare Zeit von einer offeneren und pluraleren Diskussion um die konkrete Gestalt von Kirche geprägt war, konnte insofern nicht verwundern. Ende der 1960er Jahre zeigte sich nicht nur im westdeutschen Katholizismus, dass sich an die Phase der unmittelbaren Konzilsbegeisterung eine zweite Phase der enttäuschten Hoffnungen und der Resignation anschloss.44 Vielen schritt die Konzilsrezeption nicht schnell genug voran oder wurde nicht weit genug getrieben. Andere erblickten in der vom Konzil autorisierten Hinwendung der Kirche zur Welt den entscheidenden Fehler, der für die postkonziliaren Krisen verantwortlich gemacht wurde. Im Folgenden soll die Gemengelage dargestellt werden, die nach dem Konzil im Kommissariat Magdeburg herrschte und die zur Gründung einer innerkirchlichen Protestgruppe mit beigetragen hat.

      1.1Krisenhafte Phänomene

      Im 20. und 21. Jahrhundert hat der Begriff der „Krise“ in der katholischen Kirche reüssiert. In der historischen Forschung besteht Konsens, dass man die Entwicklungen seit etwa Mitte des Jahrhunderts als „Krisen“45 oder „krisenhafte Phänomene“46 deklariert und damit ein Konglomerat unterschiedlicher Problemkonstellationen meint.47 Durch verschiedene Komposita - „Glaubenskrise“48, „Gotteskrise“49 und „Kirchenkrise“50 - wurden unterschiedliche phänomenologische Annäherungen unternommen. Der Begriff Krise wird dabei ambivalent als eine Infragestellung und kritische Thematisierung von Ideen und vorgegebenen Mustern verstanden.51 Ziel einer kritischen Auseinandersetzung ist dabei weniger ein radikaler Umbruch als vielmehr eine sukzessive Integration konstruktiver Elemente in bisherige Verständnismuster und Praxen. Der Begriff bleibt letztlich ebenso vage wie die von ihm beschriebenen Phänomene unübersichtlich. Für die Gründung des AKH in den späten 60er Jahren scheinen zwei Explikationen dieser krisenhaften Entwicklungen von besonderer Bedeutung gewesen zu sein.

      1.1.1„Autoritätskrise“

      Auseinandersetzungen um die Legitimität und Authentizität von Autorität waren in den 1960er Jahren internationale gesellschaftliche Phänomene52, die sich spätestens gegen Ende des Jahrzehnts auch in der katholischen Kirche häuften.53

      Bereits zu Beginn der 1960er Jahre konnte in der katholischen Kirche in der DDR verschiedentlich Kritik an der Autoritätsausübung festgestellt werden.54 Im Hinblick auf die kirchenpolitisch notwendige Einheit der Kirche versuchte man derartige Tendenzen weitgehend zu delegitimieren bzw. sie als Quertreiberei zu etikettieren.55 Dennoch blieben kritische Wortmeldungen nicht aus. Im September 1966 beklagte Ulrich Mendes in einem Aufsatz der kurz zuvor gegründeten Halleschen „Korrespondenz“56 die „Hypertrophie des Gehorsams und das völlige Fehlen von Demokratie in kirchlichen Bereichen.“57 Der ehemalige Leiter des Hallenser Sprachenkurses Adolf Brockhoff kritisierte die Autoritätsausübung kirchlicher Würdenträger - „Eine Autorität, die uns Kirchenvolk faktisch für inferior hält, ist nicht mehr glaubwürdig.“58 - und skizzierte in verschiedenen Zusammenhängen sein Verständnis von einer authentischen Autoritätsausübung.59 Dass diese durchaus provokanten Auffassungen keine mit dem Verdikt der Illoyalität oder „Nestbeschmutzung“ zu versehenden Einzelerscheinungen waren, zeigt ein Blick auf die Meißner Diözesansynode von 1969-1970, die ebenfalls von einer Autoritätskrise sprach.60

      Auch verschiedene Bischöfe erkannten und benannten krisenhafte Phänomene deutlich. Der Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger sah das zentrale Moment dabei in einem übersteigerten Freiheitsbegriff, der die Autonomie des Einzelnen absolut setze.61 Der Kardinal beklagte, dass die Krise „von Monat zu Monat weitere Kreise der Kirche“62 erfasse und das Lehramt der Kirche „unter den Priestern völlig in Vergessenheit“63 geraten sei, ebenfalls „die Kraft der Autorität und die Verpflichtung zum Gehorsam.“64 Zudem sah er ein Gefälle zwischen der Kirche in Ost- und Westdeutschland bei der Ausbreitung dieser Phänomene.65 Weihbischof Rintelen bestätigte seinem Paderborner Vorgesetzten gegenüber, „dass der Virus der Unruhe, der Auflehnung